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Mut Homosexuelle werden in Syrien verfolgt. Unser Autor ist geflohen – um dann in Europa festzustellen: Er muss auch hier tun, als sei er ein anderer. Aber dann denkt er: nein! Und erzählt seine GeschichteWenn sie das Licht löschten im Hamam

Beirut, Libanon, Februar 2015: Porträt von Sally. Ein Mitglied ihrer Familie in Syrien ist beim „IS“, zuständig für Verhöre. Schwule stehen auf den Fahndungslisten. Ihr Partner wurde gekidnappt und vermutlich getötet. Freunde von ihr wurden gesteinigt, erschossen, von Hochhäusern geworfen. Sally flüchtete in den Libanon, gibt heute Alphabetisierungskurse und hofft auf eine Geschlechtsumwandlung

Von Khaled Alesmael (Text) und Robin Hammond (Fotos)

Sie fesselten mich, meine Hände auf dem Rücken, das Seil schnitt in meine Haut. Einer griff mich im Genick, da, wo der Knoten von dem Fetzen Stoff war, mit dem sie mir die Augen verbunden hatten. Ich hörte sie flüstern. „Er muss getötet werden, er ist verweiblicht, ein Sünder.“ Ich zitterte, schwitzte, der Schweiß lief meine Stirn herunter.

Angst, ich war nur noch Angst. Windstöße schlugen gegen meinen Körper. „Wirf ihn runter, los, so ein Sünder, Sodomist.“ Der, der mich am Nacken hielt, ließ los, ein Stoß – ich spürte, wie mein Körper ins Nichts fiel.

In Panik schreckte ich hoch, riss meine Augen auf, sah nichts. Mein Atem stockte, ich griff in mein Gesicht; da, die Schlafmaske – ich hatte vergessen, dass ich sie aufhatte. Alles war feucht, mein Bett im engen Zimmer im Asylbewerberheim in Åseda in Schweden – ein Meer.

Zigarettenrauch drang unter dem Türspalt durch. Ich hörte Männerstimmen aus der Küche. Mir war schwindlig, ich griff nach meinem Handy. 10 Uhr. Sehr langsam stand ich auf, wollte mir einen Kaffee kochen, ging zur Küche. Dort saß mein Zimmergenosse mit Freunden. Sie rauchten, diskutierten auf Arabisch. Ich versuchte, ihnen zuzulächeln. Sie sprachen dar­über, dass der „Islamische Staat“ Schulen übernommen habe und nun seine brutalen Bildungsideen dort durchsetze.

„Kaffee ist schon gemacht“, sagte mein Zimmergenosse zu mir. „Assads Regime tötet unsere Kinder, und der IS macht Terroristen aus ihnen“, nahm ein anderer das Gespräch wieder auf. Ich zitterte immer noch, sagte aber trotzdem: „Wusstet ihr, dass der IS Homosexuelle tötet? Sie werfen sie von Hochhäusern.“ Einer drehte sich zu mir. „Homosexuelle? Du meinst Arschficker?“ Die anderen nickten. Der, der sich beklagt hatte, dass Kinder zu Fanatikern gemacht werden, meinte: „Im Koran steht, diese Perversen sind Sünder. Ich habe von dieser Krankheit erst gehört, als ich nach Schweden kam. Es soll Flüchtlinge geben, die sich mit dieser Sünde in Europa angesteckt haben.“

Ich kapierte: Der Albtraum ist real, ist da, an diesem Tisch in dieser Küche im Asylbewerberheim. Ich schaute sie an und verstummte. Muss ich auch in Schweden so tun, als sei ich ein anderer?

Niedergeschlagen ging ich ins Zimmer. In meiner winzigen Koje dort saß ich auf dem Bett und fühlte mich abgrundtief leer. Und da, in diesem Moment, entschied ich, dass ich gegen diese Traurigkeit, die mein täglicher Begleiter geworden war, kämpfen will. Mehr instinkthaft als bewusst nahm ich meinen Computer auf den Schoß und schrieb: „Ab jetzt, von diesem Moment an, will ich nicht mehr stumm sein! Es kann keine Veränderungen geben, bevor unser Körper nicht uns gehört. Dafür muss ich kämpfen. Ich muss den Leuten von dieser unsichtbaren Parallelwelt im Untergrund, die es in Syrien schon so lange Zeit gibt, erzählen, Ort für Ort, Schritt für Schritt.“

Sibki Park

Der Sibki Park liegt in Shaalan – einem Kiez in Damaskus, der nicht nur arabisch, sondern auch französisch, italienisch, griechisch, russisch, armenisch geprägt ist. Der Park ist zwischen der Shaalan- und der Hafiz-Ibrahim-Straße, unweit eines Marktes, wo es Obst und Gemüse, aber auch Raubkopien von Popmusik und anderem gibt. An Wochenenden sind viele Familien im Park, aber er ist auch Treffpunkt für Schwule. Vor allem Homosexuelle von außerhalb der Stadt treffen sich da.

