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Türkei Willkürliche Neuwahlen, Bomben in den kurdischen Gebieten und ein Präsident, der um seine Macht kämpft.Sechs türkische Intellektuelle diskutieren über die Zukunft ihres Landes – bei einer Runde SchnapsBeim Raki retten wir die Welt

„Erdoğan nannte Atatürk öffentlich einen Säufer“, sagt Ferhat Özgür. „Es ist eine kulturelle Kontroverse: Gehören wir zum Nahen Osten oder zum Westen?“

von Viktoria Morasch, Fatma Aydemir (Text) und Bradley Secker (Fotos)

Die Blumenpassage im Zentrum Istanbuls. Ein unscheinbares Tor und dann: Geplauder und Geklimper, Besteck und Gläser, Türkisch, Englisch, Russisch, Deutsch. Das Restaurant Seviç steht seit 1948 hier: „Sev“ wie sevgi, die Liebe, und „iç“ wie içki, Schnaps. Wir haben sechs Intellektuelle in dieses Restaurant geladen und bestellen Vorspeisen, Raki und Bier. Beim Raki retten wir die Welt – oder zumindest die Türkei, so geht ein türkisches Sprichwort.

Beral Madra: Das ist die älteste Tradition überhaupt. Raki trinken und über Politik sprechen.

Ferhat Özgür: Aber früher war es einfacher, in der Öffentlichkeit Alkohol zu trinken. In vielen Restaurants und Kebabhäusern kriegt man inzwischen keinen Alkohol mehr. Stattdessen werben sie für Cola und Ayran.

Zafer Akşit: Vor allem für Ayran.

Ebru Yetişkin: In diesem Winter war ich in Kayserı, um Ski zu fahren. Irgendwann wollten wir etwas trinken. Im Hotel haben sie uns gesagt, dass es keinen Alkohol gäbe. In der ganzen Stadt nicht. Nicht einmal in den Luxushotels. Da habe ich mich gefragt: Wenn ich hier also trinke, sieht das dann wie eine politische Handlung aus, wie Protest? Ich wollte gar nicht protestieren, sondern einfach eine gute Zeit haben.

Madra: Aber eigentlich kannst du überall trinken. Es gibt Ausnahmen in Anatolien: Konya, Kayserı, Erzurum . . . 

Süreyyya Evren: Alles Städte, in denen Türken das Sagen haben.

Madra: Und was ist mit Mardin? Kann man in Mardin Raki trinken?

Özgür: Ja, weil Mardin sehr vielfältig ist. Dort leben Armenier, Kurden, Araber . . .

Beral Madra

Der Mensch:Beral Madra, Jahrgang 1942, ist Kuratorin und Kunstkritikerin.

Das Werk:Madra ist seit 35 Jahren in der türkischen Kulturszene aktiv. Sie koordinierte in den achtziger Jahren die beiden ersten Biennalen in Istanbul und kuratierte fünfmal den Pavillon der Türkei auf der Biennale in Venedig. In Diyarbakır, im Osten der Türkei, hat sie ein Kulturzentrum mitgegründet.

Mardin liegt im Dreiländereck zwischen der Türkei, Syrien und dem Irak. Nur wenige Kilometer entfernt tobt der syrische Bürgerkrieg. Und auch in Mardin ist wieder Krieg. Im September explodierten Bomben der PKK, der Arbeiterpartei Kurdistans, und töteten vier Polizisten. Der alte Konflikt zwischen der Regierung und der PKK ist wieder aufgebrochen, mehr als 500 Menschen starben in den vergangenen Wochen. Die Friedensgespräche, die 2013 zaghaft begannen, sind gescheitert.

Yetişkin: Aber eigentlich ist Alkohol nicht so wichtig. Der Alkoholkonsum in der Türkei ist wirklich sehr gering.

Gözde Kazaz: Der Alltag der meisten Türken hat nichts mit Raki zu tun. Wir reden hier über Probleme einer sehr kleinen Gruppe.

Yetişkin: Und es gibt dieses Klischee der türkischen Intellektuellen, die Raki trinken und über Politik reden, aber eigentlich keine Ahnung davon haben, was in der Welt gerade passiert. Das ist ein Missverständnis.

Özgür: Ich glaube, Alkoholtrinken steht ganz oben auf der Liste der AKP, mit der sie uns zu einem Teil des Nahen Ostens machen will. Konservative Positionen und die islamische Tradition werden immer stärker. Es geht auch darum, das Erbe Atatürks zu brechen, der die Türkei modernisierte und dem Westen annäherte. Erdoğan nannte Atatürk öffentlich einen Säufer. Es ist also eine kulturelle Kontroverse: Gehören wir zum Nahen Osten oder zum Westen?

