Haltung Schweinefüße liegen vor Moscheen, Politiker bestehen auf Schweinefleisch in Kantinen – das Schwein wird zum Symbol. Über selbsternannte Kulturschützer, falsche Freunde und echte Liebhaber: Die arme Sau
Von Jörn Kabisch
Donnerstag, 26. November 2015: Ein Lkw-Fahrer aus Westfalen kauft einige Stücke Schweinefleisch und befestigt sie an seinem Wagen. Er nimmt das auf Video auf und sagt: „Mensch, guck dir das mal an. Da steigt kein Moslem mehr drauf.“
Mittwoch, 24. Februar 2016: Spaziergänger entdecken auf dem Baugelände einer Leipziger Moschee ein totes Schwein. Jemand hat in roter Farbe „Mutti Merkel“ darauf geschrieben.
Montag, 29. Februar 2016: Der bayrische AfD-Vorsitzende Petr Bystron fordert „weiter Schweinefleisch“ in Kitas und Schulen. Maultasche oder Wiener Würstchen dürften für den Speiseplan kein Tabu sein.
Mittwoch, 9. März 2016: Der Landtag von Schleswig-Holstein diskutiert einen Antrag der CDU „insbesondere Schweinefleisch auch weiterhin im Nahrungsmittelangebot sowohl öffentlicher Kantinen als auch in Kitas und Schulen“ zu erhalten, „der Minderheitenschutz – auch aus religiösen Gründen“ dürfe nicht dazu führen, dass eine Mehrheit aus falsch verstandener Rücksichtnahme nicht mehr über ihr Essen bestimmen dürfe.
Das Schwein macht gerade eine rasante Karriere. Eigentlich ist es die negative Chiffre schlechthin. In Deutschland wird man kaum Wörter finden, mit denen häufiger beleidigt wird als mit den verschiedenen Erscheinungsformen des Schweins. „Du Ferkel“ ist noch die freundlichste von ihnen, eine Ermahnung an schmutzige Kinder. Aber nun wird das Tier in den Angststau der Debatten über Willkommenskultur, Integration und Islamisierung hineingetrieben. In der dänischen Stadt Randers hat die Dänische Volkspartei kürzlich sogar durchgesetzt, dass Kantinen öffentlicher Einrichtungen künftig Schweinefleisch anbieten müssen.
Warum verwandelt sich ausgerechnet die Drecksau von früher zum Frontschwein eines von Rechtspopulisten und Konservativen geführten Kulturkampfes zwischen Westeuropäern und neu ankommenden Muslimen? Was macht das Schwein für die Verteidiger des Abendlandes zum Wappentier?
Um das zu verstehen, muss man zum Fettfleck Deutschlands reisen. Versmold, Ostwestfalen-Lippe, 21.000 Einwohner an der Hangkante des Teutoburger Waldes. Alte Alleen, große Fachwerkhöfe, Lastwagen in Kolonne. Auf ihren Anhängern steht „Mięso“, „Vlees“, „Kød“. Das heißt „Fleisch“, auf Polnisch, Niederländisch, Dänisch.
60 Kilometer sind es bis zum Ruhrgebiet, drei der zehn größten deutschen Fleischverarbeiter haben hier ihren Sitz: Nölke, Wiltmann und Reinert, die Firma mit der Bärchenwurst. Deshalb die Bezeichnung Fettfleck Deutschlands.
Wiltmann hat eine gläserne Produktion. Durch Schaufenster kann man beobachten, wie Männer in weißen Gummistiefeln Berge von Fleisch zu den blitzenden Kuttern bringen, kreisrunde Wannen aus Edelstahl, in denen Klingen wirbeln. Die Männer schaufeln Eis dazu, gegen die Hitze, die entsteht, wenn Schwein zu Wurstfülle wird.
Kassler als saftiger Beweis des Wohlstands
In Städten wie Versmold begann der Siegeszug des Schweins durch Deutschland. Hier, halbrund um das Ruhrgebiet, verläuft der sogenannte Schweinegürtel, der Landstrich, in dem die meisten Sauen, Eber und Ferkel gehalten werden.