An einem Herbstabend im Jahr 2000 war ich zum ersten Mal im Sibki Park. Ich war 21 und hatte gehört, wie Teenager dar­über Witze machten, dass sich Perverse dort treffen. Kaum durchs Tor getreten, sprach mich ein Mann, Issam, an. Ich hatte ihn zuvor in seinem Laden in Shaalan kennengelernt. Ich wollte ein Hemd kaufen. Er brachte mir immer neue zum Anprobieren und berührte mich dabei sanft am Rücken. Während wir jetzt im Park miteinander sprachen, kam es mir vor, als meinten wir das Gleiche, ohne es zu sagen. Beim Abschied fragte er, ob wir uns wieder treffen können, und gab mir seine Nummer. Das kam mir wie ein Kode vor, ich sagte ja.

Als ich ein paar Tage später die Shaalan-Straße überquerte, stand er schon rauchend am Tor. „Die Geheimpolizei beobachtet den Park“, warnte er beim Spazierengehen, „die meisten Besucher wissen, dass sich Schwule hier treffen, es ist ihnen egal.“ Ich war nervös, hörte zu, wurde immer aufgeregter. Endlich sagte er: „Die Geheimpolizei mag uns nicht, weil wir Rebellen sind und etwas tun, für das es kein Gesetz gibt. Unser Begehren passt nicht in die Norm, wir leben es trotzdem aus.“ Er hatte „wir“ gesagt, „uns“, „unser Begehren“ – das war, was ich so dringend zu hören gehofft hatte.

Wie können sie uns verhaften, wenn es kein Gesetz für das gibt, was wir tun?, fragte ich. „Sie werfen uns andere Delikte vor. Wir sind dann noch froh, weil sie uns so nicht outen. Allerdings, pass auf, wird die Polizei dich von da an damit erpressen, dass sie unseren Familien erzählen, wir seien schwul.“ Plötzlich befielen mich Unruhe und Angst. Ich kann sie heute noch spüren. Wortlos ließ ich ihn stehen. Ich hatte Angst, dass Issam selbst von der Geheimpolizei war und mich erpressen wollte.

Es gibt ein syrisches Sprichwort: „Das Verbotene zieht an“, und das Wort „Rebell“, das Issam benutzt hatte, gefiel mir. Noch in der selben Woche ging ich wieder in den Park und traf dort zufällig erneut auf ihn. Er wirkte gelöster, das half mir. Der Park war grün und sauber. Ein rechteckiger Teich mit einer Fontäne war in der Mitte, Straßenverkäufer priesen Popcorn und Zigaretten an. Allerdings funktionierten einige Lampen nicht, nachts gab es dunkle Ecken.

Issam erzählte, dass Schwule gegen 8 Uhr abends aufkreuzten. Ältere würden in der Nähe des Teichs bleiben, Jüngere säßen auf den Bänken am Hauptweg. Gebe es Augenkontakt, solle ich lächeln. Lächle der andere auch, solle ich zu den öffentlichen Toiletten gehen. Dort sei Geschlechtsverkehr möglich – oder auch nur ein Kuss. Als wir in die Toiletten gingen, sagte Issam noch, ich solle immer die Tür im Auge behalten.

