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Izmir vor dem VerfassungsreferendumDie Stadt, die Nein sagt

Izmir wird gegen Erdo­ğans Präsidialverfassung stimmen. Die Stadt hat schon immer nach Westen geschaut: auf Deniz, aufs Meer. Ein Rundgang.

Hayir – türkische Frauen demonstrieren in Izmir für ein Nein zur Verfassungsänderung Foto: ap

Schon auf den ersten Blick fällt auf, dass in Izmir etwas fehlt. Wer vom Flughafen mit dem Bus in die Innenstadt fährt, wer aus Istanbul oder Ankara, Bursa oder Adana anreist, sucht am Straßenrand vergeblich nach ihm: Der türkische Präsident ist in Izmir abwesend.

Es ist, als gäbe es ihn gar nicht, als sei er ein schlechter Traum aus dem Fernsehen. In Istanbul hängt Erdoğans Gesicht an jeder Ecke, in Izmir muss man sogar die Evet-Plakate lange suchen, mit denen für das Verfassungsreferendum geworben wird. Doch auch große Hayır-Flaggen fehlen.

„Izmir ist smarter“, sagt Tunc Soyer und zeigt auf den Button, den er auf seine Jacke gepappt hat. „Yetti Gari“ steht darauf. Das ist Izmirer Slang für „ Yeter Artık!“ und meint so viel wie: „Es reicht“. Auf dem Markt von Seferihisar drängen sich die Menschen mit ihren Einkäufen, Soyer drückt jedem Vorbeilaufenden einen Button in die Hand oder direkt auf die Jacke. Während die Menge sich zwischen den Ständen hindurchschiebt, steht Soyer mittendrin. Seine markante Glatze verschwindet immer wieder im Gewühl, jeder kennt ihn, jeder will mit ihm sprechen.

Soyer ist 56 Jahre alt und damit ein vergleichsweise junger Politiker. Er ist Bürgermeister von Seferihisar, der Vorort von Izmir liegt malerisch am Meer und ist am Wochenende ein Ausflugsort für den Mittelstand. In der Altstadt findet jeden Sonntag ein Markt für lokale Spezialitäten statt. Es ist Soyers Markt, er hat ihn vor ein paar Jahren ins Leben gerufen. Deshalb bewegt er sich an seinem Wahlkampfstand auch, als stünde er in seinem Wohnzimmer.

Wahlkampf, das begreift der Besucher schnell, läuft in Izmir anders als im Rest des Landes. Nicht mit großen Plakaten, sondern mit den Mandarinen, die Soyer in den Händen hält. Mit uralten Stadtkarten, die Abgeordnete in ihren Schränken aufbewahren. Und mit Schiffen im Hafen, die nach Westen schauen.

Wer Soyer im Wahlkampf begleitet, sieht einen Mann, für den das Referendum kein Endpunkt ist. Der Mann will nach oben. Bürgermeister, vielleicht. Oder nach Ankara. Natürlich ist Soyer Mitglied der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP, denn das ist Voraussetzung, um in Izmir politisch etwas werden zu können.

Seit Jahrzehnten wird Izmir von der CHP regiert. Doch nie war die Partei in Izmir so stark wie seit dem Amtsantritt Erdo­ğans. Seit die AKP 2002 erstmals bei Wahlen antrat, hatte sie nie eine Chance. Weder bei Parlaments- noch bei Kommunalwahlen schaffte die AKP je mehr als 30 Prozent. Soyer ist sicher, dass das so bleibt: „Am 16. April wird Izmir mit mindestens 70 Prozent Nein stimmen.“

„Wenn man nach der Arbeit mal schnell auf sein Boot steigen kann, ist man gelassener. In Istanbul steht man auf dem Weg nach Hause zwei Stunden im Stau“

Zeynep Altıok, CHP-Abgeordnete

Um zu verstehen, warum Soyer sich so sicher ist, muss man ihn an seinem Wahlkampfstand stehen lassen und in die Geschichte der Stadt eintauchen. Und mit dem Bus aus dem Vorort in den Innenstadtbezirk, nach Konak fahren.

Dort, in einem Verwaltungsgebäude mit Blick auf den Stadtpark, wartet Sema Pekdaş, die Chefin des Bezirks, und lächelt zufrieden. Dass für Erdoğan in ihrer Stadt nichts zu holen ist, scheint sie zu genießen. Sema Pekdaş ist 60 Jahre alt und ihr Leben lang Kommunalpolitikerin. Sie sitzt in ihrem großen Büro, eingerahmt von Fotos früherer Politgrößen.