Hier begann die Verwandlung der Schweine. Früher waren sie langbeiniger, behaarter, magerer. Sie sahen mehr nach Wildschwein aus. Im Winter wurden sie mit Essensresten gefüttert, im Sommer in den Wald getrieben, um Eicheln und Bucheckern zu suchen.
Das änderte sich Ende des 19. Jahrhunderts. Künstlicher Dünger und die leeren Mägen der Männer im Revier führten zu einer landwirtschaftlichen Revolution. Schweinefleisch wurde für die Arbeiterklasse zu einem Ausweis von Lebensqualität, vor allem Sozialdemokraten sorgten sich damals sehr um die Fleischpreise. Die Industrialisierung, die aus kleinen Käffern zwischen Dortmund und Duisburg Boomtowns machte, führte zu Rationalisierung in der Tier- und Fleischproduktion. Franz Wiltmann meldete 1900 das erste Reichspatent für eine Schweinefalle an, eine Apparatur, um Tiere im Schlachthaus von der Herde zu vereinzeln und festzusetzen. So ließ sich der Bolzenschuss zur Betäubung genauer und vor allem schneller ansetzen.
Das Schwein war also einmal ein Sinnbild für Aufstieg, Speck und Kassler der saftige Beweis für den Wohlstand des kleinen Mannes. Da ist es nicht abwegig, anzunehmen, dass vielleicht gerade die, die sich als Verteidiger der „normalen Leute“ sehen, es als Abstieg werten, wenn auch nur ein Schnitzel von der Speisekarte verschwindet. Als Zeichen, dass sie den Kampf um Geliebtes und Gewohntes nicht nur gegen Muslime, sondern auch gegen Vegetarier und andere Gesundesser verlieren könnten.
Dass Schwein mit Aufstieg und Wohlstand der deutschen Mehrheitsgesellschaft verbunden ist, liegt in der Nachkriegszeit begründet. „Noch bis in die 60er Jahre roch die ganze Stadt wegen der Räuchereien nach Salami, es war auch noch nicht lange her, dass das Wasser im Rinnstein rot gefärbt war, wenn geschlachtet wurde“, erzählt Richard Sautmann. Er führt in Versmold ein Antiquariat und ist Historiker. Man kann mit ihm Stunden über die Entwicklung der Versmolder Fleischindustrie reden. Lange schlachteten viele Bauern noch selbst für die Wurstfabrikation. Doch je weiter weg das Kriegsende rückte, desto mehr verlangte die reicher werdende Bundesrepublik nach erschwinglichem Fleisch.
Wirtschaftsminister Ludwig Erhardt von der CDU zitiert 1957 in seinem Essay „Wohlstand für alle“ einen Briefeschreiber, der den hohen Fleischpreisen zu Leibe rücken möchte: „Herr Wirtschaftsminister, ich habe in Brüssel Verwandte, die Großschlächter sind, die das frisch geschlachtete Schweinefleisch, vom Trichinenbeschauer abgenommen, pro Kilo für DM 1,50 bis Grenze Aachen liefern. Bitte, Herr Wirtschaftsminister, bringen Sie mich mit Großabnehmern in Verbindung und unsere Bundesbürger können Schweinefleisch auch bei noch so schmalem Lohn essen.“
Ein Kilo Nacken für 3,99 beim Discounter
Mit der industriellen Aufrüstung der Wurstfabriken wird dieser Traum Wirklichkeit. Und wir träumen ihn noch immer. Ein Kilo Nacken kostet beim Discounter 3,99 Euro im Mittel, also nur halb so viel, wie Paprika oft in den Wintermonaten ausgepreist wird. Deutschland ist ein Schweinefleischland.