Es roch klebrig. Zwei Männer standen bei den kaputten Urinalen und fassten sich an. Ein Dritter kam aus der Kabine

Es roch widerlich auf der Toi­lette. Nicht einmal für einen Kuss wollte ich hier sein. Zudem war meine Angst größer als mein Begehren, ich stürzte raus. Issam kapierte: Sibki Park war nichts für mich. „Es gibt andere Orte, wo sich Männer heimlich treffen können“, sagte er, „in den Hamams, den versteckten Häfen von Damaskus.“ Ich schaute ihn an. „Alle Männer, die im Dampf sitzen, wollen Sex mit Männern. Aber nur in wenigen Hamams ist es sicher für Schwule.“

Hamam Ammouneh

In einer Straße in der Altstadt befindet sich das einfache Hamam Ammouneh. Ammouneh ist ein Frauenname aus ottomanischer Zeit. Eine winzige Tür unter einem Bogen nahe der Großen Moschee war der Eingang. Der Besitzer begrüßte mich mit „Hallo Jüngelchen“ – ich war der jüngste Kunde.

Im Barrani, dem Umkleideraum, war ich allein. Mit wahnsinnigem Herzklopfen zog ich mich aus, wickelte das Handtuch um mich. Ich war so aufgeregt, endlich in den Hafen einzulaufen, wie Issam es nannte, mein Körper zitterte vor Erregung. Ich nahm ein Stück Lorbeerseife und einen Schwamm und stieß die Tür zum Wastani auf, einem kleinen Raum, erhellt von einer Glühbirne.

Links saß eine Gruppe bärtiger Männer, die mich anstarrten. Ich war so verlegen, schaute nicht zurück, ging direkt in den Dampfraum, den Aljowani, es duftete nach Lorbeer. Der Wasserdampf war nicht so dicht, ich konnte die Männer erkennen. Ich war aber zu scheu, um Augenkontakt aufzunehmen, und starrte nur an die Wand, von der die Farbe abblätterte.

Am hinteren Ende waren zwei Räume, vor deren Eingängen Handtücher hingen. In der Nähe saßen zwei Männer, die verhinderten, dass jemand reinging. Neben einem Wasserhahn, aus dem heißes Wasser lief, setzte ich mich auf den Boden. Von da konnte ich durch die haarigen Beine zweier Männer sehen, die sich bewegten. Einer kniete sich langsam auf den feuchten Boden. Mein Körper fiel in eine Erregung: Ich kochte vor Begehren, das dieser Anblick bei mir ausgelöst hatte, und genierte mich, weil andere das gleichzeitig merken könnten.

Wie aus dem Nichts tauchte ein Mann mit Schnauzer auf. „Bist du zum ersten Mal hier?“, fragte er. Ich nickte. Seine Haut war ungewöhnlich hell und weich, sein Handtuch trug er als Minirock. „Ich heiße Sahar“, flüsterte er und zeigte auf das Tattoo auf seiner Schulter. Dort stand jedoch Sahr – ein Frauenname. Er fragte, ob ich auch weiblich angeredet werden wolle. „Lieber nicht.“ Er lachte: „Das sagen alle beim ersten Besuch.“

Er kam noch näher, sein Atem berührte meine Haut. „Abu Imad möchte Sex mit dir. Sag ja, und du bereust es nicht.“ Ich spürte, wie mein Blut fror bei dem Gedanken daran, meine Beine könnten sich dort hinter dem Vorhang ebenso bewegen. Sahar sprühte mir Wasser ins Gesicht. „Hey, willst du zu Abu Imad oder was?“ Ich war neugierig, wie Abu Imad aussah, und nickte.

Abu Imad war stattlich, bärtig, einige Haare schon grau. Er sah aus wie die Leute vom Umland, und so war er auch. Er bot mir eine Zigarette an, versuchte mir das Gefühl zu geben, alles sei okay, er sei Taxifahrer, hätte einen fünfjährigen Sohn. Komisch fand ich, dass er das erwähnte, bevor wir Sex hatten. Dann fragte er, ob er im Umkleideraum schnell seine Gebete verrichten könne, entschuldigte sich und ließ mich verwirrt zurück. Warum diese Details? Warum geht er plötzlich, betet, bereut er etwas? Oder ist er Polizist? Plötzlich hatte ich das Gefühl, das Hamam sei eine Falle. Aber Abu Imad kam zurück und fragte freundlich, ob ich ihm folge. Wir gingen in den Raum, er nahm sein Handtuch ab, verdeckte damit den Eingang und lud mich ein, auch mein Handtuch fallen zu lassen.

