: Dreijährige Galgenfrist für Kisch & Co.
Gentrifizierung Vorerst kann die Buchhandlung in der Oranienstraßein Kreuzberg noch bleiben. Was aberkein Ende der Verdrängung bedeutet
von Gabriele Goettle
„Unser Ziel ist der Aufbau eines vielfältigen Immobilienportfolios, mit charaktervollen Bauten, als langfristige Vermögensanlage. Immobilien sind für uns dabei mehr als nur ein Investment, Architektur, Ästhetik und Kunst interessieren uns ebenso wie der ‚cashflow‘.“
Nicolas Berggruen
Thorsten Willenbrock, Buchhändler. Geboren 1965 in Buchholz/Harburg, dort Besuch d. Gymnasiums, 1984 Abitur. Nach d. Zivildienst 1987 Studium d. Geschichte u. Slawistik. Danach diverse Jobs. Auch als Aushilfe bei der berühmten Wohlthat’schen Buchhandlung, was für ihn zum Einstieg in d. Buchhandel wurde. 1998 kam er durch Vermittlung eines ehemaligen Kollegen zur Buchhandlung Kisch & Co. in Berlin Kreuzberg, wo er bis heute arbeitet. Seit 3 ½ Jahren ist er Mitinhaber.
Ich bin mit Thorsten Willenbrock am frühen Morgen im Laden von Kisch & Co. verabredet. Die Traditionsbuchhandlung liegt in der Oranienstraße 25 in Berlin-Kreuzberg, hat zwei sehr schöne große Schaufenster und ein Schild über der Ladentür mit dem Porträt von Egon Erwin Kisch. Hinter Glas hängt ein Zettel, auf dem Kunden und Leute aus dem Kiez darüber informiert werden, dass die Gentrifizierung nun auch Kisch & Co. erreicht hat. Weil der Mietvertrag nicht verlängert wurde, muss der Laden zum 31. 5. schließen. Alle werden eingeladen, zum Kiezplenum im SO36 zusammenzukommen.
Thorsten Willenbrock schließt auf mein Klopfen hin die Glastür auf und bittet mich mit einer einladenden Geste hinein. Es riecht nach Papier. Die Bücher dämmern noch in ihren Regalen dahin, Kunden kommen erst um 10 Uhr. Er sagt: „Ich mache mal das Licht nicht an, damit nicht Kunden denken, es sei geöffnet.“ Wir setzen uns auf die kleinen Stühlchen in der Kinderbuchabteilung, umgeben von lustigen Titelblättern, was so gar nicht zum Anlass meines Besuches passen will, denn hier geht es um die nackte Existenz. Nach einem Schluck Kaffee und einigen sarkastischen Bemerkungen beginnt Thorsten zu erzählen:
„1997 hat mein Kollege von Wohlthat, Frank Martens, hier den Laden eröffnet, zuerst nur mit modernem Antiquariat. Das haben wir ja immer noch. Ganz in der Nähe, Wiener Straße 17, das macht jetzt er, und ich bin hier. Seit 3 ½ Jahren bin ich ja, wie gesagt, Mitinhaber. Frank Martens hatte mich damals, am 1. 1. 1998, hierher nachgeholt. Ehemals war es ja so, dass hier Elefantenpress (1971 gegründeter linker Verlag, Anm. G.G.) drin war, mit Büchern und Galerie, das wissen vielleicht viele nicht mehr.
Frank Martens hat dann bald festgestellt, dass es hier einen Bedarf gibt an neuen Büchern. So ist dann nach und nach im Laufe der Zeit entstanden, was heute ist. Hier haben wir nun eine Sortimentsbuchhandlung mit einem guten Spektrum, das reicht von Kinderbüchern über Reiseführer, Berlinensia, viele Fotobücher, Kunstbände, etwas zum Film, zum Thema Kochen, viel Belletristik, bis hin zu Politik und Geschichte. Dort hinten ist die politische Abteilung, daneben sind die Geisteswissenschaften. Und dann haben wir selbstverständlich ein recht umfangreiches Angebot an Zeitschriften. Also das ist sehr lebendig alles und man merkt, dass die Buchläden, die es hier gibt, gebraucht werden.