Ein Schweinefleischland, in dem man keine Schweine sieht. Selbst in Versmold sind die Fleischfabriken ins Umland gezogen, die Luft ist frisch. Allein der Wurstträgerbrunnen verweist auf die Geschichte: ein Ensemble aus drei Schweinen und einem Metzger. Zwei betrachten neugierig die Stange mit Geräuchertem in seinen Händen, das dritte rennt ihn von hinten um. Ob böse und rachsüchtig oder wie ein übermütiges Haustier, ist nicht zu erkennen. Ein zwiespältiges Bild.
Über 50 Millionen Tiere schlachten Betriebe wie die in der Gegend um Versmold pro Jahr, gemästet werden sie meist in abgeschirmten Stallanlagen, in denen über 1.000 Tiere stehen. Weltweit liegt Deutschland an dritter Stelle, nur China und die USA produzieren noch mehr Schwein. Wenn die Deutschen Fleisch essen, wenn sie grillen, ist es meistens Schwein, 38 Kilogramm im Jahr, fast doppelt so viel wie Rind, Lamm und Geflügel zusammen. Der Pro-Kopf-Verbrauch ist EU-weit nur in Spanien noch höher. Ein Großteil der mehrheitsdeutschen Koch- und Esskultur basiert auf Schweinebraten und Thüringer Bratwurst, Schwein ist Mainstream. Und der erlebt gerade eine Krise.
Viele Kindertagesstätten bieten heute weniger Schweinefleisch an, weil auch nicht-muslimische Eltern etwas anderes für ihre Kinder möchten. Abgesehen von den Ekelhaftigkeiten der Schweinehaltung wollen viele Verbraucher kein Fleisch mehr, das nach kaum etwas schmeckt und in der Pfanne zu schwimmen anfängt. PSE-Fleisch, die Abkürzung steht für pale (bleich), soft (weich), exudative (wässrig).
Doch nicht nur eine Esskultur steht infrage, sondern auch eine überkommene Art des Wirtschaftens mit schweren Folgen für Tier, Mensch und Natur. Wegen der Medikamente, des hohen Wasserbrauchs, der Tonnen von Gülle, die das Grundwasser verseuchen. Infrage steht der sogenannte Schweinezyklus. In mageren Zeiten investierte die Fleischindustrie ihre Rücklagen in die weitere Technisierung von Ställen und Produktion, um bald noch mehr, noch billiger zu produzieren.
Eine gewisse Sehnsucht nach einer wirtschaftlich angeblich erfolgreicheren Vergangenheit ist gerade ein Erfolgsthema der Rechten, besonders der extremeren. Während Donald Trump die USA wieder groß machen möchte, kopiert die AfD in ihrem kürzlichen geleakten Programmentwurf einfach Ludwig Erhardt und die 50er Jahre: „Ziel ist Wohlstand für alle.“ Das Schwein symbolisiert quasi die Wehmut, weil es für viele in Deutschland so aussieht, als würden die Versprechen der sozialen Marktwirtschaft nicht mehr eingelöst. Mancher trauert aber auch einfach, weil nicht mehr so viele Schornsteine rauchen wie früher.
Selbst das seit Jahrzehnten erfolgreiche deutsche Schweinesystem funktioniert nicht mehr reibungslos. Für Fleischverarbeiter wie Wiltmann oder Tönnies wird der Export immer schwieriger. Das spüren bisher vor allem die Schweinehalter. Es gibt nur noch halb so viele Betriebe wie vor zehn Jahren, es sind meist die kleineren, die dichtmachen müssen. Im vergangenen Jahr sind die Schweinebestände das erste Mal nach fünf Jahren Wachstum zurückgegangen. Die gegen Russland wegen der Annexion der Krim verhängten EU-Sanktionen spürt vor allem die Fleischwirtschaft – die putinophile AfD lehnt übrigens jegliche Wirtschaftssanktionen ab. Dazu kommt: China, weltweit lange das Land mit dem unbändigsten Hunger auf Schwein, produziert das Fleisch selbst immer besser – während die Chinesen den Appetit verlieren.
