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Asyl Ein Jahr nach dem freudigen Empfang der Flüchtlinge sind ihre Chancen extrem ungleich verteilt. Die einen könnten bald Lehrer werden, die anderen dürfen nicht einmal ihr Shampoo auswählenDas Vier-Klassen-System

Mustafa Musto mit den Kindern Alma und Abdulah in Bonn Foto: Jörn Neumann

Aus Bamberg, Bonn, Teltow und Zinnwald Sabine am Orde, Barbara Dribbusch, Christian Jakob und Steffi Unsleber

Die gute Nachricht ist, dass Ahmad Sai ein Glück für dieses Land ist. Und dass das, was in diesem Land in den vergangenen zwölf Monaten ermöglicht wurde, ein Glück ist für Ahmad Sai.

Sai ist 33, ein Mann, der helle Sporthemden trägt und als Student durchgeht. In Homs in Syrien hat er Mechanik studiert und als Mathematiklehrer gearbeitet. Vor genau einem Jahr kam er nach Deutschland, in den Wochen im August, in denen in Zügen und Bussen, in Autos von Helfern und zu Fuß Zehntausende Menschen die deutschen Grenzen überquerten. In denen die Bilder der Zelte im überfüllten Budapester Bahnhof Keleti schnelle Antworten auf lange schwelende Fragen herausforderten.

„Wir schaffen das“, das war die Haltung, die die Bundeskanzlerin vorschlug.

Heute, ein Jahr später, nimmt Ahmad Sai an einem Modellprojekt an der Universität Potsdam teil, bald wird er als Integrationslehrer für Flüchtlinge arbeiten. Ein Rentner gibt ihm, zusätzlich zu den offiziellen Sprachkursen, einmal die Woche Deutschnachhilfe. Vielleicht wird Sai irgendwann mit anderen das Problem lösen, dass deutsche Schulen Hände ringend nach Lehrern für naturwissenschaftliche Fächer suchen.

Die Wahrheit ist: Ahmad Sai tut viel dafür, dass er es schafft. Während er auf seine Anerkennung als Flüchtling wartete, begann er per Youtube, Deutsch zu lernen. Die Zeugnisse, die seine Studienleistungen dokumentieren – „Fortgeschrittene Programmierung“, „Integralgleichung“, „Wellenmechanik“ – ließ er ins Deutsche übersetzen.

Die Wahrheit ist aber auch: Ahmad Sai hat ziemlich viel Glück gehabt.

Das deutsche Klassensystem

Erste Klasse: Voller Flüchtlingsschutz bedeutet unter anderem das Recht, zu arbeiten, und auf frühe Sprachkurse. Den Status bekommen etwa Syrer, Irakerinnen und Eritreer, aber nicht alle.

Zweite Klasse: Einige Menschen aus Krisengebieten wie Syrien werden nur als subsidiär Schutzberechtigte anerkannt. Für sie wurde der Familiennachzug ausgesetzt.

Dritte Klasse: Flüchtlinge aus Ländern wie Afghanistan und dem Sudan, deren Gesamtschutzquote – also der Prozentsatz der Anerkennungen – unter 50 liegt. Der Zugang zu Kursen ist erschwert.

Vierte Klasse: Als sichere Herkunftsländer gelten die Westbalkanstaaten, Senegal und Ghana. Ziel ist eine schnelle Abschiebung.

Hört man die Geschichten von Menschen, die im Sommer 2015 nach Deutschland gekommen sind, schaut man, ob dieses Land es geschafft hat, ihnen eine Perspektive zu geben, dann fällt etwas auf. Etwas, das in den schablonenhaften Diskussionen zwischen „Refugees welcome“ und „Merkel muss weg“ nicht vorkommt: In Deutschland ist für Flüchtlinge ein Vier-Klassen-System entstanden.

Ahmad Sai, der Mathematiker, bekam den vollen Flüchtlingsschutz.

Mustafa Musto, ein Stofffabrikant aus Syrien, droht unter das Konstrukt der sogenannten subsidiären – also behelfsmäßigen – Schutzbedürftigkeit zu fallen; dann dürfte er seine Familie nicht nach Bonn nachholen.

Yusuf Sadri, ein junger Schneider, der heute im sächsischen Zinnwald wohnt, kommt aus Afghanistan – und weniger als die Hälfte der Geflüchteten aus dem Land werden in Deutschland als Asylberechtigte anerkannt; für ihn gibt es keine regulären Sprachkurse mehr, seit die Syrer aus seinem Heim ausgezogen sind.