Wie haben natürlich die jeweiligen Veränderungen hier im Bezirk auch im Laden gespürt. 1997 ist die Situation nicht sehr gut gewesen, denn nach dem Mauerfall hatten die Leute dann allmählich das Umland entdeckt und zogen weg, und es gab eine Abwanderungsbewegung von Kreuzberg in die Ostbezirke, nach Mitte und Prenzlauer Berg. Es war ja auch die Zeit der Hausbesetzerbewegung im ehemaligen Ostteil der Stadt, es gab dort Clubgründungen, neue Läden, also Entwicklungen, die sehr spannend waren. Der Kiez hier bekam einen fast dörflichen Charakter, hat aber natürlich nicht aufgehört mit seinen politischen Bewegungen. Man kannte fast jeden, der hier in den Laden kam. Wenn man aus dem Haus ging, hat man Hallo gesagt.
Das hat eine ganze Zeit lang gedauert, dann zogen viele wieder vom Ostteil der Stadt zurück nach Kreuzberg, denn die ganze Szene, die sich entwickelt hatte, war zum Stillstand gekommen, alles war verteilt, erreicht, gesättigt. Es gab schon das Schlagwort: ‚Raus mit den Schwaben!‘ Und wenn man da heute langläuft, sieht man das ja auch. Alles ist durchorganisiert und säuberlich, ziemlich saturiert, wenig Freiraum. Es gab einfach wieder mehr Interesse an Kreuzberg. Wer ein bisschen mehr quirliges Leben haben wollte, der kam zurück. Das war ein allmählicher Prozess. Es kamen auch mehr Touristen und Studenten. Wir merkten das im Laden, an der Nachfrage.
Thorsten Willenbrock
Wir spüren ja eigentlich alle politischen Ereignisse hier im Laden, auch in Form der Nachfrage. Die Finanzkrise 2008 damals brachte eine größere Nachfrage mit sich nach Politik und Geschichte. Und heute, wo sich die beschriebene Einwirkung auf den Kiez verstetigt hat und unheimlich viele Touristen nach Kreuzberg kommen, ist der Bedarf an Führern und Berlin-Literatur entsprechend gestiegen. Und wir haben, was ich vergessen habe zu erwähnen, auch englische Bücher und wir überlegen uns gerade, ob wir das ausbauen. Aber ansonsten wollen wir eigentlich nichts ändern an unserem Sortiment. Und auch nichts an den Öffnungszeiten. Wir haben von 10 Uhr bis 20 Uhr geöffnet und draußen füllt es sich erst später. In dem Zusammenhang wollte ich noch sagen: Wir hören jetzt auch immer wieder Stimmen, auch von Kunden, die sagen: ‚Also in die Oranienstraße gehe ich eigentlich gar nicht mehr so gerne, da sind mir zu viele Touristen.‘ Wenn man abends hier langgeht – es gibt inzwischen zahllose Kneipen und Cafés –, dann ist tatsächlich oft alles gerammelt voll und das sind dann meistenteils Touristen, auf der Suche nach dem Flair, das dann aber hauptsächlich aus ihnen selbst besteht.“ Wir lachen und trinken etwas Kaffee, dann fährt er fort:
„Also vom Laden her gesehen, und auch mit Blick auf die Straße und den Kiez, sind das die wichtigsten Entwicklungen, die wir so genommen und wahrgenommen haben. Und jetzt komme ich zu den Problemen, die wir konkret haben, ich versuche mal kurz chronologisch wiederzugeben, was war. Also der Milliardär Berggruen, der überall auf der Welt unter anderem Immobilien aufkauft, hat seit vielen Jahren auch eine Niederlassung seiner Berggruen Holdings in Berlin – der Hauptsitz ist in New York –, und hier und in Potsdam hat er seither zahlreiche Immobilien in seinen Besitz gebracht, darunter auch die Gebäude des Gewerbehofes, in dem wir uns befinden“ (siehe die Webseite der Berggruen Holdings: www.berggruenholdings.de/).
