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Sozialhilfe für Arbeit suchende EU-Bürger?

Justiz Spitzenverbände protestieren gegen spektakuläres Urteil des Bundessozialgerichts

Womöglich gibt es für deutsche Behörden bald mehr Fälle Foto: Karola Gädke

KARLSRUHE taz | Arbeit suchende EU-Bürger können in Deutschland zwar kein Hartz IV bekommen, aber Sozialhilfe. Das entschied vorige Woche das Bundessozialgericht (BSG). Die Kommunen sind entsetzt. Denn Sozialhilfe müssen sie aus ihren eigenen Haushalten zahlen, während für Hartz IV der Bund aufkommt.

Das Urteil ist eine überraschende Volte in einer langen Diskussion. Schon 2007 bestimmte der Bundestag im Sozialgesetzbuch II, dass Hartz IV nicht gewährt wird, wenn Ausländer nur zur Arbeitssuche nach Deutschland kommen. Damit wollte er Anreize verhindern, dass schlecht qualifizierte Menschen nach Deutschland einreisen, um hier von Sozialleistungen zu leben. Jahrelang war umstritten, ob diese Ausschlussklausel mit EU-Recht vereinbar ist, da EU-Bürger dabei schlechter behandelt werden als Deutsche. Die EU-Rechtslage hierzu war uneindeutig. Immer häufiger haben daher deutsche Sozialgerichte klagenden EU-Bürgern im Eilverfahren doch Hartz IV gewährt.

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschied jedoch im September 2015 im Fall Alimanovic, dass das deutsche Gesetz nicht gegen EU-Recht verstößt. EU-Bürger, die nach Deutschland kommen, um Arbeit zu suchen, dürfen bei Hartz IV also benachteiligt werden. Nachdem also nicht einmal der EuGH den hilfsbedürftigen EU-Bürgern beistand, schien eigentlich alles klar. Doch sofort begann in Deutschland eine neue Diskussion, ob nicht das Bundesverfassungsgericht helfen könne. Schließlich hat dieses 2012 in seinem Urteil zum Asylbewerberleistungsgesetz entschieden, dass es ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums gibt, auf das sich auch Ausländer berufen können.

Eine ganz eigene Lösung fand nun das Bundessozialgericht. Es akzeptierte zwar den Leistungsausschluss für Hartz-IV-Zahlungen. Mit Blick auf das Karlsruher Urteil von 2012 gewährte es jedoch einen Anspruch auf Sozialhilfe in gleicher Höhe. Spätestens wenn sich nach sechs Monaten ein Aufenthalt in Deutschland verfestigt hat, habe das Sozialamt keinen Ermessensspielraum mehr und dürfe die Hilfe nicht verweigern. Das Gericht entschied im Fall einer rumänischen Familie, die bereits seit 2008 im Ruhrgebiet lebt. (Az. B 4 AS 44/15 R)

„Das Urteil ist nur schwer nachzuvollziehen“ erklärt Uwe Lübking vom Deutschen Städte- und Gemeindebund, „die Sozialhilfe war gerade nicht für Erwerbsfähige gedacht.“ Nach Einschätzung des Landessozialgerichts Essen könnten bundesweit 130.000 Menschen von dem Urteil profitieren, vor allem Rumänen und Bulgaren. Die kommunalen Spitzenverbände rechnen mit Mehrkosten von 500 Millionen Euro bis zu einer Milliarde Euro pro Jahr. „Es muss ernsthaft geprüft werden, ob die Rechtslage wirklich so bleiben kann“, hieß es beim Deutschen Städtetag. Möglich wäre eine neue Ausschlussklausel für EU-Bürger aber nur, wenn dies nicht gegen das Grundgesetz verstößt. Das Bundesverfassungsgericht wird bald Gelegenheit haben, sein Urteil von 2012 zu interpretieren. In einem Fall aus Berlin hat eine Spanierin Verfassungsbeschwerde gegen die Verweigerung von Hartz IV erhoben. CHRISTIAN RATH

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