Debatte Koalitionsgipfel: Spiel um wertlose Positionspapiere
Transitzonen werden eh nicht kommen, CDU und CSU bleiben sowieso zusammen. Alle Koalitionsparteien spielen mit gezinkten Karten.
E s gibt Dinge, die kommen verlässlich wie der Kälteeinbruch im Spätherbst. So die Forderung nach einem Ende des „Parteienstreits“, wenn es um wichtige Themen geht. Knapper lässt sich die Verachtung des parlamentarischen Systems nicht auf den Punkt bringen. Betrüblich, dass auch Spitzenkäfte der grünen Opposition derlei in diesen Tagen mit treuherzigem Blick in die Kameras erklären. Worin sehen sie denn die vornehmste Aufgabe von Parteien – in der Verteilung von Ämtern, Mandaten und Posten?
Der Sinn von Parteien besteht darin, das Meinungsspektrum abzubilden, das in der Gesellschaft besteht. In der Flüchtlingsfrage ist dieses Spektrum ziemlich breit. Manche Leute sollen einer Partei ja sogar deshalb beitreten: weil sie deren grundsätzliche Positionen teilen. In einem prinzipiellen Konflikt hilft deshalb die Aufforderung nicht recht weiter, dass nun endlich Schluss sein müsse mit der Diskussion – und „ran an die Arbeit“. So konnte man vielleicht früher mit Jugendlichen in einem Zeltlager umgehen. Aber so kann man heute nicht mit Wählerinnen und Wählern umgehen, will man die Wahlbeteiligung nicht in schwindelerregende Tiefen treiben.
Wenn ein Grundsatzstreit nicht ausgetragen wird, dann leidet die Glaubwürdigkeit aller Beteiligten. Das Problem: Der Koalitionsgipfel im Kanzleramt hat diesen Grundsatzstreit nicht ausgetragen, nicht einmal angerissen. Stattdessen vermittelte sich der Eindruck, dass alle Teilnehmer mit gezinkten Karten spielten.
Nein, es ist nicht zu vermuten, dass die Bundeskanzlerin dem SPD-Vorsitzenden zugezwinkert hat, bevor dieser die Sitzung verließ. Sie wird den Blick starr auf ihre Akten gerichtet haben, alles andere wäre dumm gewesen. Aber sie dürfte schon hoffen, dass sich die Sozialdemokraten im Hinblick auf Transitzonen unnachgiebig zeigen.
Transitlager sind nicht umsetzbar
In dieser Frage geht es nämlich nicht nur um Grundsatztreue, sondern auch um Pragmatismus: Transitlager sind schon allein logistisch fast nicht umsetzbar und in der öffentlichen Wirkung verheerend: Deutsche Grenzschützer, die traumatisierte Familien mit Gewalt an der Weiterreise hindern? Die ein brüllendes Kind zurücktreiben ins „Transitlager“?
Schauerlich. Man soll sich nichts vormachen: Solche Bilder wären in Ungarn, in Griechenland und in Italien schwer erträglich. In Deutschland wären sie unvorstellbar. So lange kann die deutsche Vergangenheit gar nicht zurückliegen, dass derartige Aufnahmen nicht schreckliche Erinnerungen wachriefen.
Transitlager, wie immer sie aussehen mögen, wird es deshalb vermutlich nicht geben. Und es darf vermutet werden, dass alle Beteiligten das wissen.
In den letzten Wochen ist, auch in dieser Zeitung, eine Diskussion darüber entbrannt, ob Angela Merkel angesichts der Flüchtlingskrise standhaft bleibt, weil sie tatsächlich zutiefst von der Berechtigung des Asylrechts überzeugt ist – oder ob sie einfach links blinkt und rechts abbiegt. Für beide Positionen gibt es überzeugende Argumente, aber schon jetzt zeichnet sich ab, dass sie vor allem für Historiker und Biografen interessant sind. Die Ereignisse haben die Frage nach der persönlichen Haltung der Kanzlerin überholt.