„Er hat das Gebäude so vor 7 oder 8 Jahren gekauft und Herr Martens hat vor 5 Jahren schon einmal Verhandlungen geführt, mit der Holding. Man traf sich mit einem Herrn Brauns, Asset Manager des Unternehmens, man hat Kaffee getrunken, geredet. Danach gab es dann eine Mieterhöhung, die aber noch so im Rahmen war und über die man sich einigte. Der Vertrag, der vor 5 Jahren gemacht wurde, sah vor, dass er automatisch ausläuft und man sich spätestens 6 Monate vor dessen Ablauf zu neuen Verhandlungen trifft. Dieses Treffen mit uns fand im November 2016 statt, hier im Laden, wiederum mit Herrn Brauns. Herr Martens hat unsere Situation geschildert, dass wir umsatzmäßig zu leiden haben unter E-Books, unter dem Internet-Versandhandel und unter der Touristifizierung. Sie gingen dann und haben gesagt, dass sie uns ein Angebot per E-Mail schicken. Das kam am 21. November und sie boten uns eine Nettokaltmiete von20 € pro qm an plus einer vorgesehenen jährlichen Mietsteigerung entsprechend der Inflationsrate. Der Vertrag wäre für 5 Jahre gewesen.
Wir haben denen dann zu erklären versucht, dass unsere Umsätze ja nicht steigen – aber das ist nicht deren Problem –, also haben wir ihnen eine Erhöhung unserer Miete im Rahmen unserer Möglichkeiten um 4,5 % vorgeschlagen. Bevor wir das gemacht haben, sind wir hier die Straße langgegangen und haben gefragt: ‚Was zahlt ihr denn eigentlich?‘ Und das war Netto kalt mit 18 € schon die teuerste Miete gewesen, die anderen zahlten zwischen11 € und 17 €. Wir zahlen derzeit 17,20 €. Das haben wir dann geschrieben und darauf hingewiesen, wie hier die Marktlage ist. Sie sprechen ja gern von der Marktlage. Sie dankten schriftlich für das Angebot und wollten sich im Januar 2017 wieder melden. Dann kam das Weihnachtsgeschäft und wir haben es aber immer im Hinterkopf gehabt. Am 6. Januar bekamen wir dann eine E-Mail, in der stand: Wie im Vertrag vorgesehen, läuft er zum 31. 5. 2017 aus.
Es hat uns wie ein Blitzschlag getroffen. Das war für uns eine äußerst unangenehme Überraschung, ein Schock! Wir sind ja davon ausgegangen, dass noch verhandelt wird. Jetzt standen wir plötzlich vor der fast ausweglosen Situation, innerhalb so kurzer Zeit einen ganzen Buchladen räumen zu müssen, bestenfalls umzusiedeln. Das ist ein Riesenproblem. Wir haben dann noch hin und her korrespondiert, aber da ging nichts. Diese Art des Umgangs mit uns war demütigend und herabwürdigend, das ist schon so eine Art Gutsherrenmentalität. Wir hatten diesen ‚Bescheid‘ am Freitag bekommen, dann hatten wir Inventur und danach habe ich noch mal angerufen, aber man sagte mir: ‚Nein, das ist kategorisch ausgeschlossen, es wurde auf Vorstandsebene so beschlossen.‘
Das war also das Ende. Kein Verhandlungsspielraum mehr. Und einige Tage später erfuhren wir, dass es angeblich schon einen Nachfolger gibt, dass hier ein niederländisches Brillen-Label, Ace & Tate aus Amsterdam, reinkommt. Und wir dachten uns dann, dass man auch deshalb das Gespräch mit uns abgebrochen hat, weil sie mit dem schon längst Kontakt aufgenommen hatten. Also für uns war das ein absolut kaltes Abserviertwerden. Und davon mal abgesehen, die Leute hier brauchen keine Luxusbrillen, die wollen einen Buchladen, die wollen einfach nur ihre Bücher lesen. Sogar die Kinder kommen rein mit den Eltern, da geht einem das Herz auf. Da kommen welche, die können gerade erst laufen und die wissen genau, wo die Pixi-Bändchen hier im Laden stehen. Also ich will sagen, wir sind mehr als nur Buchhändler. Aber für Herrn Berggruen und seine Manager sind wir nur ein Hindernis bei der Erzielung höherer Erträge und wir müssen deshalb weg. Aber ich denke, dass Herr Berggruen eigentlich bereits genug Gewinne gemacht hat, um mit unserem Angebot von 18 € klarzukommen, zumal es ja bereits eine höhere Miete gewesen wäre, also eine Erhöhung seines Gewinns. Was dieses rigorose Vorgehen für uns bedeutet, liegt wahrscheinlich jenseits der Vorstellungskraft dieser Leute.