Ich ging noch oft ins Ammouneh. Viele Männer dort waren wie Abu Imad verheiratet und kamen aus dem Umland. Auch Sahar hatte Frau und Kinder. Er erzählte mir, dass Männer hierherkommen, um Sex vor der Ehe zu haben, weil es mit Frauen nicht gehe. Einige kämen nach der Heirat weiterhin. Was mich angeht, ich habe auch gern Sex mit verheirateten Männern, mit schwulen Männern bin ich lieber zusammen zum Reden.

Wenn ich im Ammouneh war, fühlte ich mich zu Hause. Dass es dort nicht sauber war, störte mich nicht. Mir ging es um die Leute, ich wollte sie spüren. Hinterher fühlte ich mich frei. Mein älterer Bruder, mit dem ich eine Wohnung teilte, sagte, ich würde ihm immer so sauber, so rein erscheinen, wenn ich aus dem Ammouneh komme.

Hamam Alemareye

2003 war ich im dritten Jahr an der Universität in Damaskus. Ich studierte englische Literatur. Jeden Freitag ging ich ins Hamam. Mich nackt vor Fremden zu zeigen hatte mich selbstbewusster gemacht, mich meinem Körper näher gebracht – und dem der anderen. Ich erkannte sie.

Angst befiel mich. Ich spüre sie heute noch. Wortlos ließ ich ihn stehen. Ich hatte Angst, dass er von der Geheimpolizei war

Eines Abends ging ich unter den mit Jasmin überwucherten Bögen in der engen Alemareye-Straße entlang, wo immer viel los ist, wo Cafés sind und Läden. Als ich am Hamam Alemareye vorbeiging, kam eine Gruppe lachender Männer heraus. Es war klar, sie waren schwul.

Das Alemareye, hell und marmorgefliest, ist etwas teurer als das Hamam Ammouneh. Die Leute, die hier verkehrten, hatten meist eine bessere Schulbildung und waren nicht so konservativ wie die im Ammouneh. Bei neuen Gästen versuchten die Angestellten herauszufinden, ob sie okay waren oder von der Geheimpolizei, die Schwule jagte. Morgens war das Bad nur für Frauen geöffnet, abends fanden die Männer mitunter Kämme und Haarklammern, die sie sich ins Haar steckten, oder Unterwäsche, die mit großem Hallo vorgeführt wurde. Manchmal machten die Angestellten das Licht aus, und das Hamam verwandelte sich in einen Darkroom, in dem Körper verschmolzen in flüchtigem Sex.

Al-Hamra Street

Im Sommer ging kaum jemand ins Hamam. Schwule hingen stattdessen in Parks und Schwimmbädern herum. Und in warmen Nächten auf bestimmten Straßen wie der Alhamra-Straße in Shaalan, diesem Bezirk, der noch Spuren vom kolonialen Erbe zeigte, aber auch vom Widerstand dagegen. Hier verschmolz der Orient mit dem Westen. Botschaften neben Werkstätten, Läden, in denen westliche Mode verkauft wurde, neben Möbelmachern, Moscheen und Kirchen.

Tagsüber war viel los. Nachts auch. Autos fuhren auf und ab, während Männer unter den Straßenlaternen entlangschlenderten und darauf warteten, dass Zeichen gegeben wurden. Es war gefährlich, stehen zu bleiben. Daher waren alle darauf bedacht, in der Dunkelheit schnell zu unterscheiden, wer echtes Interesse hatte und wer eine Falle stellte. Orte für Sex indes gab es hier nicht. War ein Kontakt hergestellt, fuhr man im Auto weg.

Beirut, Libanon, Februar 2015: Porträt von Khalid, 36, einem Schwulen aus Bagdad. Eine Zeitlang hatte er einen Freund. Sie liebten sich. Dann überraschte der Bruder des Freundes die beiden im Bett und schlug sie zusammen. Khalid wurde geoutet und der Stammesführer angerufen zu urteilen. Auf Homosexualität steht Tod. Khalid flüchtete Fotos: Robin Hammond/ Noor/laif

Meine Tante wohnte in Shaalan. Eines Nachts, nach einem Besuch bei ihr, ging ich über die Alhamra-Straße zurück, durchaus hoffend, jemanden zu treffen. Plötzlich hielt ein Taxi neben mir, zwei Männer stiegen aus, einer hob seine Hand, als wolle er grüßen. Als ich den Gruß erwiderte, legte er mir Handschellen an und stieß mich ins Auto. Sie nahmen mir den Ausweis ab, beschimpften mich, ich sei ein perverser Schwanzlutscher, und wahrscheinlich seien meine Mutter und meine Schwestern auch Huren. Erst geschockt, brach es jetzt aus mir heraus: Ich schrie, dass niemand je so mit mir geredet habe. Der Polizist schlug mir ins Genick. „Was hast du dort gemacht?“ Ich war in Panik, sagte, ich hätte meine Tante besucht. Ob sie eine Prostituierte wie ich sei? Sie ist Fernsehmoderatorin, sagte ich, nannte den Namen, ruft sie an.