Und Hanifa Aljic aus Bosnien lebt mittlerweile in einer Ankunfts- und Rückführungseinrichtung im bayerischen Bamberg; wer hier wohnt, steht im neu entstandenen System ganz unten.

Das System ist aus der Idee entstanden, dass man differenzieren muss, wenn man denen helfen will, die am meisten Schutz brauchen. In den vergangenen Monaten, in denen viel für Flüchtlinge in Bewegung gesetzt wurde, wurden daher auch viele Räume eng gemacht.

Ein Jahr nach Angela Merkels Satz „Wir schaffen das“, der seitdem ihre Kanzlerschaft prägt, ein Jahr, nachdem am Münchner Hauptbahnhof die Ankommenden aus Ungarn mit Kuscheltieren und Schokolade begrüßt wurden, sind die Chancen für Flüchtlinge extrem ungleich verteilt.

7. September 2015: Münchner heißen Flüchtlinge am Hauptbahnhof mit kleinen freundlichen Gesten willkommen Foto: Wolf Heider-Sawall/laif

Viele Menschen, die seitdem gekommen sind, werden bleiben. Die einen wurden als Flüchtlinge anerkannt, die anderen werden nicht abgeschoben, weil in ihrem Land Krieg herrscht, weil sie krank sind, weil sie ihren Pass weggeworfen haben.

Aber nicht alle, die bleiben werden, können auch in Deutschland heimisch werden. Weil Deutschland nicht nur fördert, sondern viele auch daran hindert, sich in diese Gesellschaft einzubringen.

Shampoo gibt es dienstags von eins bis zwei

Die Unterschiede zeigen sich selbst im alltäglichen Leben – bis hin zu kleinen Details, etwa ob sich jemand aussuchen kann, was es zum Mittagessen gibt.

Die Ankunfts- und Rückführungseinrichtung in Bamberg, in der Hanifa Aljic aus Bosnien mit ihrem Mann und den drei gemeinsamen Kindern lebt, befindet sich in einer ehemaligen Kaserne. Gelbe Reihenhäuser mit blauen Balkonen stehen dort, und das silbrige Laub der Pappeln liegt in den Bordsteinrinnen. Drum herum ein hoher Zaun.

Aus den Fenstern dröhnt Popmusik mit südosteuropäischem Einschlag. Sicherheitsleute patrouillieren in Zweierteams zwischen den Häusern, im frisch gemähten Gras liegen schlafende Männer.

Hier und in einer anderen solchen Einrichtung werden seit Sommer 2015 Menschen aus sogenannten sicheren Herkunftsstaaten untergebracht, damit sie schnell wieder abgeschoben werden können – eine Reaktion auf die hohe Zahl der Ankommenden. Seit März 2016 wird in beschleunigten Asylverfahren entschieden, welche der Bewohner in Deutschland bleiben dürfen und welche nicht.

Viele dürfen nicht. Und viele derer, die dürfen, werden kaum Fuß fassen.

Hanifa Aljic, 25, und ihr Mann Dzevad Husejnovic, 38, sind Roma. Husejnovic sitzt im Gras und raucht, seine Kinder rennen über den Spielplatz. Sie pflücken Blumen, der Älteste schlägt den Jüngsten, sie schreien und weinen. „Sie haben zu viel Energie“, sagt Husejnovic. Im fränkischen Altdorf, wo die Familie gelebt hat, bevor die Flüchtlingszahlen im vergangenen Jahr so stark stiegen und sie in die Rückführungseinrichtung in Bamberg umziehen mussten, besuchten die drei den Kindergarten. Hier gibt es keinen Kindergarten. Und die Schulkinder, die hier leben, werden derzeit nicht ins Regelsystem integriert, sondern jahrgangsübergreifend in einem einzigen Raum unterrichtet.

Dzevad Husejnovic und Hanifa Aljic bekommen, statt des Bargeld-Satzes nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, nur noch Taschengeld und Sachleistungen – eine Regelung, die erst kurz zuvor abgeschafft worden war, wurde nun, unter dem Eindruck der neuen politischen Situation, wieder eingeführt.

Dienstags werden zwischen 13 und 14 Uhr Toilettenpapier und Shampoo ausgegeben. Essen gibt es dreimal täglich in der Kantine, mitnehmen darf man Brötchen und Joghurt. Die Wohnungstüren sind nicht abschließbar. Die neu geschaffenen Rückführungseinrichtungen sollen auch Menschen den Bleibewunsch nehmen.