Mustafa Kemal Atatürk, der Vater der Türken, gründete 1923 die Republik Türkei. Atatürk war ein Freund des Alkohols – und starb an einer Leberzirrhose. Noch heute steht eine Beleidigung Atatürks unter Strafe.

Yetişkin: Es geht bei dieser Alkoholdebatte doch nur darum, Lärm zu kreieren. Wenn es Lärm um Nebensächlichkeiten gibt, lassen sich andere Dinge im Stillen tun. Dann wird plötzlich ein neues Gesetz verabschiedet, oder viel Geld wechselt die Hände. Das ist eine Strategie der Regierung. Ob Raki nun politisch ist oder nicht – das ist nicht das Problem. Das ist nur Lärm, der geschaffen wird. Kakofonie.

Madra: Sie bombardieren unsere Wahrnehmung mit immer neuen Konflikten, damit wir uns machtlos fühlen.

Yetişkin:Unser Körper und unser Geist sind permanenter Gewalt ausgesetzt. So können unsere Gehirne nicht funktionieren. Deshalb glaube ich, dass Dummheit, Idiotismus, eine weitere Strategie der Regierung ist. Wenn also die Regierung sagt: Wir dürfen nicht trinken, Frauen dürfen nicht lachen, weil das unmoralisch ist, dann begebe ich mich bewusst nicht in diesen Lärm. Ich reagiere nicht.

Akşit: Alles ändert sich ständig. Das Problem ist doch, dass wir so schnell vergessen.

Ferhat Özgür

Der Mensch:Der Künstler Ferhat Özgür wurde 1965 in Ankara geboren.

Das Werk:Özgür begegnet in seiner Kunst politischen Fragen mit Humor und Ironie. In seiner Malerei, seinen Zeichnungen und Videoarbeiten geht es oft um die Beziehung des Individuums zur Gesellschaft. Er lehrt an der Yeditepe-Universität und stellt international aus, etwa im MoMa in New York.

Yetişkin: Wir vergessen nicht.

Akşit: Doch. Wir werden desensibilisiert.

Yetişkin: Die Geschwindigkeit der Ereignisse, die uns zugemutet werden, wird schneller und schneller. Wir hatten schon immer die Probleme im Osten, aber die Art und Weise, wie wir darüber reden, hat sich geändert.

Im Osten der Türkei liegen die kurdischen Gebiete. Die Kurden sind die größte ethnische Minderheit, seit Jahrzehnten unterdrückt. 1978 gründete sich die PKK, die kurdische Arbeiter­partei. Wenige Jahre später begann der bewaffnete Konflikt mit der Regierung, der in den neunziger Jahren einen Höhepunkt fand. Zehntausende wurden getötet.

Kazaz: Ich würde gern über ein Bild reden. Es ist ein Symbol dafür, was gerade passiert, für die Diskriminierung der Kurden. Es wurde in Muğla, in der Westtürkei, aufgenommen. Ein kurdischer Arbeiter wurde verprügelt und dann von seinen Nachbarn gezwungen, eine Atatürk-Statue zu küssen. Ich bin 1987 geboren, meine Erinnerung geht nicht so weit zurück, aber es ist heute so wie in den Neunzigern. Dieses Bild war so schockierend. Ich werde es nicht vergessen.

Madra: Atatürk ist ein großes Tabu in der Türkei, alle müssen ihn bewundern. Und als Kurde musst du dich dem unterwerfen, was Atatürk geschaffen hat.

Früher hing in jedem Restaurant, in jedem Büro ein Bild Atatürks. Schulbücher begannen mit seiner Rede an die Nation. Inzwischen hat Recep Tayyip Erdoğan, Präsident der Türkei und Gründer der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), eine eigene Rede für die Schulbücher verfasst. Von immer mehr Wänden blickt statt Atatürk nun Erdoğan.

Özgür: Wir sollten auch über das Bild von Erdoğan reden. Ich glaube, sein Erfolg hat viel mit seinem Aussehen zu tun. Er ist der schönste Repräsentant der Armen und Ungebildeten. Eine Erscheinung! Die Leute identifizieren sich mit ihm. Warum nur? Ein Teil meiner Familie, meine Schwester, ihr Mann, vergöttern Erdoğan.

Madra: Sie vergötterten ihn. Das ist jetzt vorbei.

Süreyyya Evren

Der Mensch:Als Süreyya Evren Türkeli wurde der Schriftsteller 1972 geboren. Süreyyya Evren ist sein Künstlername.

Das Werk:Evren schreibt Romane, Kurzgeschichten und Essays über Politik und poststrukturalistischen Anarchismus. Er veröffentlicht in verschiedenen internationalen politischen Magazinen und schreibt eine Kolumne in der linken türkischen Tageszeitung Birgün.

