Einstellungssache Auch im vermeintlich liberalen Norden sind die Rollenklischees auf dem Vormarsch: Leichte Beute für Reaktionäre
von Eiken Bruhn
Herrlich ist es, im liberalen Norden zu leben. Hier stellte die CDU schon 2004 einen offen schwulen Bürgermeister und niemand demonstriert wie in Baden-Württemberg gegen geschlechtliche Vielfalt und „Gender-Wahn“. Oder wenn doch, dann sind die Demonstrationen so klein, dass sie nicht weiter auffallen. Eltern, die sich um die psychische Gesundheit ihrer Kinder sorgen, wenn die erfahren, dass es Frauen gibt, die Frauen lieben? Ach, doch nicht bei uns.
Schön wär’s. Auch in Norddeutschland beschwören Menschen – meistens aus dem evangelikalen oder rechtspopulistischen Lager – das Ende der Zivilisation. Das drohe nämlich, behaupten sie, wenn der Staat seinen Auftrag erfüllt, die Gleichstellung der Geschlechter und sexuellen Identitäten umzusetzen.
Dabei sind diese Leute vielleicht nicht so laut wie in anderen Regionen und sie haben sehr viel weniger Rückhalt in der Kirche und der CDU – der eine Massenbewegung der „besorgten Eltern“ wie in Baden-Württemberg erst möglich gemacht hat.
Aber ihr Gift verspritzen sie dennoch. Und nicht alle merken es. So gelang es im vergangenen Jahr einem Anwalt aus Neumünster, eine sechsseitige Kampfschrift gegen das „Gender-Diktat“ in einer Publikation der Nordkirche unterzubringen (siehe SEITE 44). Und das inklusive einer persönlichen Diffamierung der Leiterin des Gender-Studienzentrums der Evangelischen Kirche in Deutschland. Die Redaktion hatte sich nicht daran gestört und wunderte sich über die vielen wütenden Leserbriefe.
Derselbe Anwalt erscheint als Verfasser eines Flyers, der in Schleswig-Holstein unter anderem in Kirchengemeinden ausgelegt worden war. In diesem warnt er vor einer „groß angelegten Umerziehung unserer Gesellschaft“, unterstützt von den „Verfechtern der Gender-Ideologie (hauptsächlich Feministinnen und die Homolobby)“. Der Stein des Anstoßes: Die schleswig-holsteinische Landesregierung hatte einen Bildungsplan der sexuellen Vielfalt geplant wie in Baden-Württemberg. Sollte der umgesetzt werden, heißt es im Flugblatt, seien bei Kindern „Persönlichkeitsstörungen nachgewiesenermaßen vorprogammiert“.
„Besorgte Eltern“
In Niedersachsen ist ein solcher Bildungsplan vor anderthalb Jahren beschlossen worden (siehe SEITE 45). Wie in Baden-Württemberg hatten zuvor Personen, die sich als „besorgte Eltern“ bezeichneten, gegen die vermeintliche „Frühsexualisierung“ protestiert. Angeführt wurde der Protest von der AfD und ihrer Jugendorganisation Junge Alternative. Die produzierten eigens ein 45-minütiges Video: Eine „Dokumentation“ zum „Gender-Plan – Revolution durchs Klassenzimmer“. Darin wird gemutmaßt, dass die „Zweigeschlechtlichkeit abgeschafft“ und ein neuer „Gender-Mensch“ geschaffen werden soll. Mit dem Fernziel, sich so den „idealen Untertan“ zu züchten.
Klingt irre – unterschätzen sollte man die „Gender-Kritiker“, wie sie sich selbst nennen, allerdings nicht, warnt die Theologin Ruth Heß, Gleichstellungsbeauftragte bei der Bremischen Evangelischen Kirche (Interview SEITE 44/45). Sie beobachtet die Szene seit 2004. Ihre Vertreter würden klug mit den Ängsten einer verunsicherten Gesellschaft spielen und sich als von einer Minderheit unterdrückte Mehrheit gerieren. Das, so argumentiert Heß, gelinge ihnen auch deshalb, weil selbst Menschen aus dem Gleichstellungs-Business mit dem Begriff „Gender“ zu unreflektiert umgingen. So seien AfDler alles andere als „Gender-Kritiker“, weil sie Menschen gendern und ihnen vorschreiben, wer sie sein sollen und wen sie lieben dürfen.