So ist das deutsche Asylrecht durch politische Entscheidungen in den vergangenen Monaten zu einem fein abgestuften System von Integration und Ausschluss geworden. Ob jemand die Gelegenheit bekommt, wirklich ein neues Leben in Deutschland zu beginnen, hängt nicht nur vom individuellen Schicksal, sondern auch von vielen anderen Faktoren ab: Aus welchem Land sind die Menschen geflohen? Auf welchem Weg sind sie gekommen? Wann genau haben sie Deutschland erreicht? In welches Bundesland wurden sie geschickt? Und zusätzlich zu den politischen und rechtlichen Kriterien gibt es ein weiteres: Glück.

Ahmad Sai, der Mathematiklehrer aus Homs in Syrien, hatte es. Er, der in Syrien Schüler der Mittelstufe unterrichtete, darf jetzt noch einmal von vorne anfangen.

Yusuf Sadri aus Afghanistan in Zinnwald Foto: Steffi Unsleber

Für das Modellprojekt „Refugee Teachers Welcome“ in Potsdam, an dem er seit Ende April teilnimmt, hatten sich mehr als 600 Flüchtlinge aus Berlin und Brandenburg beworben, die in ihrem Herkunftsland als Lehrerinnen und Lehrer gearbeitet hatten. Es gab 60 Plätze. „Am Ende“, sagt Mitinitiator Frederik Ahlgrimm von der Universität Potsdam, „mussten wir das Los entscheiden lassen.“

Vor dem Jahr 2015 fanden Flüchtlinge nur langsam eine Arbeit, sofern sie eine annehmen durften. Nicht einmal jeder zehnte, der in Deutschland ankam, hatte nach zwölf Monaten einen Job. Nach fünf Jahren war etwa die Hälfte untergekommen, nach 13 Jahren 70 Prozent. Für die, die zum Nichtstun gezwungen waren, war das frustrierend. Der Staat konnte sich Arbeitsverbote leisten, weil relativ wenige Flüchtlinge kamen. Jetzt sind es viele. Und allein ihre Zahl hat eine normierende Kraft. Das Land kann es sich nicht leisten, dass so viele Menschen dauerhaft arbeitslos bleiben.

In diesem Jahr hat Deutschland rund 16 Milliarden Euro für Flüchtlinge ausgegeben, mehr als jemals zuvor. Das tat nicht weh, Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble konnte es aus Überschüssen des letzten Jahres bezahlen. Nicht einmal die schwarze Null im Bundeshaushalt kam in Gefahr. Es gibt nun eine ganze Integrations­industrie mit einer kaum überschaubaren Zahl an Beschäftigungspakten und Sprachkursen, Förderprogrammen und Assistenzangeboten. Es gibt viele Projekte wie jenes an der Uni Potsdam, die dafür sorgen sollen, dass Flüchtlinge möglichst schnell ihr eigenes Geld verdienen. Es sind nicht genug: 540 von 600 Bewerberinnen und Bewerber bekamen allein hier keinen Platz. Aber es gibt sie, in großer Zahl.

In den Lostöpfen mancher sind fast nur Nieten

Ahmad Sai lernt 24 Stunden pro Woche an der Universität Deutsch. Danach macht er im Übergangswohnheim in Teltow Tag für Tag noch einmal drei Stunden Hausaufgaben, an einem kleinen Tisch in der Mitte des Dreibettzimmers, das er sich mit zwei anderen Flüchtlingen teilt. Einen eigenen Schreibtisch hat er nicht, einen Laptop auch nicht, nur ein iPhone. WLAN gibt es nicht im Heim, das leer stand, bevor die Flüchtlinge kamen. Die Bedingungen sind karg. Aber Sai hat eine Perspektive.

Die Monate vor seinem Kurs hatte er als eine Phase der Zeitverschwendung erlebt, wie sie viele Flüchtlinge durchmachen. Er reiste im August 2015 über die Balkanroute nach Deutschland ein, auf der Flucht vor dem Einzug in den Militärdienst für Assads Armee. Seine erste Station war eine Turnhalle in Dortmund. „Schlecht“, sagt Sai, „wir hatten eine schlechte Heimleitung.“

Doch er hatte auch zu diesem Zeitpunkt schon Glück: Er wurde nach Brandenburg verlegt. Dort ging alles schneller. Bereits im Oktober 2015 wurde er als Flüchtling anerkannt.