Sie verstummten, gaben mir den Ausweis zurück, lösten die Handschellen, ließen mich gehen. Meine Handgelenke bluteten. Was, wenn meine Tante nicht öffentlich bekannt wäre? Eine Woche ging ich nicht aus dem Haus. Ich hatte Angst.

Im Dezember 2005 las ich in der Zeitung, das Hamam Ammouneh sei geschlossen, weil es marode sei. Sahar, den ich bald darauf zufällig traf, wusste mehr: Die Geheimpolizei hatte eine Razzia gemacht, den Besitzer und die Besucher verhaftet. Er sah zerzaust aus, jetzt, wo das Ammouneh zu war. „Aber es gibt einen Ort, wo es ähnlich ist. Das Cinema Byblos.“

Cinema Byblos

„Geh über den Almarja-Platz zur Alnaser-Straße“, hatte Sahar gesagt, „dort siehst du das Siddiq-Restaurant. Geh links weiter bis zu einem Ladenfenster, in dem ein Filmplakat hängt. Das ist das Cinema Byblos.“ Als ich über den Platz ging, hatte ich das Gefühl, alle wüssten, wohin ich wollte.

Auf dem Poster wurde für den Film „I’ll die twice and love you“ von 1976 mit der Schauspielerin Ighraa geworben. Frivol schaute sie in die Kamera. Ighraa war immer eine Ikone; sie hat die eng gesteckten Schicklichkeitsgrenzen im arabischen Film niedergerissen. Ihr Blick auf dem Plakat hat sich mir eingebrannt.

Ich bezahlte dem Alten an der Kasse die 25 syrischen Lire und ging hinein. Die Eingangshalle war pink gestrichen. Überall hingen geschmacklose Plakate von syrischen Filmen aus den siebziger Jahren: „Sommergirls“, „Wintermädchen“, „Die Braut aus Damaskus“. Es gibt ein syrisches Sprichwort: „In der Hölle braucht man Feuerholz.“

Der Kinosaal war dunkel, Licht flackerte nur auf durch den Schwarzweißfilm. Es war schmutziger hier als im Hamam Ammouneh. Zigarettenrauch hing in den Sesseln, im Teppich, der Gestank war so stark, dass ich die Hand vor die Nase hielt und wieder rausging. Draußen sah ich, dass links die Toiletten waren, dorthin wollte ich. Es roch klebrig. Zwei Männer standen bei den kaputten Urinalen und fassten sich an. Ein Dritter kam aus einer Kabine, ging auf die Knie und begann, eifrig den Schwanz des einen zu lutschen, während der andere zusah. Fluchtartig verließ ich den Ort. Furcht, dass die Geheimpolizei hier jeden Augenblick aufkreuzen könnte, überkam mich.

Aber das war nicht das Ende. Ich bin noch oft ins Byblos gegangen. Dort traf ich andere Schwule als in den Hamams – ältere, ärmere, bescheidene, die dort sein wollten in der Gesellschaft Gleichgesinnter. Ich fragte mich, wie ihr Leben in den 50er, 60er Jahren war. Mit der Zeit fühlte ich mich sicherer in dieser unsichtbaren Welt. Ich verstand: Die Gemeinschaft macht einen stark.