Es wäre aber vermessen zu behaupten, die Rolle rückwärts zu klar definierten Rollen für beide Geschlechter wollten allein „die anderen“, die Rückständigen. Nach klaren Regeln und Zuordnungen verlangt es viele Menschen. Anders ist nicht zu erklären, warum die Spielzeug- und Kleidungsindustrie so erfolgreich darin ist, Produkte zu verkaufen, die sich entweder ausschließlich an Mädchen oder an Jungen richten. So hielt vor Kurzem auf einem Bremer Flohmarkt eine Frau ratlos ein beiges Babyjäckchen hoch. „Ist das für Jungs oder für Mädchen?“, fragte sie die Verkäuferin.
Skelette mit Schwertern
Ein seltener Fall. Denn in der Regel weisen Farbe, Schnitt oder Aufdrucke ganz klar darauf hin, für welches Geschlecht das Kleidungsstück vorgesehen ist. Da weiß man gar nicht, wen es schlechter getroffen hat. Vierjährige, die T-Shirts mit Aufdrucken wie „You are the sweetest“ und „Top Model“ tragen müssen. Oder „Be brave and stay cool“ und Skelette, die mit Laserschwertern kämpfen.
Es gab mal andere Zeiten. Als Kinder Kindersachen anziehen konnten. Noch vor 20 Jahren wäre die Geschlechterdifferenz nicht so unübersehbar schon bei Kinder zur Schau gestellt worden, sagte die Soziologin und Psychoanalytikerin Ilka Quindeau vor einer Woche im taz-Interview. Heute bekämen selbst Säuglinge Spielzeug in Rosa oder Hellblau.
Sie ist nicht die einzige, die diese Entwicklung beobachtet. Dabei geht es nicht nur um Farben. In Spielzeuggeschäften gibt es in der Regel ein Jungs- und ein Mädchenfenster. Auf der einen Seite: Spielsachen für die Tätigkeiten Kümmern, Kochen, Putzen, Schönmachen. Auf der anderen Seite: Erforschen, Bauen, Bewegen, Kämpfen.
Oder Kinderräder: Die für Mädchen sind nicht einfach nur rosa, sondern haben häufig eine andere Form. Eine, die dazu einlädt, nicht schnell und sportlich zu fahren, sondern aufrecht und bedächtig.
Klar, ist alles angeboren, war bestimmt in der Steinzeit schon so. Jungs lieben Autos, Mädchen ihre Puppen. Ausnahmen bestätigen nur die Regel. Wer Kinder hat, weiß, wie man auf solche Ideen kommen kann. Das Verhalten, das als geschlechtskonform erlebt wird, fällt auf. Weil Menschen nach Ähnlichkeiten, nach Mustern suchen, die Sicherheit geben. Deshalb machen auch Personen Angst, die sich nicht eindeutig zuordnen lassen.
Wie tief dieser Wunsch nach Eindeutigkeit sitzt, merken auch diejenigen, die sich für besonders geschlechtersensibel halten. Da registriert die studierte Feministin zu ihrer Irritation, wie begeistert ihr Anderthalbjähriger jedes Auto und jeden Bagger begrüßt. Aber sieht sie auch, wie oft er seine Puppe füttert? Oder Vögel beobachtet?
Wer möchte, findet für alles eine biologische Begründung: Bestimmt verhindern Hormone, rechtzeitig zu erkennen, wann die Toilette geputzt werden muss. Andere Geschlechter-Klischees haben sich hingegen als unwahr erwiesen.