Bei allen Regeln, Gesetzen und Bestimmungen ist vieles, was Flüchtlingen in diesem Land widerfährt, auch das Ergebnis eines Lotteriespiels. Was die verschiedenen Klassen von Flüchtlingen unterscheidet, ist, dass in den Lostöpfen der einen auch Gewinne sind, in denen der anderen aber vor allem Nieten.

Seit April hat Ahmad Sai nun systematischen Deutschunterricht. In seinem Heft erkennt man seine ordentliche Druckschrift. „Ich gehe, du gehst, er geht“. Deutschanfänger lernen erst einmal nur in Druckschrift zu schreiben, die Umstellung von der arabischen Schreibweise von rechts nach links auf die deutsche Links-rechts-Schreibung ist Umstellung genug. „Deutsch ist viel schwerer, als ich dachte“, sagt Sai. Aber ein Rentner, der einmal in der Woche ins Heim kommt, hilft ihm. Die Hilfe reicht nicht, um nicht doch noch manchmal „Ich esse“ und „ich aß“ zu verwechseln. Aber es geht gut voran.

Schnelle Asylverfahren, Sprachkurse, Integrationshilfen – Willkommenskultur: Das ist die eine Seite der deutschen Asylpolitik im Jahr nach dem großen Zuzug. Dazu kommt das große zivilgesellschaftliche Engagement freiwilliger Helferinnen und Helfer.

Die andere Seite zeigt sich bei den Flüchtlingen, die Deutschland eigentlich nicht haben möchte, aber auch nicht abschieben kann oder will. Menschen aus Westafrika oder vom Balkan etwa, aus Herkunftsländern, die von der Regierung als sicher definiert wurden. Sie stecken in endlosen Bürokratieschleifen fest und haben nur drei Optionen: warten, untertauchen oder zurückgehen.

Als Hanifa Aljic, die bosnische Romni, die heute in Bamberg lebt, zwei Jahre alt war, in der Zeit des Bosnienkriegs, brachen Menschen in ihr Haus ein, nahmen die Mutter mit und brannten das Haus nieder. Ihr Vater starb darin. Mit 17, während ihrer ersten Schwangerschaft, erkrankte sie an Schizophrenie, später wurde sie auf offener Straße vergewaltigt. Aljic und ihr Mann gingen mit dem ersten Kind nach Belgien. Als die Familie wegen einer Beerdigung zurück nach Bosnien reiste, verlor sie die Aufenthaltserlaubnis. Sie versuchten es in Bosnien, aber schafften es nicht. „Wir sind Roma“, sagt Dzevad Husejnovic. „Die Leute spucken auf uns.“ Also gingen sie nach Deutschland und beantragten dort Asyl.

Merkzettel „Arabisch“ von Grenzschützern in Passau, September 2015 Foto: Markus Schreiber/ap/picture alliance

Sein Asylantrag wurde abgelehnt, ihrer aber nicht, der Psychose wegen. Aber da das Paar gemeinsame Kinder hat, wird auch er nicht abgeschoben, solange über ihren Asylantrag nicht entschieden wurde. Die Familie lebt in Kettenduldung, seit dem Umzug nach Bamberg unter verschärften Bedingungen.

Nie wurden Flüchtlingsrechte in so kurzer Zeit stärker beschnitten als in den vergangenen Monaten. Acht Gesetzesveränderungen und Asylpakete gab es seit Merkels „Wir schaffen das“, die meisten davon zielen darauf ab, dass weniger Menschen hierher kommen und weniger von denen bleiben, die schon hier sind.

Die Familie von Mustafa Musto ist ein Beispiel dafür, was es für Menschen bedeuten kann, wenn mitten im Prozess die Regeln geändert werden.

Mustafa Musto ist Syrer wie Ahmad Sai, der Mathematiklehrer. Mit ein wenig mehr Glück wäre es Musto ergangen wie ihm. Nur wurden Musto und seine Kinder nicht nach Brandenburg verlegt, sondern nach Bonn. Und: Im März wurden auch die Bedingungen für syrische Flüchtlinge verschärft. Statt dem vollen Flüchtlingsschutz, den viele Menschen aus Syrien, Iran, Irak und Eritrea erhalten, könnte Musto nur den sogenannten subsidiären Schutz erhalten. Die Unklarheit darüber bestimmt seinen Alltag.