Für die AKP sei Izmir immer die „Stadt der Ungläubigen“ gewesen, erklärt Pekdaş. Die AKP wollte Izmir wie eine feindliche Stadt erobern. „Aber die Menschen spüren das.“

Schon während des Osmanischen Reichs war Izmir die Stadt der „Gâvur“, der Ungläubigen. In etlichen Romanen wird vom kosmopolitischen, levantinischen Smyrna geschwärmt, wie Izmir bis zum Ersten Weltkrieg hieß. Heute ist die Stadt mit vier Millionen Einwohnern nach Istanbul und Ankara die drittgrößte des Landes, das Herz der mediterranen Türkei und das ökonomische und kulturelle Zentrum der Küste.

Wie aus Smyrna Izmir wurde

Pekdaş verschwindet kurz aus ihrem Büro, um mit einem historischen Stadtplan zurückzukommen, den ihre Mitarbeiter erst kürzlich im Archiv entdeckt haben. Der Stadtplan von 1875 zeigt die verschiedenen Viertel, die damals in Smyrna existierten. Pekdaş fährt mit dem Finger über die Karte, zeigt das armenische Viertel, das muslimische Viertel, und das fränkische, also europäische Viertel. „Ein griechisches Viertel gab es nicht, die Griechen waren die Mehrheit und lebten überall in der Stadt“, erklärt Pekdaş.

Doch die griechisch-armenische Geschichte Smyrnas endete 1922 – mit einer Massenflucht. Zwei Jahre zuvor war die griechische Armee in Smyrna einmarschiert, unterstützt von den ­Briten, die seit dem Ende des Ersten Weltkriegs die Besatzungsmacht am Bosporus waren. Von dort aus besetzte sie das gesamte Westanatolien. Der imperiale Traum, das antike Großgriechenland wiederherzustellen, schien gegen die im Weltkrieg geschlagene Türkei realisierbar.

Doch die Griechen unterschätzten die Türken. Im Unabhängigkeitskrieg unter Führung von General Mustafa Kemal, dem späteren Staatsgründer Atatürk, wurden die griechischen Truppen zurückgeschlagen. Bei ihrem Rückzug brannten die Griechen türkische Häuser nieder.

1922 eroberte die türkische Befreiungsmiliz Smyrna zurück und rächte sich. Türkische Offiziere duldeten, dass die christlichen Stadtteile Smyrnas in Brand gesteckt wurden. Die griechische und armenische Bevölkerung flüchtete auf griechische und britische Kriegsschiffe, die im Hafen warteten. Wer es nicht schaffte, wurde ermordet oder floh ins Umland. Die levantinische Tradition Smyrnas endete, es begann die Zeit des türkischen Izmir.

„Trotzdem“, sagt Pekdaş und blickt von der alten Stadtkarte auf, „ist Izmir immer noch griechisch geprägt.“ Längst würden viele Izmirer die Vertreibung der Griechen bedauern, man habe gute Kontakte nach Athen. „Izmir ist zwar nicht mehr so kosmopolitisch wie im 19. Jahrhundert, doch die Kosmopoliten der Türkei leben hier.“

Relaxt in der Abendsonne – Menschen in Konak, dem historischen Zentrum von Izmir Foto: imago / invision

Pekdaş öffnet ihren Schreibtisch, sie hat noch etwas, das sie dem Gast zeigen möchte. Es ist die Kopie einer Münze, die auf dem Burgberg von Izmir gefunden und zur Zeit Alexanders des Großen geprägt wurde. „Die Stadt ist eine Gründung Alexanders, wir sind stolz darauf“, sagt sie.

Verlässt man nun das Büro von Pekdaş, um jene Orte zu finden, die noch aus dem griechischen Smyrna stammen, muss man lange suchen. Bis auf die Ausgrabungsstätte einer griechisch-römischen Agora aus dem zweiten Jahrhundert nach Christus besteht die Stadt heute weitgehend aus modernen Betonbauten.

Wo früher das armenische Viertel stand, ist heute der Stadtpark. Die gesamte Uferpromenade ist von modernen, nicht immer gelungenen Bauten gesäumt. Die ehemaligen Kaianlagen sind in Shoppingmalls und teure Restaurants umgebaut worden. Der Hafen selbst spielt im Zentrum Izmirs keine Rolle mehr, er wurde in den Zipfel der Bucht verlegt.