Richard Sautmann, Historiker in Versmold
„Keine Wurst ist illegal“, steht auf dem Plakat
Der Ruf nach staatlicher Hilfe wird in Europa lauter. Frankreich, das Land, in dem Schwein gleich auf Rang zwei hinter dem geliebten Bœuf liegt, hat vor wenigen Wochen einen Solidaritätsfond für Schweinehalter ins Leben gerufen. In der EU wird über Prämien für Lagerhaltung nachgedacht, um überschüssiges Fleisch vom Markt zu nehmen. Europäische Politiker und nicht nur Rechte kämpfen dafür, dass die billigste Esskultur nicht unter die Räder kommt.
Man könnte darüber lachen. Wäre da nicht der Lkw-Fahrer aus Nordrhein-Westfalen, das tote Schwein in Leipzig. Oder dieses Plakat auf einer AfD-Demo Anfang November in Berlin: „Keine Wurst ist illegal – Schweinefleisch überall“.
Er habe auf Facebook auch Postings mit dem Vorschlag gelesen, Schweineblut in Wasserpistolen zu füllen, erzählt Thomas Macho. Damit sollten Muslime erschreckt werden. Das, sagt er, „gab es seit dem Mittelalter nicht mehr“.
Thomas Macho ist Kulturwissenschaftler an der Berliner Humboldt-Universität. Seit Jahren beschäftigt er sich mit dem Schwein, in der Literatur, in der Malerei, in der Alltagskultur. Das Schwein ist eine Chiffre für so vieles: Glückssymbol, Sexualität bis an die Grenzen der Obszönität, für Unreinheit und Misswirtschaft. Warum gerade dieses Tier? Im vergangenen Jahr hat er ein neues Buch veröffentlicht.
Dass das Schwein so als Mittel zur Distinktion gebraucht wurde, wie es gerade passiert, das sei ein paar Jahrhunderte her. Macho erinnert vieles, was er in diesen Tagen hört, an die „Judensau“, ein verunglimpfendes Motiv, das im Hochmittelalter in Reliefs, Skulpturen und Bildern aufkam. Zumeist zeigen sie, wie mit spitzen Hüten als Juden gekennzeichnete Menschen an den Zitzen einer Sau trinken oder sich am Hinterteil zu schaffen machen. Natürlich bedienten sich später die Nazis dieses Stereotyps.
Weil das Schwein in der jüdischen Religion als unrein gilt, hatten Juden auf einer Schweineschwarte zu stehen, wenn sie gegenüber Christen in einem Rechtsstreit einen Eid leisten mussten. So verlangte es der Sachsenspiegel, im 13. Jahrhundert ein bedeutendes Gesetz.
Schweinen wurde vor Gericht der Prozess gemacht
Das Schwein war in Europa beides zugleich: Grundnahrung für breite Teile der Bevölkerung und ein Opfertier, dem Schuld aufgeladen wurde. Bis in die frühe Neuzeit musste das Schwein als Sündenbock herhalten. Tieren wurden immer wieder der Prozess gemacht, wenn aus irgendeinem Grund ein Delinquent gebraucht wurde, und auffällig oft wurden Schweine auf die Anklagebank geführt. Die Prozesse wurden ernsthaft betrieben: mit Zeugenbefragung, oft schriftlichem Urteil, Folter und Todesstrafe inklusive.
Was den Kulturwissenschaftler am Schwein interessiert, ist seine Ambivalenz. „Dieses Tier ist uns nah und fern zugleich“, sagt er. Der Mensch hat früh ihre Intelligenz erkannt, ihr Sozialverhalten, die Emotionalität, die Schweine an den Tag legen können. Die Tiere erkennen sich selbst im Spiegel, hören auf Namen und können mit einem Joystick Computerspiele spielen. „Sie scheinen wie Doppelgänger. Aber Doppelgänger sind uns zugleich unheimlich.“ Treffend, sagt er, hat das George Orwell in „Die Farm der Tiere“ thematisiert. Da ist das Schwein die menschlichste und zugleich böseste Figur.