Die Aufgaben einer Mutter überfordern ihn

In Aleppo war Mustafa Musto, heute 46, ein reicher Mann. Sein Wort galt etwas. 200 Angestellte beschäftigte er in seiner Fabrik, sie bestickten Stoffe, die später zu Abendkleidern und Vorhängen verarbeitet wurden. Gemeinsam mit seiner Frau und den sechs Kindern lebte er in einem großen Haus.

Jetzt wohnt er mit seiner Tochter Alma in einer vollgestopften Einzimmerwohnung gegenüber des Flüchtlingsheims und ist überfordert, weil er für das kleine Mädchen und den Haushalt zuständig ist. Zu Hause war das die Aufgabe seiner Frau. Doch sie und drei weitere Töchter hängen in der Türkei fest. Und dürfen bislang nicht nachkommen.

Musto ist ein bulliger Mann, die dunklen Haare hinter der Stirnglatze trägt er so raspelkurz wie den grauen Bart. Auf seinem schwarzen T-Shirt prangt ein Krokodil.

Vor drei Jahren ist die Familie von Aleppo in die Türkei aufgebrochen. Musto leidet an Diabetes und einer schweren Netzhauterkrankung, seine Augen sollten in der Türkei operiert werden. Auf dem Weg wurde die Familie von Milizen erpresst und bedroht. Danach war klar: Ein Zurück gibt es nicht.

Die Familie reiste in die Nähe von Istanbul und blieb dort für zwei Jahre. Nach der Operation machte Musto sich mit der damals vierjährigen Alma und dem 17-jährigen Sohn Abdulah auf den Weg nach Deutschland. Für die ganze Familie hätte das Geld nicht gereicht. 13.000 Dollar zahlte Musto dem Schlepper, der sie in einem Schlauchboot nach Griechenland brachte. „Wir dachten, wenn Alma hier ist, dürfen ihre Mutter und die anderen bestimmt nachkommen“, sagt Musto. Von Griechenland ging es über die Balkanroute, „mit dem Bus, auf dem Fahrrad, zu Fuß“. In Ungarn wurden die Mustos registriert. Einen Monat brauchten die drei, um nach Deutschland zu kommen. Seit August 2015 sind sie hier.

Eine Syrerin gibt in Herford ihre Fingerabdrücke ab, Februar 2016 Foto: Wolfgang Rattay/reuters

Einen Monat lang waren die Mustos zu dritt in einer Notunterkunft in Schwerte untergebracht, dann in einer in Bonn. Zu dritt in einem Zimmer. Als Abdulah, der Sohn, 18 wurde, zog er zu anderen jungen Geflüchteten in eine Wohngemeinschaft.

Seit Mitte Mai lebt Musto mit Tochter Alma in der Einzimmerwohnung. Auf den 20 Quadratmetern am Rand von Bonn-Tannenbusch ist alles untergebracht, was sie zum Leben derzeit haben: ein metallenes Etagenbett, in dem Alma nicht schlafen will, weil sie Angst hat, herauszufallen; also schläft sie auf dem abgewetzten Sofa, er auf einer Matratze auf dem Boden neben ihr. Dazu ein kleiner Tisch, ein Herd, ein Kühlschrank, ein Trimm-dich-Rad und ein Fernseher; ein Stoffpanther, DVDs, Geschirr.

An einem Dienstagvormittag im Juli 2016, am letzten Tag des Ramadans, betreten Musto und seine Tochter Alma den Saal der katholischen Gemeinde St. Johann Baptist und Petrus in der Bonner Innenstadt. Die Fünfjährige springt auf den Schoß von Maysaa Najeeb, der Dolmetscherin. Sie schlingt die Arme um den Hals der Frau und legt ihr Gesicht an ihre Brust. Alma holt einen Kamm hervor und drückt ihn Najeeb in die Hand. Langsam kämmt diese die schulterlangen, gewellten Haare des Mädchens. „Alma vermisst ihre Mutter sehr“, sagt die Dolmetscherin. „Ich kümmere mich ein bisschen um sie.“

Anfangs hat Mustafa Musto einen Deutschkurs besucht, aber nach den Osterferien hat er ihn abgebrochen. „Das war zu viel“, sagt er langsam auf Deutsch. Dann fällt er wieder ins Arabische. Er klagt über sein Auge, mit dem er kaum noch etwas sieht, er sagt, er sorge sich um die Familie, und das Mädchen esse zu wenig und mache nachts ins Bett.