Und nun haben wir erfahren, dass der Brillenmensch zurückgetreten sein soll vom Vertrag, vielleicht hat er Angst, wegen der Proteste. Vielleicht gefiel es ihm auch nicht, dass die NGBK (Neue Gesellschaft für Bildende Kunst, ein basisdemokratischer linker Kunstverein, der 1969 gegründet wurde und bis heute überlebt hat) in ihrem Mietvertrag vertraglich festlegte, dass der Laden hier den Durchgang ihrer Besucher zu den Ausstellungsräumen gewährleisten muss. Für uns hat das gut zusammengepasst, die NGBK und wir. Aber wenn in einem so edlen Laden die Kunden gerade edle Brillen aufprobieren und dann dauernd die Tür aufgeht und Besucher durchlatschen und fragen, wo die Ausstellung ist, das wäre vielleicht nicht ganz so passend. Also, falls das stimmen sollte, dass der abgesprungen ist, wir sind weiterhin verhandlungsbereit.
Das Ganze ist ein reiner Nervenkrieg. Nur, was macht das mit einem? Es zieht einem erst mal den Boden weg unter den Füßen. Es ist die Lebensgrundlage – jedenfalls denkt man das im ersten Moment – plötzlich verschwunden. Man fragt sich, wie kann das sein? Es gab doch kein Anzeichen dafür?! Und das geht natürlich nicht nur mir so, sondern allen Mitarbeitern hier. Bei mir war es so: Ich habe erst mal zwei Wochen gebraucht, bis ich ein bisschen darüber hinweggekommen bin. Drei Stunden Schlaf waren viel, essen konnte ich auch nur noch wenig. Aber dann haben wir angefangen, nach Lösungen zu suchen, uns nicht zufriedenzugeben mit der Situation. Wir haben versucht, an Herrn Berggruen selber ranzukommen – auch über das Berggruen Museum hier in Berlin –, was aber unmöglich war. Der Mann ist unerreichbar, wahrscheinlich in jeglicher Hinsicht. Wir haben versucht, über die Wirtschaftsförderung im Bezirksstadtrat etwas zu erreichen. Die haben aber abgewunken, als sie gehört haben, dass es bereits einen Nachmieter gibt. Wir haben mit einigem Erfolg versucht, die Presse anzusprechen.
Geholfen haben uns aber vor allem der Zuspruch und die Solidarität von Kunden und Anwohnern. Und natürlich die Unterstützung durch das ‚Bündnis Zwangsräumung verhindern‘. Es gab erstaunlich viele Reaktionen, unglaublich viele E-Mails und auch heftige Reaktionen, von Tränen in den Augen bis hin zu Beschimpfungen gegen Berggruen.“
Auf meine Frage, ob es auch antisemitisch gefärbte Äußerungen gab, sagt er mit Nachdruck: „Nein, nicht eine einzige! Nee. Gar nicht! Im Gegenteil, es wurde problematisiert, ob und in welcher Weise man vor dem Museum Berggruen demonstrieren könnte. Die Leute waren einfach nur solidarisch mit uns. Viele sagten, wir müssen was machen, oder sie fragten, wie können wir euch helfen? Und es zeigte sich auch Wut gegen die gesamte Situation, weil viele selbst betroffen sind von der Verdrängung oder jemanden kennen, der bereits wegziehen musste.