Niemand in komfortabler Lage
Es geht inzwischen um die Zukunft der traditionellen Parteien, nicht mehr um die Haltung Einzelner. Nicht einmal mehr um die der Regierungschefin. Wer eine Situation wie die bestehende am Reißbrett entwickelt, mag zu Recht feststellen, dass weder Angela Merkel noch Sigmar Gabriel noch Horst Seehofer die reine Lehre ihrer Parteien vertreten. Das bringt Realität manchmal so mit sich. Und Parteien bestehen eben nicht nur aus deren Programmen, sondern auch aus – internen und externen – Machtkämpfen.
Schaut man auf die Parteien der Großen Koalition im Einzelnen, dann ist keine von ihnen in einer komfortablen Situation. Horst Seehofer von der CSU kann ein Ultimatum nach dem anderen stellen – etwas kann er nicht tun, jedenfalls nicht mit einer halbwegs realistischen Aussicht auf Erfolg: die Fraktionsgemeinschaft mit der CDU aufkündigen und die CSU bundesweit zur Wahl stellen. Das nämlich würde bedeuten, dass die CDU in Bayern antritt. Und wenn sie auch nur 15 Prozent der Stimmen holte, dann würden viele CSU-Landräte ihre Posten verlieren.
Vorstellbar, dass Seehofer diese Entwicklung unbeschadet überstehen könnte? Nein, nicht vorstellbar. Seine Drohungen laufen ins Leere, wie Angela Merkel sehr genau weiß. Warum erlaubt sie ihm dann trotzdem, das Gesicht zu wahren und eine – nur scheinbare – Einigung auf ein Positionspapier der Union als persönlichen Erfolg zu verkaufen?
Wachsender Widerstand
Weil der Widerstand gegen sie in den eigenen Reihen so groß ist, dass sie jede Unterstützung braucht, die sie bekommen kann. In der Unionsfraktion brodelt es, und die Ursache liegt nicht allein – vielleicht nicht einmal vorwiegend – im Flüchtlingsproblem begründet.
Angela Merkel erklärt sich nicht gern. Das war schon immer so, und daran hat sich nichts geändert. Die Energiewende, die Abschaffung der Wehrpflicht, die deutsche Position in der griechischen Finanzkrise: Stets hat sie ihre Partei vor vollendete Tatsachen gestellt. Irgendwann bringt ein Tropfen das Fass zum Überlaufen. Mit Rationalität hat das dann nichts mehr zu tun.
Die Unionsfraktion will sich von der Kanzlerin nicht mehr in die Solidarität zwingen lassen, egal zu welchem Thema. Viele Abgeordnete fühlen sich erpresst und gedemütigt – für eine Regierungschefin gibt es kaum etwas Gefährlicheres.
Aber warum spielt die SPD beim Spiel um wertlose Positionspapiere mit? Weil sie eine unverhoffte Chance geboten bekommt, sich endlich wieder mal als Hüterin der Menschenrechte zu präsentieren. Obwohl ihr Parteivorsitzender, der zugleich Wirtschaftsminister ist, Waffenexporte in alle Welt genehmigt – unter anderem nach Saudi-Arabien, einem Land, das derzeit Kriegsverbrechen im Jemen verübt. Das ist alles ziemlich verlogen. Und? Nach Alternativen wird gefahndet – bislang erfolglos.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Autoritäre Auswüchse beim BSW
Lenin lässt grüßen
Prozess zum Messerangriff in England
Schauriger Triumph für Rechte
Rückgabe von Kulturgütern
Nofretete will zurück nach Hause
BSW in Thüringen auf Koalitionskurs
Wagenknecht lässt ihre Getreuen auf Wolf los
Nahostkonflikt in der Literatur
Literarischer Israel-Boykott
Kamala Harris’ „Abschlussplädoyer“
Ihr bestes Argument