Musik für alle in Mecklenburg-Vorpommern: Der Klang der Brache
Musik am Bau Die am 17. Juni startenden Festspiele Mecklenburg-Vorpommern setzen auf Industrie- und Wissenschaftsorte mit Licht-Klang-Collagen im Magnetfeldkäfig und Exkurse in die Geschichte der DDR. Alles mitgestaltet von der eigenwilligen Residenzgeigerin Vilde Frang
Schwerin taz | „Mit jedem Auto, das wir bauen, retten wir den Weltfrieden.“ Klingt wie ein frisch entsorgter Slogan von VW, stammt aber aus der Ex-DDR. Aus den 1950er-Aufbaujahren, als man noch glaubte, eine auch wirtschaftlich funktionierende Alternative zum Kapitalismus zu bauen.
So war es auch in den Schweriner „Vorwärts“-Hallen, 1948 auf Befehl der sowjetischen Besatzer als Reparaturwerkstatt für militärische und zivile Lkw in Auftrag gegeben; später wurden dort auch Trabis repariert. Das einst riesige Werk war einer der Vorzeigebetriebe der DDR; Reparatur am Fließband war damals der letzte Schrei.
Heute ist es eine Industriebrache: Die Hallen sind zu morbiden Glas- und Stahlskeletten geworden. Das alles in Rufweite des Schweriner Zentrums und inmitten idyllischer mecklenburgischer Landschaft.
Dass das nicht so bleiben kann, ist allen klar. Konkrete Beschlüsse gibt es aber nicht. Und damit zumindest die Geschichte des nach 1989 zerlegten und verkauften Werks hörbar wird, geht das 26. Festival Mecklenburg-Vorpommern jetzt einen ersten Schritt: Es bespielt die Gebäude in der Reihe „Unerhörte Orte“, die diesmal auf Industrie- und Wirtschaftsbauten setzt.
Drei Monate lang – vom 17. Juni bis zum 17. September – bietet das 1990 gegründete Festival Mecklenburg-Vorpommern 133 Veranstaltungen an 74 Spielstätten.
Zu den Programmschwerpunkten zählen die „Unerhörten Orte“, die Reihe „360 Grad Klavier“, die „Pavillons der Jahrhunderte“, das „Sängerfest der Jungen Elite“, die „Landpartie“ sowie das „Musikfest Wismar“.
Unter den geladenen Künstlern sind die Dirigenten Christoph Eschenbach und Kent Nagano, die Geiger Daniel Hope und Nigel Kennedy, die Cellistin Sol Gabetta, die Pianisten Igor Levitt und Hélène Grimaud sowie der Schauspieler Ben Becker.
Information: www.festspiele-mv.de
Denn über diesen Aspekt der Region wissen die West-Touristen genauso wenig wie viele Einheimische. Das hat die Macher gereizt. Sie wollen den Klang der Orte erlauschen und etwas hinzufügen, auf dass eine Raum-Klang-Installation entstehe.
Eine der interessantesten Recherchen ist bei den „Vorwärts“-Hallen herausgekommen: Minutiös hat sich Ralph Reichel, Chefdramaturg des Mecklenburgischen Staatstheaters Schwerin, durch Archive und Akten gewühlt, um die Entwicklung des einstigen KFZ-Instandsetzungswerks (KIW) zu verstehen. Da wäre einmal die faktische Chronologie. Dann deren Politisierung in Form offizieller Verlautbarungen aus Betriebszeitungen; das anfangs zitierte Bonmot von den „Autos für den Weltfrieden“ zählt dazu.
Und um die Umsetzung der politischen Version anhand konkreter Biografien zu überprüfen, sprach Reichel im letzten Schritt mit Menschen, die einst in den „Vorwärts“-Hallen arbeiteten: Ein Ingenieur, der von Anfang an dabei war, sowie zwei Monteure, die in den 1970er- und 1980er-Jahren dort anfingen, haben Erinnerungen und Reflexionen auf Bänder gesprochen.
Die wird Reichel für den Konzertabend zu einer 30-Minuten-Collage zusammenschneiden. Während die Schauspielerin Anna Thalbach die Texte liest, dürfen die Besucher dann in den Hallen herumgehen und den Raum erspüren.