Zeynep Altıok kann sich darüber immer noch aufregen. „Das ist eine gezielte Politik der AKP, um Izmir zu schwächen“, sagt die Parlamentsabgeordnete der CHP. „Der Hafen gehört dem Verkehrsministerium, und das tut alles, damit er nicht prosperiert.“

Altıok ist mitten im Wahlkampf, jeden Tag twittert sie den Countdown bis zum Referendum. Als eine von 14 CHP-Abgeordneten vertritt die 48-Jährige die Stadt in Ankara. Lange war sie in der türkischen Menschenrechtsbewegung engagiert, bevor sie in die Politik wechselte. Sie hat in London studiert, spricht anders als viele Abgeordnete fließend Englisch und steht für die Ausrichtung Izmirs nach Westen.

Altıok wurde früh politisiert, als ihr Vater bei einer alevitischen Konferenz in Sivas 1993 getötet wurde. Ein islamistischer Mob zündete das Hotel an, in dem die Konferenz stattfand. Ihr Vater und 36 weitere Teilnehmer starben. Vor einigen Jahren ist sie aus Istanbul nach Izmir gezogen und schwärmt immer noch: Izmir sei entspannter, der Umgang nicht so aggressiv. Dazu kämen die schönen Plätze am Meer. „Wenn man nach der Arbeit mal schnell auf sein Boot steigen kann, ist man gelassener. In Istanbul steht man auf dem Heimweg zwei Stunden im Stau.“

Seit einigen Jahren ziehen immer mehr junge, gut ausgebildete Leute wie Altıok nach Izmir. Moderne Türken, die vom Islamismus der AKP die Nase voll haben, aber nicht ins Ausland können. „Das ist noch keine Massenbewegung“, sagt Altıok, „aber es werden mehr.“

Kemalisten tragen Schiebermützen

Politiker wie Altıok und Soyer repräsentieren das weltoffene Izmir. Doch ein Hayır, ein Nein, muss nicht zwangsläufig demokratisch und fortschrittlich sein. Denn auch der nationalistische Kemalismus ist in der Stadt präsent. Ihr Kopf ist Deniz Baykal. Er war viele Jahre lang Vorsitzender der CHP, führte die Partei gegen Erdoğan von Niederlage zu Niederlage. Baykal ist aus Antalya, aber bei einem Auftritt in Izmir Ende März versammelt er noch einmal die sogenannten Linksnationalisten um sich.

Die Veranstaltung findet in einem Theatersaal am Rande des Stadtparks statt. Etliche ältere Männer mit der Schiebermütze der Kemalisten auf dem Kopf pilgern durch den Park, um ihrem Idol zu huldigen. Der Saal ist brechend voll, als der fast 80-jährige Baykal endlich auf die Bühne kommt. Er bekommt Standing Ovations.

Und Baykal enttäuscht seine Anhänger nicht. Statt über die undemokratische Präsidialverfassung redet er von vergangenen Siegen der Republik. Nur träumt Baykal nicht wie Erdoğan vom Osmanischen Reich, sondern von den ersten Jahrzehnten der Republik, als Atatürk noch lebte. Baykals Religion ist nicht der Islam Erdoğans, sondern der Kemalismus. Sonst unterscheidet die beiden Männer wenig.

Doch Baykal ist ein Auslaufmodell. Sein Publikum gehört zur Generation 60 plus, manchen fallen die stehenden Ovationen schwer.

Ein Kilo Mandarinen für 25 Cent

Deshalb zurück auf den Markt, zurück zu Soyer und seinen Mandarinen. Jedem, den er im Wahlkampf anspricht, drückt Soyer ein paar getrocknete Mandarinenstücke in die Hand. Sie sind überzeugender als jeder Flyer. Er bekommt sie von den Obsthändlern, sie verdanken ihm ihren Job. Denn das mit den Mandarinen war Soyers Idee. „Ich will hier im kleinen Dinge ausprobieren, die später in ganz Izmir umgesetzt werden können“, sagt Soyer.

Unmittelbar nach seiner Wahl zum Bürgermeister von Seferihisar im Jahr 2009 legte er los. Sein erstes Projekt war Slow City, das Ziel: sein Viertel zur ersten langsamen Stadt in der Türkei zu machen. Dafür sollte der Verkehr beruhigt, regionale Produktion gestärkt und der Tourismus nachhaltiger werden. Soyer veranstaltete unzählige Bürgerversammlungen, in denen er nach und nach die Skepsis seiner Wähler überwand.