Seit fünf Monaten geht Alma ganz in der Nähe der Wohnung in den Kindergarten, das Mädchen lernt rasant Deutsch. Dem Vater aber fehlt der Antrieb, selbst einen Sprachkurs zu besuchen.

Sein größter Wunsch ist es, schnell den Rest der Familie nachzuholen, eine Arbeit zu finden und gemeinsam ein neues Leben zu beginnen. Aber er hat das Gefühl, dass nichts vorangeht. Er lebt wie in einer Warteschleife. Er sitzt viel zu Hause, manchmal schraubt er an kaputten Computern herum. „Damit kenne ich mich aus“, sagt er. Und dass er sich so etwas auch als Arbeit vorstellen könne.

Mustafa Mustos Aufenthaltstitel ist ein rosa-grünes Papier, eine Aufenthaltsgestattung, die bis November gültig ist. Inzwischen hat Musto eine sogenannte Dublin-III-Entscheidung erhalten. Weil sie in Ungarn registriert wurden, sollen Alma und ihr Vater in das Land zurück. Die Rechtsanwältin der Bonner Gruppe „Solidarität und Nächstenliebe“, die ehrenamtlich Asylbewerber berät, geht gerichtlich dagegen vor. Die Aussichten sind gut: Die zuständige Kammer des Kölner Verwaltungsgerichts ist der Ansicht, dass nach Ungarn nicht abgeschoben werden darf.

Seit 17. März gilt das Asylpaket II. Menschen mit sogenanntem subsidiären Schutz dürfen demnach zwei Jahre lang nicht ihre Familie nach Deutschland nachholen, Ehefrauen, Ehemänner, Kinder. Und seitdem bekommen auch viel mehr Syrer nur noch diesen Status. Im Juli waren es 55 Prozent der syrischen Bewerber.

Wird Mustafa Musto einer davon, müssten seine Frau und die drei Mädchen noch zwei weitere Jahre in der Türkei ausharren. Jude, die Älteste, wäre dann 18 Jahre alt. Für Volljährige gibt es keinen Familiennachzug mehr. Vieles spricht dafür, dass Musto als Flüchtling anerkannt wird. Doch es bleibt die Unsicherheit. Und die Untätigkeit lähmt und zermürbt ihn.

Ahmad Sai aus Syrien in Teltow Foto: Jutta Henglein-Bildau

Die Syrer sind schon weg. Er aber ist noch hier

Auch Yusuf Sadri wird in den nächsten Jahren vermutlich in Deutschland bleiben. Aber auch für ihn ist der Weg holpriger als für andere Flüchtlinge.

Sadri, 21, lebt in einer alten Zollstation in Zinnwald an der deutsch-tschechischen Grenze. Wenn sich der Nebel lichtet, glänzen die böhmischen Dörfer in der Sonne. In Zinnwald leben besonders viele Asylbewerber aus Afghanistan. Sadri spricht Usbekisch, Paschtu, Farsi und Türkisch. Deutsch kann er weder lesen noch schreiben. Früher, als auch Syrer da waren, gab es einen Deutschkurs. An dem durften die Afghanen zwar offiziell nicht teilnehmen, aber die Lehrerin unterrichtete sie trotzdem, wenn die Syrer nicht kamen. Die Syrer sind längst als Flüchtlinge anerkannt und sind weggezogen – nach Berlin, nach Frankfurt, nach Hamburg. Er aber, der Afghane, ist noch hier.

Petra Verhees kümmert sich ein wenig um die jungen Afghanen in Zinnwald. Sie hat zwei Söhne aufgezogen; wenn sie jetzt mit den Flüchtlingen spricht, hört man ihre Autorität. „Ihr müsst euch anschnallen“, sagt sie, als sie vier der Flüchtlinge in ihr Auto geladen hat. „Die Handys bleiben bitte in der Tasche, wenn wir am Tisch sitzen, ja?“ Die Männer nicken schüchtern.

Man könnte hier ein Haus für Flüchtlinge bauen

Verhees ist Mediatorin und unterrichtet ehrenamtlich Deutsch. Am Vortag hatte sie Geburtstag, es ist noch Himbeertorte da. Deshalb sind einige der Flüchtlinge heute bei ihr zu Hause, zum ersten Mal. Sie staunen über das riesige Grundstück am Wald, streicheln die Ziege. Die Katze kuschelt sich auf dem Gartenstuhl an einen der Besucher, ein anderer fürchtet sich vor dem riesigen schwarzen Hund, der allen die Hände ableckt, ein dritter steht im Gras, breitet die Arme aus und schlägt vor, hier ein Haus für Flüchtlinge zu bauen. Verhees lächelt und sagt nichts.

