Suche Ein Ort an der Elbe, der früher zur DDR gehörte und heute zu Niedersachsen: Am Sonntag finden Kommunalwahlen statt. Frust gibt es genug, aber die AfD tritt in der Gemeinde nicht an. Was ist hier anders?: Die Brücke, die Brücke
Aus Amt Neuhaus Waltraud Schwab
Noch acht Zentimeter, sagt Manfred Ickert, „dann ist Schluss.“ Ickert, Bäckermeister, sitzt für die FDP im Gemeinderat von Amt Neuhaus, einer Gemeinde aus sieben Ortschaften, auf der Ostseite der Elbe, der verwaltungstechnisch zum Gebiet auf der Westseite des Flusses gehört, knapp 100 Kilometer von Hamburg entfernt. Mit den „acht Zentimetern“ meint Ickert den Pegelstand. Die Elbe hat Niedrigwasser und Regen ist nicht in Sicht. Wenn der Pegel weitere acht Zentimeter sinkt, wird auch der Fährverkehr eingestellt. Der Schiffsverkehr ist es schon.
Spätestens in zwei Wochen, schätzt Ickert, sei es so weit. Dann fühlen sich die meisten der knapp 5.000 Bewohner und Bewohnerinnen dieser Gemeinde, „Enklave“ sagen mache, wieder einmal abgeschnitten. Wie bei Hochwasser und bei Eisgang. Nur mit Umwegen über die Brücken bei Dömitz oder Lauenburg kommen sie dann auf die andere Elbseite, zu der sie doch gehören. Dort liegt Lüneburg, die Kreisstadt, dort gehen viele zur Schule, zur Arbeit. Wäre die Brücke nur da.
Die Brücke, die Brücke. An diesem Wochenende sind Kommunalwahlen in Niedersachsen. Gemeinderäte und Kreistage werden gewählt. Was bei der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern das Aufregerthema Flüchtlinge war, ist in Amt Neuhaus die Brücke. Schon vor dem Krieg war sie ihnen versprochen. Doch nach dem Krieg gab es Willkür bei der Grenzziehung, und das Gebiet, das heute Amt Neuhaus umfasst, fiel an die DDR und wurde ein Teil Mecklenburg-Vorpommerns, obwohl es historisch zum anderen Elbufer gehörte. Als Deutschland getrennt war, war die Elbe Grenzfluss, die beiden Seiten zu verbinden stand nicht zur Debatte. Erst nach der Wende hätte sich das ändern können, als Amt Neuhaus 1993 wieder ein Teil Niedersachsens wurde.
„Die Brücke war uns versprochen“, sagt eine Cola trinkende Frau, die vor dem Lindenhof am Marktplatz in Neuhaus, dem größten – und namengebenden – Ort des Gemeindeverbunds, sitzt. „Alle vier Jahre versprechen sie uns eine“, meint der junge Mann, der mit am Tisch sitzt. „Die Brücke kommt nie“, sagt der Grauhaarige daneben. Die CDU habe sie versprochen und nicht gebaut, SPD, Linke und FDP säßen mit im Boot. Und die Grünen hätten eine Volksbefragung im Kreis Lüneburg zur Brücke initiiert, die Bevölkerung sagte Ja, die Grünen sind trotzdem dagegen. „Die Grünen machen hier keine Schnitte“, sagt der junge Mann. „Grün, grün, gucken Sie die Landschaft an, da brauchen wir keine Grünen.“
Zum Boykott aller Brückengegner wird auf Plakaten aufgerufen. Welche Partei ihnen denn noch bleibe? Sie verstehen die Frage und verneinen: Die AfD würden sie aus Protest trotzdem nicht wählen, beteuern alle.
Bei der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern am letzten Sonntag bekam die AfD 20,8 Prozent der Stimmen. Im Amt Neuhaus indes, obwohl doch ehemals Teil von Mecklenburg-Vorpommern, tritt die AfD bei der Gemeinderatswahl diesen Sonntag gar nicht an. Etwas ist anders hier. Was?
Wenn die Luft raus ist bei einen Thema, kommt ein neuer Aufreger auf den Tisch: das Biosphärenreservat. Die ganze Gemeinde, sie liegt in der Elbtalaue, wurde dazu erklärt. „Wir sind das grüne Gewissen Niedersachsens“, sagt ein Mann am Marktplatz, das Biosphärenreservat sei ihnen aufgedrückt worden. Jetzt könne er nicht mehr da angeln, wo er wolle.
Zum Staunen schön ist die Elbtalaue. Eine Landschaft, weit und baumgesäumt. Dazu Ruhe, solche Ruhe, dass in der Windstille der Wind und im Wind der Sturm wächst. Und was andernorts das Meer ist, der Ort, wo Wege enden, ist hier die Elbe. Die Leute leben mit ihr. Niedrigwasser, Hochwasser, auch die Vegetation ist an den Wechsel gewöhnt. Nur dass jede Flut höher steigt, löst Sorgen aus: 2002, beim „Jahrhunderthochwasser“, lag der Scheitelpunkt bei 11,84 Metern, 2006 waren es 11,99 Meter, 2013 dann 12,37 Meter. Gemessen in Stiepelse, hinter Heidemarie Gaedes Haus.