Die ‚Initiative Zwangsräumung verhindern‘ hat dann auch ganz deutlich gemacht, dass es ja nicht nur um uns geht, sondern um die ganze Struktur hier, um die ganzen anderen Läden und Projekte – wie der Hausgemeinschaft im Gewerbekomplex Lausitzer 10/11.“ (Wo der dänische Hausbesitzer Teaker die Immobilie, die er vor 10 Jahren, im Zuge der Berliner Haushaltskrise, vom Land Berlin für knapp 3 Mio. € gekauft haben soll, nun – nach Ablauf der 10 Jahre geltenden Spekulationssteuer – mit 600%igem Gewinn für19 Mio. € verkaufen will. Geplant ist die Umwandlung in Luxuslofts. Momentan ist die Situation unklar, der Verkauf ist ausgesetzt. Anmerkung G.G.) „Und auch viele andere Mieter sind betroffen, die jetzt auch noch verschwinden müssen. Es sind ja bereits viele Leute hier aus der Gegend vertrieben worden durch Mieterhöhungen, so auch die vielen Wohnungsmieter, die durch Modernisierung, Mieterhöhung und Zwangsräumung vertrieben wurden, weil sie ihre Mieten nicht mehr zahlen konnten. So auch die Künstler von gegenüber, deren Verträge ausliefen. Sie konnten die geforderten neuen Mieten nicht mehr bezahlen. Sie hatten ihre Ateliers hinten in Nummer 185 und 187 – das gehört auch Berggruen, der zwar kunstsinnig sein soll, aber die Künstler vor die Tür setzen ließ. Ich glaube, da sind jetzt zahlungskräftige Start-ups drin.
Aber Berggruen ist nur einer von vielen Immobilienspekulanten und Hausbesitzern, die so agieren. Es gibt hier, wie gesagt, mehrere Gewerbe und Institutionen, von denen ich weiß, dass sie bedroht sind. Es gibt hier welche, bei denen sich der Mietvertrag jedes Jahr verlängert, die müssen Jahr um Jahr zittern. Aber wenn man ein Gewerbe betreibt, dann muss man planen können, und zwar über große Zeiträume. Also wenn das so weitergeht mit der ‚Strukturumwandlung‘, wenn nicht jetzt irgendwas passiert, dann wird diese Straße in drei Jahren komplett anders aussehen.
Zur Kiezdemo, die hier um14 Uhr am Laden losging und an den exemplarischen bedrohten Objekten langgegangen ist, kamen immerhin 3.000 Leute zusammen. Es war eine tolle Stimmung. Viele bekannte Gesichter waren zu sehen.“ (Auch HG Lindenau, vom Laden für Revolutionsbedarf, war im Rollstuhl dabei.) „Ein älterer Mann wurde gefragt, warum er eigentlich demonstriert, und er erklärte, dass der Kiez sich so verändert, dass er nicht mehr für die Bewohner und Gewerbetreibenden ist, die hier leben. Kann man auf YouTube, ‚Kiezgeflüster 28‘, anschauen. Vor der Demo hat es ja die Kiezversammlung gegeben, organisiert von der ‚Initiative Zwangsräumung verhindern‘. Es sind 350 Leute gekommen ins SO 36. Und dort haben wir, und noch drei andere bedrohte Objekte, unsere Probleme eingebracht. Es wurden Ideen gesammelt zur Frage: Was kann man überhaupt machen? Und alle waren sich einig, es geht nicht nur um die momentan bedrohten vier, es geht um etwas Größeres, das letztlich alle betrifft. Das hat sich auch in der Kiez-Demo deutlich ausgedrückt. Die Demonstranten haben klargemacht, sie sind hier auf der Straße, weil sie zeigen möchten, dass sie das nicht einfach hinnehmen werden! Wir sind ja ganz gerührt gewesen, von der Solidarität mit uns, es wurden Plakate getragen mit der Aufschrift: ‚Wir sind Kisch & Co‘.