Soyer ist kein Romantiker. Er weiß, dass viele Türken Erdoğan aus ökonomischen Gründen wählen. Deshalb hat er sich das mit den Mandarinen überlegt.

Ab Izmir beginnen die Zitrusplantagen. Vom südlichen Stadtrand angefangen, wachsen an der gesamten Mittelmeerküste überall Orangen, Zitronen und Mandarinen. Um Izmir dominieren die Mandarinenhaine. Rund um Seferihisar gibt es hunderte Kleinbauern, die von ihren Mandarinen nicht mehr leben konnten, weil der Kilopreis seit Jahren unter einer Lira (25 Cent) liegt. Kleinbauern, die sonst häufig Anhänger der AKP sind.

Soyer und sein Team hatten eine Idee. Von der Weintraubenproduktion der Türkei wird nur 20 Prozent zu Wein verarbeitet, der größte Teil wird zu Rosinen getrocknet und exportiert. Warum nicht auch Mandarinen trocknen? Nach mehreren Jahren und vielen gescheiterten Experimenten haben sie jetzt den Dreh gefunden, Mandarinenscheiben so zu trocknen, dass sie ihren Geschmack nicht verlieren.

Die Kommune hat eine Genossenschaft gegründet, die den Kleinbauern nun das Vierfache für ihre Mandarinen zahlt, die Früchte trocknet und in den Handel bringt. Sie verkaufen sich bestens. „Damit geben wir den Kleinbauern eine Existenz und retten unsere Mandarinenhaine“, glaubt Soyer.

Wenn Evet kommt? Einfach wegrudern

Bevor er Seferihisar verlässt, um für den Oberbürgermeisterposten in Izmir zu kandidieren oder für die CHP nach Ankara zu gehen, will Soyer ein weiteres Projekt realisieren. Seferihisar soll das Zentrum für Solarenergie in der Türkei werden.

Bislang wird auf den Häuserdächern der Türkei lediglich Wasser von der Sonne erhitzt. Photovoltaik liegt brach, obwohl die Voraussetzungen gut sind. Soyer verhandelt bereits mit der Elektrizitätsgesellschaft. „Ökologie, Kultur und ein sanfter Tourismus, das ist unsere Zukunft“, sagt Soyer. „Nicht das islamisch-autoritäre Projekt Erdoğans.“

Und was, wenn Evet gewinnt? Nicht in Izmir, aber im Land? Dann arbeiten einige bereits an einem Ausweg. In dem großen Atelier am Strand von Urla, einem weiteren Vorort von Izmir, ist die islamische Türkei Erdo­ğans besonders weit entfernt. Unter einem Zeltdach bastelt Osman Erkut an einem Nachbau eines phönizischen Handelsschiffes aus dem 3. Jahrhundert vor Christus. Erkut hat den Kiel aufgelegt und die ersten Spanten gesetzt, die den Rumpf des Schiffes wie ein Skelett von innen tragen. Erkut verwendet nur Materialien, die auch die Schiffsbauer in der Antike nutzten.

Draußen vor dem Atelier liegt bereits ein aus Schilfbündeln erbautes Schiff im Stile des Norwegers Thor Heyerdahl, und als Prunkstück eine griechische Galeere, wie Odysseus sie auf dem Weg nach Troja benutzte. Das Schiff trägt den Namen der Göttin Kybele. Ein Teil der Ruderbänke ist gegen Wind und Wetter überdacht, ein Mast kann ein primitives Segel tragen. Vor zehn Jahren sei er mit einer Besatzung von 20 Mann mit der Kybele von Izmir bis Marseille gesegelt und gerudert, erzählt Erkut sichtbar stolz.

Erkut ist kein Archäologe, sondern ein Künstler, der sich der antiken Ägäis verbunden fühlt. Unterstützt wird er von der Stiftung einer türkischen Industrieholding. Zudem arbeitet er mit der Marinefakultät der Izmirer Universität zusammen. „Erdoğans AKP stammt aus der Steppe, wir schauen aufs Meer“, sagt Erkut. „Sollte Erdoğan am 16. April gewinnen, werden wir die Kybele ins Wasser lassen und nach Westen segeln.“

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