Einige Flüchtlinge im Ort konnten Praktika machen, Yusuf Sadri hat einen Job gefunden, bei einem Automobilzulieferer. Das Arbeitsamt hatte es zuerst verboten. Im August aber wurde, angestoßen von Arbeitsministerin Andrea Nahles von der SPD, in 133 der 156 Bezirke der Bundesagentur für Arbeit die sogenannte Vorrangprüfung ausgesetzt, mit der kontrolliert wird, ob deutsche Bewerber erst­rangig zu behandeln sind. Flüchtlinge, über deren Asylantrag noch nicht entschieden wurde, können so schon nach drei Monaten Aufenthalt leichter Zugang zum Arbeitsmarkt bekommen. In der Vergangenheit waren Geflüchtete oft an der Vorrangprüfung gescheitert. Im September kann Yusuf Sadri anfangen.

Und dennoch gelten für ihn als Afghanen erschwerte Bedingungen, genau wie für Pakistanis oder Sudanesen. Sie warten auf Bescheide, auf Ehrenamtliche, die Sprachkurse geben, auf das Interview. Welcher Klasse in Deutschland ein Asylbewerber angehört, entscheidet nicht unbedingt darüber, ob er bleiben darf und wie lange. Nach Afghanistan wird nicht abgeschoben. Aber die Klasse bestimmt, wie das Leben hier weitergeht.

In diesem Jahr hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bisher fast 62 Prozent aller Antragstellerinnen und Antragsteller Schutz gewährt. Das ist mehr als je zuvor. Die meisten, die kommen, stammen aus blutigen Diktaturen – wie etwa Eritrea – oder aus Kriegsregionen wie Syrien. Eigentlich müsste auch Afghanistan dazu zählen. 80.000 Afghaninnen und Afghanen baten bislang in diesem Jahr in Deutschland um Asyl, es war die zweitgrößte Gruppe nach der aus Syrien. Doch die Anerkennungsquote afghanischer Bewerber liegt bei nur 44 Prozent. Damit haben sie laut Behörden keine gute Bleibeperspektive – und bekommen deshalb etwa keine Integrationskurse. Eine gute Bleibeperspektive haben Menschen, die aus Ländern mit einer Schutzquote von mindestens 50 Prozent kommen.

So ist dem Mehr-Klassen-System im deutschen Asylrecht eingeschrieben, dass es sowohl Aufstieg als auch verordneten Stillstand gibt.

Das führt auch zu Konflikten und Missgunst. Wenn Yusuf Sadris Freunde sich über die deutschen Behörden beschweren, die den Syrern alles gäben und ihnen nichts, senkt er seinen Kopf und bedeckt seine Augen. Manchmal widerspricht er, manchmal geht er einfach eine Zigarette rauchen. Er sagt, er wolle in Deutschland nicht so viel mit Afghanen zu tun haben. „Warum soll ich immer mit Afghanen zusammen sein?“, fragt er. Aber dass es Unterschiede gibt, die zum Teil gewollt, teilweise vielleicht auch zwangsläufig sind, wenn nicht alle Ankommenden bleiben können, ist Fakt.

Hanifa Aljic und Dzevad Husejnovic mit ihren Kindern vor der Rückführungseinrichtung in Bamberg Foto: Peter Roggenthin

Mit drei Jahren ist Yusuf Sadri vom Dach seines Hauses gefallen. Sein rechtes Bein war gebrochen, es wuchs schief weiter und blieb kürzer als das andere. Mit neun wurde er in einer Klinik in der afghanischen Stadt Sar-i Pul operiert. Als er in sein Dorf zurückkam, hatten die Taliban seine Eltern und seine kleine Schwester getötet. Übrig waren er und sein kleiner Bruder.

Seine Tante sagte irgendwann: Du musst arbeiten, um zu überleben. Als Zehnjähriger lernte er, wie man eine Nähmaschine bedient. Nach drei Jahren hatte er genug gespart, um zurück in sein Dorf zu gehen. Aber im Haus seiner Eltern wohnte jetzt ein Taliban. Als er mit 13 sein Haus zurückforderte, wurde er zehn Tage eingesperrt. Immer wieder wurde er verprügelt, bis sie dachten, er sei tot. Sie packten ihn in ein Auto, fuhren ihn in ein anderes Dorf und warfen ihn auf einen Acker.

