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Die bange Hoffnung auf Bleibe

Räumung Weil es im Ämterwirrwarr den Überblick verloren hat, soll ein altes, krankes Paar seine Wohnung verlieren. Solche Fälle gibt es zu Hunderten in der Stadt, denn die Bezirke tun zu wenig gegen drohende Obdachlosigkeit, sagt die Landesarmutskonferenz

Hoffnung bleibt: die Familie Sitz-Jakovic in ihrer Wohnung in der Okerstraße Foto: Lia Darjes

Von Susanne Memarnia

Milos Sitz versteht die Welt nicht mehr. Über 30 Jahre hat der Bosnier als Fernfahrer gearbeitet, nebenher Entrümpelungen gemacht – und seine vier Enkel großgezogen, als ihr Vater, einer seiner Söhne, abgehauen war und die Mutter 2005 abgeschoben wurde. Und nun sollen er und seine schwerkranke Frau ihre Wohnung verlieren? Der drahtige 69-Jährige hebt die dürren, tätowierten Arme und lässt sie müde wieder in den Schoß sinken: „Meine Frau stirbt in drei Tagen, wenn wir ins Obdachlosenheim müssen.“

Seit zwölf Jahren wohnen Milos Sitz, der seinen deutschen Nachnamen von seiner früheren, längst verstorbenen Ehefrau trägt, und Angelina Jankovic in der Neuköllner Okerstraße 42. Sie teilen die eng mit Möbeln zugestellte, kleine 3-Zimmer-Erdgeschosswohnung mit Sitz’jüngstem Enkel, Dusko (19) – die drei älteren sind vor einigen Monaten ausgezogen. Und damit, erzählt Sitz, hätten die Probleme begonnen.

Viele Jahre zahlte das Jobcenter für die vier Enkel einen Teil der Miete von 660 Euro warm, zusätzlich zu dem Anteil für Sitz und seine Frau, den das Sozialamt für die Rentner beglich. Doch dann stellte das Jobcenter die Zahlungen ein, weil die Enkel nicht mehr bei ihrem Opa wohnten.

Vermutlich, berichtet Sitz’zweiter Sohn Josip Vasic, sei seinem Vater das zunächst gar nicht aufgefallen. Später hätten dann die Enkel versprochen, die Sache zu klären – allerdings ohne Erfolg. „Meine Eltern waren mit der Situation wohl überfordert“, sagt Josip Vasic.

So nahm das Unglück seinen Lauf. Mietschulden häuften sich an, der Vermieter erwirkte im Januar ein Räumungsurteil. Ein Räumungsschutzantrag, der um Aufschub von einem halben Jahr bittet, damit die beiden eine neue Wohnung finden können, wurde am Donnerstag vom Neuköllner Amtsgericht abgelehnt. Obwohl der Anwalt sogar Atteste von Ärzten beibrachte, die darlegen, dass „ein Wohnungswechsel zurzeit aus medizinischen Gründen absolut unverantwortlich“ sei.

Denn Angelina Jankovic hat schweres Asthma und kann sich nur mit Sauerstoffmaske und Rollator bewegen, Milos Sitz muss wegen chronischer Schmerzen in der Wirbelsäule starke Schmerzmittel nehmen. „Beim Sozialamt“, erzählt Sitz’Tochter Dijana Vasic, „haben sie aber nur gesagt, meine Eltern müssten ins Heim oder eine Ferienwohnung finden.“

Geschichten wie die von Milos Sitz gibt es viele. Zwar hat Berlin, anders als Hamburg, keine Statistik über Wohnungslosigkeit. Doch vor Kurzem legte die Fachgruppe Wohnungslose Menschen der Landesarmutskonferenz (LAK) die Ergebnisse einer Befragung der Bezirke vor. Thema: deren Umgang mit den Mitteilungen über anhängige Räumungsverfahren und anstehende Termine für Wohnungsräumungen, die sie regelmäßig von den Amtsgerichten und Gerichtsvollziehern bekommen.

Dabei kam heraus: Jeden Monat sind in Berlin Hunderte Haushalte von Wohnungslosigkeit bedroht, meist wegen Mietrückständen. Spitzenreiter ist Marzahn-Hellersdorf mit 80 neuen Meldungen pro Monat von Amtsgerichten und 60 von Gerichtsvollziehern, die wenigsten Fälle hat Pankow mit immer noch 42 Amtsgerichts- und 29 Gerichtsvollziehermeldungen. Wohlgemerkt: jeden Monat.

Zudem stellt die LAK fest, dass in einer „Vielzahl“ der Fälle die räumungsbedrohten Haushalte Hartz IV oder Sozialhilfe bekommen – und einige gerade deswegen Wohnungsnotfälle werden: etwa, weil das Jobcenter nur noch die Richtwertmiete zahlt oder Sanktionen ausspricht.

Insgesamt würden die Bezirke zu wenig unternehmen, um drohende Wohnungslosigkeit abzuwenden: aus Personalmangel, fehlender Kommunikation zwischen Ämtern, aber auch, weil sie ihre Hilfe den Betroffenen meist nur schriftlich anbieten, bilanziert das LAK in der Untersuchung.

„Viele Menschen sind in der akuten Situa­tion überfordert“

Dagmar von Lucke, LAK

„Viele Menschen sind in der akuten Situation überfordert und öffnen ihre Briefe gar nicht mehr“, sagt Dagmar von Lucke, Sprecherin der Fachgruppe Wohnungslose Menschen beim LAK. Die Bezirke müssten deswegen die Menschen zu Hause aufsuchen.

Denn die Untersuchung zeigt auch, dass drohende Wohnungslosigkeit oft noch abgewendet werden kann, wenn die bezirklichen Stellen etwas unternehmen. Zumeist, indem das Sozialamt oder das Jobcenter die Mietschulden übernimmt. Am Ende, so von Lucke, sei dies für den Staat auch viel günstiger, als die Kosten für einen Platz im Obdachlosenheim, für eine Pension oder eine Ferienwohnung übernehmen zu müssen. „Abgesehen davon, dass es solche Plätze heute kaum noch gibt.“

Dass im Fall von Milos Sitz eine Mietschuldenübernahme nicht möglich war, kann der grüne Abgeordnete Thomas Birk kaum glauben. „Die Außenstände waren nicht so hoch, als dass das Sozialamt sie nicht hätte begleichen können“, sagt er. Seit zehn Jahren kennt der Politiker die Familie. Als die vier Enkel wie ihre Mutter nach Bosnien abgeschoben werden sollten, saß er im Petitionsausschuss des Parlaments – am Ende wurden sie als Härtefälle anerkannt. „Einer der wichtigsten Erfolge meiner Karriere“, sagt Birk rückblickend. Nicht nur er war damals beeindruckt von Sitz’zähem Kampf um seine Enkel. Eine breite Öffentlichkeit verfolgte damals das Schicksal der Familie, auch die taz berichtete.

Kurz vor dem wahrscheinlichen dramatischen Ende dieser Geschichte – eine Räumung sowie Proteste dagegen waren für den morgigen Mittwoch angesetzt – keimt bei Milos Sitz neue Hoffnung auf. Über einige Ecken haben er und Angelina Jankovic Aussicht auf eine neue Wohnung ab April; ihr derzeitiger Vermieter zeigt sich kompromissbereit, die beiden bis dahin in ihrer Wohnung zu lassen.

Ein Happy End ist also möglich – es ist leider die Ausnahme und nicht die Regel in solchen Fällen.

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