Ich meine, logischerweise wäre die nächste Stufe jetzt im Grunde genommen, mit den Politikern zu sprechen, auf Bezirksebene, auf Landesebene. Wir haben schließlich eine neue Regierung, die sich was anderes auf die Fahnen geschrieben hat, man sollte sie jetzt beim Wort nehmen, dann wird man sehen, ob sie es ernst meinen oder nicht. Und dann heißt es, weiter die Solidarität organisieren, die nächste Kiezversammlung vorbereiten, vielfältige Formen des Widerstands versuchen und nicht aufgeben. Das ist jetzt das, was wichtig ist. Und was die Zukunft bringt, ist ungewiss. Eins aber scheint klar, es kann nicht endlos so weitergehen, es wird zu einer Katastrophe führen, zu einer Finanzkrise mit ganz anderen Ausmaßen, wie wir sie 2008 zuletzt hatten, wo auch die Immobilienspekulation mit eine der Hauptursachen war. Und wir alle werden doppelt und dreifach darunter zu leiden haben, während die Verursacher ihre Schäfchen ins Trockene gebracht haben. Aber vielleicht, wenn’s eine richtige Krise gibt …“. Ich ergänze: „… dann ist auch das Trockene weg, die Schäfchen und die Schäfer.“ Thorsten Willenbruck lacht sehr: „Ja, dann ist alles weg!“
Sein Gesicht wird wieder ernst und er sagt: „Da ist noch ein Punkt, den ich vergessen hatte zu erwähnen, den ich aber sehr wichtig finde. Die Immobilien hier werden ja beworben bei Verkauf und Vermietung mit dem Hinweis auf die bunte Vielfalt des Kiezes, also auf etwas, das die Bewohner selbst hervor gebracht haben. Nun soll es den Wohnwert der Immobilien erhöhen. Es wird quasi schnell noch mitverkauft, während sie es zerstören. Es ist die in Jahrzehnten entstandene Kultur. Dazu gehört auch die ‚Buchnacht‘, die hier vor fast 20 Jahren initiiert wurde, die sogenannte lange Buchnacht. Das war zu einer Zeit, als Kreuzberg für solche Investoren noch vollkommen unattraktiv war. Es galt als ‚Problembezirk‘, die Presse schrieb ständig von Gewalt, Drogen, Kriminalität und was weiß ich, alles war angeblich auf dem absteigenden Ast. Da haben sich sieben oder acht Buchhandlungen zusammengetan und sich gesagt, dieses Bild stimmt so nicht. Dem wollen wir mal was entgegensetzen, und so haben wir, also die Buchhändler, die ‚lange Buchnacht‘ gemacht. Eintrittsfrei, mit 17 Veranstaltungen an verschiedenen Orten. Heute sind es wesentlich mehr. Die Organisatoren haben sich zusammengeschlossen im ‚Verein lange Buchnacht. e. V.‘. In den ersten Jahren ging es sehr lang, bis vier Uhr morgens. Das war auch noch die Zeit, wo man hier noch rauchen konnte, es gab Lesungen, Diskussionen mit Autoren, es wurde Bier getrunken, es gab Musik und vielfältige andere Sachen. Viele Leute kamen, Kneipen und Cafés haben mitgemacht, Museen, Bibliotheken, sogar die Kirche. Es wurde ein Erfolg. Es ging uns um eine Vernetzung des nachbarschaftlichen Lebens hier, quer durch alle Altersgruppen und sozialen und kulturellen Hintergründe. Und es hat diesem Bild vom gewalttätigen, drogendurchseuchten Kreuzberg in der Öffentlichkeit etwas entgegengesetzt. Die Quittung bekommen wir jetzt!
Thorsten Willenbrock
Die ‚lange Buchnacht‘ gibt es immer noch, inzwischen ist sie Ende Mai, Anfang Juni. Dieses Jahr ist sie am 20. Mai, also fast genau zum Auszugstermin! Da wird es dann hier sehr leer aussehen. Also es ist ein Aberwitz! Und für mich illustriert das noch mal den gesamten Verdrängungsprozess, der hier vor sich geht. Und es interessiert die Profiteure nicht im Geringsten, dass Individuen jahrelang etwas aufgebaut haben, das sie jetzt einfach abernten und ihren Geschäftszwecken einverleiben. Und es interessiert sie auch nicht, dass, so wie auch bei uns, ganze Lebenszusammenhänge und Existenzen dranhängen. Es gibt hier außer mir noch vier andere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, und wir alle brauchen diese Arbeit, auch in materieller Hinsicht natürlich, und es ist äußerst bedrohlich für jeden Einzelnen, wenn das alles plötzlich zusammenbricht.