Es gibt zwei Geschlechter: und in zahlreichen Kulturen mindestens ein drittes Geschlecht. Manche Wissenschaftler_innen vertreten die These, auch in Europa sei die Zweigeschlechtlichkeit nicht immer Dogma gewesen.
Frauen können nicht einparken, weil sie nicht räumlich denken: Lässt sich durch Versuche nicht belegen. Zudem scheint die Selbsteinschätzung eine große Rolle zu spielen. Wer glaubt oder wem glauben gemacht wird, etwas nicht zu können, schneidet schlechter ab.
Männer sind besser in Mathematik: nicht grundsätzlich. In manchen Regionen sind Mädchen deutlich besser als Jungen – vermutlich dann, wenn sie sich davon etwas versprechen, gut bezahlte Jobs in der Stadt zum Beispiel. Häufig halten sich Frauen auch einfach für weniger begabt – weil sie Frauen sind. Am Beispiel Mathematik zeigte das ein US-Sozialpsychologe: Erfuhren die Probandinnen vor einem Test, dass ihre Ergebnisse mit denen von Männern verglichen würden, erzielten sie schlechtere Ergebnisse. Dieser Effekt trat auch dann ein, wenn sie vorher Werbefilme mit Frauen in stereotypen Rollen gesehen hatten.
Mädchen lieben einfach Rosa: stimmt, aber manche Jungs auch. Und noch im vergangenen Jahrhundert galt Blau als Mädchen- und Rot und Rosa als Jungenfarbe.
Genies sind männlich: Bemerkenswert ist, wie viel häufiger Männer für Forschungsarbeiten und kulturelle Erzeugnisse ausgezeichnet werden. Zudem bekamen Frauen bis ins 20. Jahrhundert für Erfindungen oder Kunstwerke keine Anerkennung. Patente etwa konnten lange nur ihre Ehemänner anmelden.
Mädchen sind so weinerlich: Versuche zeigen, das das Verhalten eines Babys unterschiedlich interpretiert wird. Hält man es für ein Mädchen, wird Erschrecken als ängstlich bewertet, einem Jungen wird Ärger unterstellt. Das prägt Kinder von den ersten Stunden an.
Aber Männer und Frauen sind nicht völlig gleich: mag sein. Aber die Unterschiede innerhalb der Geschlechter sind wesentlich größer.
Und warum, fragte sich die Leiterin eines Bremer Kindergartens, unterstellt sie eigentlich nur kleinen Jungs einen Bewegungsdrang? „Wenn wir viele Anmeldungen von Jungen haben, denken wir sofort: ‚Oh, jetzt müssen wir ganz viel rausgehen und können nicht mehr so viel basteln‘.“
Und was ist mit den Jungs, die nicht gern toben und kämpfen? Die eigentlich auch gern mal heulend zur Lehrerin laufen würden, wenn sie sich mit Gleichaltrigen gestritten haben? „Mädchen sind ja immer so zickig, wenn sie streiten“, sagte neulich eine Mutter von zwei Mädchen. „Jungs machen das immer so gemütlich untereinander aus, die wollen keine Hilfe von Erwachsenen.“
In so einer Einschätzung kommt auch etwas zum Tragen, was viele nicht wahrhaben wollen: dass die Geschlechterdifferenz heute immer noch mit einer Abwertung des Weiblichen einhergeht.
Wunder Punkt
Das sitzt genauso tief wie das Verlangen nach zwei klar voneinander abgegrenzten Geschlechtern. Manchmal kommt es ganz ungeschminkt zum Vorschein wie in dieser Aussage einer Freundin: „Schwangerschaftsübelkeit ist besonders ausgeprägt, wenn man ein Mädchen erwartet.“
Es gibt viele solcher Beispiele. Und deshalb treffen die Genderisten einen ziemlich wunden Punkt, wenn sie behaupten, Gleichstellung würde vom Staat verordnet und sei nicht „vom Volk“ gewünscht.
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