Diese Ambivalenz sei aber vor allem in Nordeuropa so stark ausgeprägt. Im pazifischen Raum, sagt Thomas Macho, werde dem Tier großer Respekt entgegengebracht. Es gilt vor allem als Glückssymbol. Die Verehrung geht allerdings nicht so weit, dass das Tier nicht gegessen würde – anders als die Kuh im Hinduismus.
In der muslimischen Welt dagegen spiele das Schwein keine große Rolle, sagt Macho. „Wenn man den Koran liest, dann taucht das Schweinefleischverbot irgendwo in einem Nebensatz auf.“
Bis heute suchen Wissenschaftler nach den Gründen, warum schon viel früher, im Alten Testament, das Schwein vom jüdischen Speisezettel verbannt wurden. Die lange gängige Erklärung, Schweinefleisch könne Trichinellose übertragen, eine Fadenwurminfektion, ist wenig überzeugend. Bis ins 19. Jahrhundert wurde die Krankheit mit Typhus verwechselt – der Zusammenhang mit rohem Fleisch war nicht bekannt.
Im alten Ägypten, auf der Arabischen Halbinsel, in Palästina wurde vor tausenden Jahren noch Schwein gegessen. Dass es irgendwann verschwand, habe klimatische Gründe, meint der Anthropologe Marvin Harris. Wie in Mitteleuropa wuchsen damals auch in Vorderasien ausgedehnte Eichen- und Buchenwälder, wo Hausschweine Eicheln, Trüffel und Wurzeln fanden und vor Hitze geschützt waren. Mit der Ausbreitung der Landwirtschaft aber wichen die Wälder und das Schwein wurde zum Konkurrenten des Menschen. Es fraß ihm Getreide und Knollenfrüchte weg, während sich Pferd, Rind, Schaf von Gräsern ernähren konnten. Außerdem lieferten die Milch und Wolle oder konnten einen Karren ziehen. Das Schwein lieferte nur Fleisch. Es wurde immer unnützer.
Es spricht viel dafür, dass das Huhn das Schwein verdrängte. Es braucht weniger Wasser, legt zusätzlich Eier und kann wegen seiner Größe sofort gegessen werden. Als es vor 4.000 Jahren um das Mittelmeer immer wärmer wurde, war es ein großer Vorteil, Fleisch nicht lagern zu müssen.
Wegen der Fokussierung auf das Fleisch des Tiers sei es im Zusammenleben von Mensch und Schwein immer um Leben und Tod gegangen, sagt Thomas Macho. In anderen Gegenden der Erde führte das zum Tabu – in Europa zu einem Zwitterverhältnis.
Die Nazis nannten den Reichstag und die Weimarer Republik einen Saustall. Der selbst nicht zart besaitete SPD-Fraktionschef Herbert Wehner wurde im Bundestag Kommunistensau gerufen. Seit einem unverständlichen Bekennerbrief der RAF wurde das Wort „Schweinesystem“ ein stehender Begriff der Linken. Und 1975 schimpfte Franz Josef Strauß die ganze Republik einen Saustall, was ihm einen Gerichtsstreit mit SPD-Chef Willy Brandt einbrachte, der sich an die Bezeichnung der Nationalsozialisten erinnert fühlte.
Inzwischen ist das Schwein in jede politische Ecke getrieben worden. Männer sind Schweine, es gibt Öko-Säue, schwule Säue und dank des in SPD und Linkspartei erfolgreichen Machtmenschen Oskar Lafontaine kennen wir auch den Schweinejournalismus.
Gleichzeitig aber ist das tote Schwein, also sein Fleisch, ein Liebling von Politikern geworden, die sich volkstümlich geben wollen. Der bekannteste ist Gerhard Schröder. Seit ihm ist es nahezu unmöglich, in der SPD zu sein, ohne Currywurst zu essen. Aber auch die Konkurrenz hat das erkannt. Vor ein paar Jahren erschien ein Kochbuch mit dem Titel „Das Parlament kocht“. 50 Bundestagsabgeordnete erzählten von ihren Lieblingsspeisen und lieferten Rezeptideen. Angela Merkel kocht Grünkohl mit Mettwürstchen und der CSU-Politiker Peter Ramsauer schwärmt von Schlachtschüssel. Im Register finden sich auffallend viel Schwein und Wurst, eingereicht vor allem von Unionsparlamentariern. Uschi Eid von den Grünen kapert den Saumagen, das Leibgericht von Helmut Kohl. Ein Sinnbild für eine eindeutigere Vergangenheit, in der man über Worte wie Leitkultur noch nicht streiten musste, weil es noch nicht so viel gab, was diese Kultur hätte herausfordern können.