In der ersten Zeit nach dieser Mitteilung, dass wir hier nicht weitermachen können, dass es aus und vorbei ist, war ich wie gelähmt. Es geht alles durcheinander im Kopf. Dann habe ich eines Tages im Briefkasten eine Mitteilung gefunden, dass Zeitungsausträger gesucht werden. Ich bin ja selbstständig und kann nicht zum Amt gehen und Arbeitslosengeld I beantragen. Ich hab keinerlei Ansprüche. Dann fiel mir auf, dass auch die Bäckereiketten Mitarbeiter suchen, und ich dachte, na ja, es gibt ja wenigstens solche Jobs, wenigstens übergangsweise kann ich da ein bisschen Geld verdienen … Und im Hinterkopf hatte ich immer: Wir müssen uns darum kümmern, was anderes zu finden. Es kamen Leute, die sagten, da und dort steht was leer. Aber wir haben uns vom Zeitaufwand her und von unserer Kraft her erst mal auf die anderen Lösungsmöglichkeiten konzentriert, auf Protest und Widerstand. Man wird ja sonst wirklich verrückt, wenn man zu viel gleichzeitig macht. Und es könnte ja auch verfrüht sein. Das Ganze ist vollkommen unberechenbar!
Also wenn das Ende dann wirklich am 31. 5. kommt, dann wird es eng. Bei den Verlagen kann man remittieren, teilweise. Und im Falle eines Räumungsverkaufs ist ja die Buchpreisbindung aufgehoben für4 Wochen, in dieser Zeit müssten wir dann versuchen, so viel wie möglich zu verkaufen. Und was dann noch übrigbleibt, da müssen wir dann gucken. Wir machen ja jetzt schon kaum noch Nachbestellungen. Die Lücken zeigen das.
Ich kann gar nicht daran denken, es greift mir ans Herz. Aber ich möchte noch mal sagen, in so einer Situation ist das Allerwichtigste, dass man miteinander spricht, dass man Solidarität erfährt, dass sich die Leute gegenseitig helfen. Uns hat das unglaubliche Kraft gegeben, dass wir so viel Unterstützung bekommen haben. Dafür sind wir wirklich dankbar und es macht die ganze Misere erträglicher.
Aber es geht ja nicht nur um unser Problem, es geht um das Problem des gesamten Kiezes, ein Problem, das auch die gesamte Stadt betrifft. Die Politiker müssen handeln, dazu sind sie da. Es muss verhindert werden, dass die Leute vertrieben werden und ganze Viertel zu ‚angesagten‘ Wohnadressen für Leute mit Geld werden und zu Flaniermeilen für Touristen. Im Endergebnis wird aber genau das erloschen sein, was sie mal suchten, das Lebendige, das Vitale. Es wird dann eine Stadt aussehen wie die andere. Die Touristen brauchen gar nicht mehr zu kommen, denn sie haben im Prinzip alles schon woanders gesehen und zu Hause haben sie dasselbe auch. Was für eine grauenvolle Vorstellung …“
Das Gespräch wurde geführt am Morgen des 27. Februar 2017. Am 30. März 2017 bekam ich folgende Mail:
Thorsten Willenbrock
„Liebe Gabriele,
es konnte eine Einigung mit der Berggruen Holding über die Fortsetzung des Mietvertrages über drei weitere Jahre getroffen werden. Die morgige Kundgebung ist deshalb abgesagt worden.
Herzliche Grüße
Thorsten“
Am 7. April schrieb Thorsten Willenbrock:
Thorsten Willenbrock
„Liebe Gabriele,
jetzt bin ich malade und liege im Bett. Deshalb nur ganz kurz: der von der Berggruen Holding unterschriebene Vertrag ist bei uns angekommen.
Herzliche Grüße
Thorsten“
Drei Jahre sind zwar ein Aufschub, der erst mal etwas Luft zum Atmen lässt, aber mehr als eine Galgenfrist sind die drei Jahre nicht.
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