Veränderungen

Beirut, Libanon, Februar 2015: Porträt von Ratib, 42, Bäcker in Damaskus. Er ist homosexuell, war verheiratet, ließ sich 2008 scheiden. Sein Schwager, Mitglied der Freien Syrischen Armee, bedrohte ihn. Eines Abends wurde er in einem Park in Damaskus von der Geheimpolizei verhaftet

Mit dem Krieg im Irak kamen vermehrt Iraker nach Damaskus, die aus dem ins Chaos gestürzten Land flohen. Zeitgleich breitete sich das Internet aus, vor allem in größeren Städten wie Aleppo, Damaskus, Homs. Viele junge Syrer verstanden, dass das Netz ein Tor in die Welt war, und hingen gern in den überall entstehenden Internetcafés herum. Damit einher ging die immer öfter zu hörende Forderung nach Presse- und Meinungsfreiheit. Die Geheimpolizei hatte nicht nur damit zu tun, sondern auch mit den mehr als zwei Millionen Flüchtlingen aus dem Irak sowie denen, die aus dem Libanon kamen, als dort 2006 ein neuer Krieg entfacht wurde. Die Schikanierung Homosexueller trat in den Hintergrund. Die scheinbar neue Offenheit im Umgang mit Sex zeigte sich auch daran, dass nach 2006 neue Clubs und Unterhaltungsetablissements in Aleppo und Damaskus eröffnet wurden.

Jaramana, im Süden von Damaskus, war so ein Bezirk, wo nicht nur Syrer von außerhalb gern hinzogen, sondern auch irakische Flüchtlinge. Schon vorher ging es unter den 200.000 Menschen dort bunt zu, Nationalitäten und Herkünfte, Aussehen und Religionen, alles war gemischt. Wollten Paare unterschiedlicher Religionen heiraten, dort konnten sie es.

Auf der Hauptstraße von Jaramana verdichtete sich das Leben: Restaurants, Cafés, hupende Autos, farbenfrohes Gewusel. Weil die Mieten bezahlbar waren, hatten viele Iraker hier Läden eröffnet, darunter Nachtclubs, in denen Sänger und Tänzerinnen auftraten.

Auch Schwule spürten die neue Laxheit. Die Besitzer des Hamam Alemareye verkauften es und eröffneten stattdessen das Hamam Jaramana. Schwule waren willkommen. Allerdings war Vorsicht geboten, auch Geheimpolizisten gingen dorthin, insbesondere, wenn in den Wohnhäusern wieder das Wasser abgestellt war. Man kannte sie aber, da sie das Bad gewöhnlich verließen, ohne zu bezahlen. Das Hamam war populär, heterosexuelle Iraker genossen es, sich zu baden und nebenbei mit einem passiven Schwulen Sex zu haben. Mir gefiel es wiederum, mit ihnen zu verkehren, weil klar war, dass sie nicht von der Geheimpolizei waren.

Im Juli 2008 traf ich Abu Ali. Er war aus Bagdad. Obwohl hetero, kapierte er, dass ich als Schwuler mit ihm spielen wollte. Er war nicht interessiert, brachte mich aber in Kontakt mit einem Freund, von dem er wusste, dass er Sex mit Schwulen mochte. Auf dem Weg dorthin erzählte er, dass sie beide als Fahrer für General Motors arbeiteten. Ihre Route: Bagdad–Damaskus. Ihre Wohnung lag unweit des berühmten Bogens von Jaramana. Abu Ali bat mich hinein. Die Wohnung war sauber und leer, nur ein Sofa stand im Zimmer. „Die Fahrer der Bagdad-Route können hier übernachten“, sagte er.

Plötzlich kam aus der Dusche ein bärtiger Mann mit nassen Haaren, der eine beige Galabeye trug, das arabische Männergewand. Er hieß Allawi. Wir setzten uns aufs Sofa. Allawi fragte, wie ich heiße, wie alt ich sei, was ich arbeitete. Abu Ali kam mit einem Tablett mit Wasser, Raki und Joghurt, setzte sich auf den Boden und bat uns dazu.

Der Raki war zu stark für mich. Erst redeten wir nur über Jaramana, aber mit jedem Schluck Schnaps wurden die Themen ernster: Krieg, Migration, die schlimme Route Damaskus–Bagdad. „Die Straße ist die Linie zwischen Leben und Tod“, sagte Abu Ali. Und Allawi weinte fast, als er erzählte, dass er mit wahnsinniger Angst nach Bagdad fahre und erst aufatme, wenn er auf dem Rückweg die Grenze zu Syrien überquere.