Kosmetik: Fettsäuren des Schweins werden in Waschpulver, Seife und Shampoos verarbeitet – für den perlenden Effekt. Kollagen stammt aus dem Bindegewebe und wird in Cremes gemischt. Zahnpasta enthält oft Glycerin aus dem Tierfett.
Medizin: Herzklappen des Tieres werden implantiert, Heparin aus dem Schweinedarm wird als Blutverdünner verwendet.
Literatur: In George Orwells „Animal Farm“ wird das Schwein zum Herrscher der anderen Farmbewohner. Der aufgespießte Schweinekopf in „Der Herr der Fliegen“ von William Golding wird zum Sinnbild der menschlichen Grausamkeit.
Politik: „Niemandem sollte erlaubt sein, Präsident zu werden, der Schweine nicht versteht“, sagte Harry S. Truman bei einem Pflug-Wettbewerb in Iowa 1948.
Das Schwein ist gefangen in einer bipolaren Welt, es kann nur als Fleisch des Volkes auftreten oder als die Manifestation von dessen dunkler Seite, des Ressentiments, der Aggression gegen das Fremde.
Steffen Barth würde das gern ändern. Barth ist Anwalt für Baurecht in Karlsruhe. Er hat Sterneköche wie Marc Haeberlin und Vincent Klink Lobpreisungen auf das Schwein verfassen lassen, Eckart Witzigmann erzählt von seiner Kindheit auf dem Bauernhof und wie er für die Schweine Brot zurücklegte. Zeichner und Fotografinnen steuern Bilder vom Tier in menschlichen Tätigkeiten bei, als Schweinepriester, Paragrafenschwein oder Pistensau. Teil dieser irren Collage ist auch ein Grunzgesetz. In Artikel 2 heißt es: „Jedes Schwein hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit es nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“ Und: „Die Freiheit des Schweines ist unverletzlich.“
Auslöser für die Idee, sagt Barth am Telefon, war der Geschmack. „Als guter Esser hatte ich eine gewisse Distanz zu Schweinefleisch“, dann aber bekam er Fleisch vom Bunten Bentheimer auf den Teller. Das ist eine alte Landrasse, fast ausgestorben, sie wird von wenigen Bauern gepflegt, die meisten Tiere leben in Niedersachsen und werden im Freien gehalten. Er war verblüfft von der Qualität des Fleisches, sagt der Rechtsanwalt, was dazu führte, dass er immer weiter in das Thema einstieg und sich auch für Gemeinsamkeiten zwischen Mensch und Schwein zu interessieren begann.
Das Buch ist ein rührender Versuch in einer Kultur, die zum Schwein kein anderes Verhältnis entwickelt hat, als es umzubringen – in jüngster Zeit nicht ohne es vorher noch zu quälen. In der Kuh entdecken wir immerhin noch etwas Mütterliches, wegen des Euters, der Milch.
Es ist nicht zu sehen, dass die, die in diesen Tagen das Schwein entdecken, für ihre Forderungen, für ihre Plakate, dass diese neuen Liebhaber sich für die menschlichen Züge des Schweins interessieren. Es ist ein neues Kapitel in der Instrumentalisierung eines Wesens, das schon so viel hat aushalten müssen. Aber auch das ist eine Wahrheit über das Schwein: Einmal freigelassen, wird es schnell wieder zu einem wilden Tier.
Jörn Kabisch ist kulinarischer Korrespondent der taz und 1971 geboren. Bei der Recherche für diesen Text fand er heraus, dass das im Jahr des Schweins war
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