Die pensionierte Lehrerin, braun gebrannt und viel ehrenamtlich unterwegs in der Flüchtlingsarbeit, ist direkt hinterm Deich aufgewachsen. „Ich hatte den Grenzzaun vor der Nase.“ Ans Wasser gab’s keinen Weg. Sie hat gesehen als Kind, wie ihre Nachbarn binnen Stunden „ausgesiedelt“ wurden, weg von Haus und Hof, eine der Schikanen. Jeden hätte es treffen können. Die am Deich – und damit im Sperrgebiet – wohnten, sind nicht nur wegen der Fluten eine eingeschworene Schicksalsgemeinschaft, auch wegen der Geschichte. Um nach Hause zu kommen, mussten sie Schlagbäume passieren, Freunde durften sie nie einladen.
Die Grenze ist seit 1989 offen – „ein Riesenglück“, sagt Gaede, und die Deiche sind verstärkt. Steht das Wasser aber tief, so wie jetzt, gibt die Elbe Sandbänke frei, Strände, man kann wieder schwimmen im Fluss.
Nie wieder Grenze. Auch nicht im Denken.
Zurück zu Manfred Ickert, dem FDP-Gemeinderat, der den Pegelstand ins Gespräch brachte. In kurzen Hosen sitzt er vor dem Café, das er hinterm Marktplatz vor fünf Jahren eröffnet hat – und das unversehens das Herz von Neuhaus wurde, ein Ort, wo man sich verabredet, sich trifft. Ickert kennt die Probleme der Gemeinde. Aber er hat es satt, wenn sich die Leute immer nur aufregen, immer an anderen messen und meinen, diese hätten mehr Vorteile: „Wer nur darüber redet, was schlecht ist, hat keine Zeit mehr, sich an dem zu freuen, was gut läuft.“
Gut sei vieles in Neuhaus. Der Zusammenhalt. Und der Umgang mit den Flüchtlingen; dass das geklappt hat in Sumte, darauf ist er stolz. Sumte ist ein Dorf, das zur Gemeinde gehört. Dort kamen 700 Flüchtlinge auf 100 Bewohner. Weltweit berichteten Fernsehstationen. Jetzt wird das Flüchtlingsheim geschlossen, und mancher, der dort Arbeit fand, ist nicht froh darüber. Auch im Biosphärenreservat sieht Ickert eine Chance. Obwohl Bauern nun auf Qualität statt Quantität setzen sollen.
Aber natürlich, schwer sei es schon. Trotzdem plädiert er dafür, dass die Leute nicht nur schimpfen, sondern sich einbringen in die Gemeinschaft. Dass die AfD nicht präsent ist, könnte, meint er, damit zusammenhängen, dass sie nur polarisieren und nicht gestalten wolle. Wer im Gemeinderat sitzt, werde zur Rechenschaft gezogen. „Wir können die Probleme hier doch nur im Dialog lösen.“
Einer, der sich einbringen will, sitzt gerade in Ickerts Café. Rainer Ottliczky kandidiert für die SPD. Vor fünf Jahren zog er nach Neuhaus. Obwohl viel gereist, hätten er und seine Frau noch nie eine Gemeinde erlebt, in der Nähe zwischen Menschen so gelebt werde wie hier. Die Leute seien weder wie im Westen noch wie im Osten. Ickert hat den passenden Begriff: „Wossis“ – ein Handelsvertreter sagte das mal zu ihm.
Annegret Panz mag die Unterscheidung in Westen und Osten nicht mehr. Die Geschichtslehrerin, die auch am Deich aufwuchs, engagiert sich dafür, dass die DDR-Geschichte von Amt Neuhaus nie vergessen wird. „Für mich war die DDR ein Unrechtsstaat.“ Sie fährt durch die Orte an der Elbe, deutet auf Häuser, wo Menschen weggebracht wurden, und nie mehr zurückkamen. „407 Personen aus 29 Orten“, sagt sie. „Für freie Sicht und Schussfreiheit wurden Leute zwangsumgesiedelt, das Eigentum verfiel und man konnte den Staat nicht dafür verklagen.“ Nachbar versuchten mitunter, die verlassenen Häuser vor dem Verfall zu retten. Dass die Leute hier aufeinander achten, das habe mit dieser Erfahrung zu tun. Vielleicht, meint sie, spielt die AfD deshalb keine Rolle. Wobei, sie ist sich nicht sicher: Wahrscheinlich gäbe es schon welche, die die Rechten wählen würden, wenn die Gelegenheit da wäre.
Ein paar Stunden später, im Elbcafé in Darchau, direkt an der Fähre, dort, wo die Brücke sein soll, so sie gebaut wird. Eine Gruppe älterer Frauen in Göttinnenkörpern sitzt um einen Tisch im Schatten. „Schnattertanten“ würden sie genannt, sagen sie. Sie reden über Männer, Elektrofahrräder und wie angenehm ein Besuch bei der Podologin sei. Eine erzählt, wie sie neulich die Sandalen anzog, aber der Nagellack an den Zehen noch nicht trocken gewesen sei. Dann Themenwechsel: der sinkende Pegelstand der Elbe. Sie habe es gehört. „Noch fünf Zentimeter weniger, und es geht nichts mehr.“
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