Es war schwer für mich, den Ernst ihrer Worte zu verstehen, da mein Leben damals noch ohne Krieg war. Wir sprachen über alles, nur nicht über Sex, also erwähnte ich das Thema. Allawi war schon betrunken und sagte, dass er feminine Männer vorziehe, ich sei nicht sein Typ. Trotzdem war ich gern dort. Ich verstand, wie Krieg die Werte und Lebenspläne verändert. Erst um 3 Uhr morgens ging ich nach Hause und dachte auf dem Weg, dass man, wenn man irgendwo ein Fremder ist, offener sein kann, dass man aber auch empfindsamer und müder ist. Und ich dachte, dass ich in einem Land wie Syrien nur offen mit Leuten wie ihnen über Politik, Sex und Religion reden kann. Bei meinen Landsleuten sind diese Themen tabu.

Gays online

Obwohl sie teuer sind, verbreiteten sich Smartphones und Laptops rasant in Syrien. Im Jahr 2007 versuchte das Assad-Regime mehrmals, soziale Netzwerke wie Facebook zu blockieren, aber Sex-Websites und schwule Netzwerke wie Manjam blieben offen.

Manjam war das virtuelle Fenster, mit dem Schwule in den arabischen Ländern miteinander in Kontakt kommen konnten. Auch mit Schwulen in Europa begann ich zu chatten, ich wollte wissen, wie sie leben, wo sie sich treffen, wie es um die gleichgeschlechtliche Ehe steht. Umgekehrt merkte ich: Schwule aus Europa kontaktierten mich nur, wenn sie Sex wollten. Sie fantasierten sich diesen hypersexualisierten Körper mit dunkler Haut und schwarzem Bart herbei. Einmal erzählte mir ein Österreicher im Chat, er suche einen arabischen Mann, der ihn wie seine Frau behandle.

Dieser Österreicher brachte mich in Kontakt mit einem Libanesen, der für Schwule Reisen nach Syrien organisierte. Er sagte, nicht mehr Beirut, sondern Damaskus sei nun Traumziel vieler schwuler Europäer und US-Amerikaner. Die Syrer kämen ihnen authentischer vor und weniger verwestlicht.

Ein paar Monate später kam er mit einer Gruppe Finnen nach Damaskus. Die fünf blonden Männer wohnten im Oriental Hotel; ich zeigte ihnen die Stadt. Sie hatten schon ein Hamam besucht und waren beeindruckt, dass so viele Schwule dort waren. Dass es der einzige Ort in Syrien war, wo Schwule sich einigermaßen sicher fühlen konnten, war ihnen nicht klar. Auch nicht, dass es keine schwulen Bars gab, höchstens schwulenfreundliche ­Locations – einige in der Nähe des Hotels, in dem sie wohnten. In einer Nacht gingen wir ins Murmur, einen dieser inoffiziellen Schwulenclubs, und tanzten bis morgens um 3 Uhr. Als wir auf dem Weg zurück die alten Mauern entlangschlenderten, sagte ich ihnen, dass ich gern in Damaskus lebe, trotz der Schwierigkeiten und Gefahren.

Untergrund-Revolution

Diese Geschichte hat kein Ende. Es sieht so aus, dass du als Homosexueller aus Syrien immer weiter für deine Rechte kämpfen musst – auch in Schweden und anderswo in Europa. Ich habe meine sexuelle Orientierung vor meiner Familie und vor Freunden in Syrien verheimlicht. Ich hatte Angst, eingesperrt zu werden, meinen Job und meine Freunde zu verlieren oder ihren Respekt. Doch ich erinnerte mich, dass mich jede Sekunde, in der ich mich nicht selbst verraten hatte, stärker gemacht hat. Und ich erinnerte mich, dass die Kinder von Daraa, die im März 2011 Freiheitsparolen an die Wand der Schule schrieben, gefangen und gefoltert wurden – es war der Beginn der syrischen Revolution.

Ich nahm einen Stift, ging in den Waschraum im Keller des Asylbewerberheims und schrieb an die Wand: „Schwule haben Rechte hier. Schwule sind Menschen. Homosexualität ist Sexualität, keine Krankheit. Greift Schwule nicht an, wenn ihr sie schon nicht unterstützt. Wenn du Opfer mangelnder Bildung bist, lies. Liebe deinen Sohn, auch wenn er schwul ist. Schwule kämpfen gegen Ignoranz, nicht gegen Gott.“

Übersetzung: Waltraud Schwab

Khaled Alesmael, Journalist aus Syrien, kam 2015 als Asylbewerber nach Schweden. Er arbeitet im Rahmen eines Journalistenaustauschs bei der taz

Robin Hammond widmet sich als Fotograf häufig Menschenrechtsthemen

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