Sadri kam wieder zu sich. Er ging zur Polizei, aber die wollte sich nicht mit den Taliban anlegen. Er lieh sich von seinem Onkel 300 Dollar und ließ sich in den Iran schmuggeln. Dort wurde er Maler und Schweißer. Dann schob die iranische Polizei ihn ab. Er floh wieder, jahrelang war er unterwegs, über Pakistan, Iran, die Türkei, Griechenland und Ungarn kam er schließlich nach Deutschland.

In Kettenduldung "Wir sind Roma, die Leute spucken auf uns"Dzevad Husejnovic, Asylbewerber aus Bosnien in Bamberg

Es kann sein, dass er zurück nach Ungarn muss, weil er dort seine Fingerabdrücke gelassen hat. Drei Afghanen, die er kennt, wurden in Deutschland schon abgelehnt. Wenn er nicht bleiben kann, müsse er ein anderes Land finden, sagt Sadri. Nach Afghanistan kann er nicht zurück.

Vermutlich wird er mit einer Duldung in Deutschland bleiben, wo es ein eigentümliches Aufenthaltsrecht gibt, das die Anwesenheit von Menschen hinnimmt, ohne ihnen Rechte und eine echte Perspektive zu geben.

Der Vater ist deprimiert, der Sohn auf dem Sprung

Neu anfangen „Ich esse, ich aß – Deutsch ist viel schwerer, als ich dachte“Ahmad Sai, syrischer Mathematiklehrerin Teltow

In Bonn, wo die Mustos aus Aleppo leben, trifft sich die Gruppe „Solidarität und Nächstenliebe“ einmal in der Woche im Gemeindesaal von St. Johann Baptist und Petrus. 15 Geflüchtete sitzen im Halbkreis, die meisten der Männer stammen aus Syrien und dem Irak. Vorne steht eine Tafel für den Deutschunterricht, an der Wand hängt ein schlichtes Kreuz, darunter blubbert die Kaffeemaschine.

Hinter einem langen Tisch, auf dem sich Aktenordner und Notizblöcke stapeln, haben sechs Unterstützerinnen und ein Dolmetscher Platz genommen. Einer der Männer will wissen, wie er an einem Freitag vor neun Uhr zum Amt ins 100 Kilometer entfernte Burbach kommt. Ein anderer würde gerne unentgeltlich bei einem Schreiner mitarbeiten, bekommt aber keine Genehmigung; er fragt hier um Rat.

„Es dauert alles so lange“, sagt Tilly Dangmann-Sauer, die Gründerin der Gruppe, eine Psychologin. Sie hat Mustafa Musto bei vielem geholfen: bei der Wohnungssuche, der Organisation seiner Augenoperation, bei der Suche nach einem Kindergartenplatz für Tochter Alma. Musto aber kommt nun nur noch selten zu den Treffen. „Er zieht sich zurück“, sagt Dangmann-Sauer; „er ist deprimiert.“

Abdulah Musto dagegen, der Sohn, ist auf dem Sprung. Der 18-Jährige teilt sich mit einem jungen Afghanen ein Zimmer in einer WG, seit Februar besucht er ein Berufskolleg. 16 Stunden Deutschunterricht bekommt er pro Woche, dazu Politik, Mathematik, Wirtschaftslehre, auch Nahrungszubereitung. An diesem Tag hat die Klasse Plätzchen gebacken und Wörter wie „Haferflocken“ gelernt.

So hat Abdulah Musto schneller Deutsch gelernt als sein Vater; in einfachen Sätzen kann er ohne Dolmetscher von seinem Leben erzählen. Er habe eine Freundin, eine Christin, mit ihr gehe er manchmal am Rhein spazieren, sagt er und strahlt. Auch beim Aufenthaltstitel ist er weiter als Mustafa Musto: Obwohl Abdulah, wie sein Vater, in Ungarn registriert wurde, gab es bei ihm kein Dublin-Verfahren.

Und so gibt Deutschland ein Jahr nach „Wir schaffen das“ ein vieldeutiges Bild in der Flüchtlingspolitik ab: systematisch, überfordert, pragmatisch, idealistisch, knallhart.

Und zufallsgetrieben. Warum, das kann niemand im Umfeld der Mustos erklären – aber der Sohn, der unter den gleichen Voraussetzungen wie sein Vater nach Deutschland kam, ist längst als Flüchtling anerkannt.

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