Dabei geht es wohlweislich nicht um DDR-Nostalgie. „Wir wollen den Besuchern vielmehr ein Gefühl für eine Entwicklung vermitteln“, sagt Reichel. Denn es gehe ja nicht nur um diese konkrete Fabrik. Die Genese der „Vorwärts“-Hallen stehe für die ganze DDR. „Thema meiner Collage ist die Entwicklung von Hoffnung über Stagnation und Zweifel bis zur Abwicklung und individuellem Neubeginn“, sagt er.
Aber DDR bedeutet nicht nur Abwicklung: Die inzwischen vom Max-Planck-Institut betriebenen Kernfusions-Experimentieranlagen Wendelstein 7-X in Greifswald laufen weiter. Vor einem halben Jahr wurden sie berühmt, weil sie weltweit erstmals Helium- und Wasserstoff-Plasma erzeugt hatten.
Zentrum der Anlage ist ein kreisförmiger Magnetfeldkäfig. Er ist durch eine Tür von den Hallen getrennt, die man für das Konzert öffnen will. Womit das Labor mit seinen fast künstlerisch verschlungenen Röhren zur Konzertkulisse wird. Die dazu gespielten teils klassischen, teils jazzig-experimentellen Stücke von Komponisten wie Ugis Praulins und Vytautas Miskinis handeln vom Licht – dem bestmöglichen Link zwischen Naturwissenschaft und Kunst.
Und auch wenn Festival-Chef Markus Fein die „Unerhörten Orte“ nicht bloß als Label nutzen will, verschwimmt die Grenze zum Marketing schnell. Besonders auffällig ist das beim Korbwerk Heringsdorf, der ältesten Strandkorbmanufaktur Deutschlands.
Das Werk ist noch in Betrieb, die Konzertakustik eher mäßig, aber darauf kommt es auch nicht an: Flanierend sollen die Besucher auch diese Räume erkunden, in jeder Ecke eine andere Musik hören und sich am maritimen Flair ergötzen. Und am durchaus ambivalenten Programm, das neben Werken der zeitgenössischen russischen Komponistin Sofia Gubaidulina diverse Seemannslieder bietet. Natürlich nicht zur gleichen Zeit am gleichen Ort. Aber die Kombination ist kühn und zeugt vom unbedingten Willen, ein breites Publikum zu bedienen.
Mit solch basisdemokratischen Idealen ist auch die diesjährige Residenzkünstlerin aufgewachsen: Die 29-jährige Geigerin Vilde Frang stammt aus Norwegen, und dort gibt es – wie in Schweden – ein ungeschriebenes Gesetz, das ihre Karriere durchaus hätte bremsen können: das „Janteloven“, einen Verhaltenscodex, der Bescheidenheit predigt, das Kollektiv über das Individuum stellt und Leistungsdruck insbesondere für Kinder ablehnt.
Das habe sie, die als Zehnjährige mit dem norwegischen Rundfunkorchester spielte und später bei Anne-Sophie Mutter lernte, sehr genervt, sagt Vilde Frang. „Ich wollte schon als Vierjährige nichts anders als musizieren“, erzählt sie. „Aber ich bin auch faul und freue mich, dass meine Eltern mich zum Üben drängten.“ Und diese ganzen Leute – Konzertbesucher, Schullehrer, alle – die fragten, ob sie nicht zu viel Druck bekomme und ob sie auch genug Spaß habe: „Die habe ich gehasst. Ich dachte, die verstehen gar nichts“, sagt Vilde Frang. Denn Geigen ist für sie „so notwendig und selbstverständlich wie Zähneputzen. Es ist Teil meiner Persönlichkeit.“
Einer eigenwilligen außerdem: Frang, die schon 2010 bei den Festspielen gastierte und damals den Solistenpreis bekam, fragt nicht groß, welche Komponisten ihre Agentur für marktgängig hält. Sie spielt unverdrossen Werke von Korngold, Schönberg, Britten. Aber sie weiß auch, was sie meidet: das berühmte Violinkonzert von Beethoven. „Das ist mir zu versöhnlich“, sagt sie. „Ich bin noch in der Kämpferphase. Und um allen vergeben zu können, muss ich noch ein paar mehr graue Haare haben.“
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