Kazaz: Es gibt immer noch Menschen, die ihn bewundern.

Akşit: Ich würde das Gespräch gern weg von Erdoğan lenken. Ich mag ihn nicht und muss trotzdem immer über ihn reden. Lasst uns über Bilder reden, Werbung, Medien. Ich finde, die Bilder werden immer „orientalischer“. Das hat zwei Gründe. Erstens: Viele Menschen in der Türkei sind nostalgisch. Sie sehnen sich nach den guten, alten Tagen des Osmanischen Reichs. Und zweitens: Der Orientalismus in Europa ist nie verschwunden. „Der Westen“ hat eine Erwartung davon, wie wir aussehen, was wir fühlen und tun sollen. Und wir geben dem nach.

Madra: Orientalismus kann man auch auf der Biennale sehen. Die Kuratoren dort versuchen, das europäische Auge zu befriedigen – nicht den Geist des türkischen Publikums. Aber lasst uns das Bild der AKP analysieren. Zu Beginn ging es um Klassenunterschiede. Eine Klasse wurde diskriminiert, weil sie konservativ war und arm. In den Neunzigern wurde die Hälfte des kurdischen Gebiets evakuiert. Aber sogar die Kurden glaubten damals an die AKP, weil sie dachten, sie würde auch für sie kämpfen. Es war ein Klassenkampf.

Yetişkin: Die AKP war die Stimme der Armen. Sie wollte einen Nationalstaat schaffen – für eine bessere Welt. Und dieser Traum hält noch immer an.

Madra: Aber er hat sich geändert, als das globale Kapital kam und die Korruption. Als die Elite der AKP sehr reich wurde.

Özgür: Sie war von Anfang an sehr reich.

2014 wurden angebliche Aufnahmen eines Telefongesprächs zwischen Erdoğan und seinem Sohn veröffentlicht. Erdoğan befiehlt seinem Sohn, Gelder so schnell wie möglich aus dem Haus zu bringen. 2013 traten drei Minister der AKP wegen Korruptionsvorwürfen zurück. Das Vertrauen der Bevölkerung in die Partei ist stark gesunken.

Evren: Es wird bald Neuwahlen geben und . . .

Gözde Kazaz

Der Mensch:Gözde Kazaz wurde 1987 in Istanbul geboren. Sie ist Reporterin und Redakteurin.

Das Werk:Gözde Kazaz arbeitet für Agos, eine Wochenzeitung, die vor allem für die armenische Minderheit in der Türkei herausgegeben wird. Die Themen der Journalistin sind Menschenrechte, die Rechte von Minderheiten und Meinungsfreiheit, aber auch Kultur und aktuelle Politik.

Yetişkin: Kann ich davor noch was sagen? Das größte Problem ist die Verfassung. Und eines der Hauptziele Erdoğans ist immer noch, die Verfassung zu ändern.

Özgür: Die Verfassung ändert sich doch alle zehn Jahre!

Madra: Aber nicht in Richtung Demokratie, sondern in Richtung Faschismus. In den Achtzigern, unter den Generälen, nach dem Militärputsch, da war sie sehr faschistisch. Und nur die Aussicht darauf, Mitglied der Europäischen Union zu werden, hat die Regierung dazu gezwungen, die schlimmsten faschistischen Punkte zu streichen. Die AKP hat anfangs versprochen, die Verfassung in Richtung Demokratie zu verändern. Aber sie hat es nie getan.

Evren: Noch mal: Es gibt bald Neuwahlen, aber das sind keine normalen Wahlen. Es sind Wahlen, die Normalität verhindern sollen. Eigentlich sind es überhaupt keine Wahlen.

Özgür: Es ist nur ein Spiel.

In der Türkei wurde im Juni 2015 gewählt. Erdoğan bekam keine Mehrheit, stattdessen zog die prokurdische, linke Demokratische Partei der Völker (HDP) ins Parlament. Erdoğan konnte oder wollte keine Koalition bilden und nannte das Ergebnis der Wahlen „einen Fehler“, den die Türken nun „korrigieren“ sollen. Bekommt die AKP durch die Neuwahlen eine Mehrheit, könnte sie die Verfassung ändern und ein Präsidialsystem mit Erdoğan an der Spitze einführen.

Evren: Die letzten Wahlen im Juni waren interessant. Sie stattfinden zu lassen, war eine Art aktivistisches Ziel. Die Bürger kämpften gegen die Regierung für faire Wahlen. Jeder tat, was er konnte. Auch die, die nicht an Wahlen glauben, Anarchisten etwa. Es hat sich wie ein Wendepunkt angefühlt: Entweder es geht abwärts, direkt in den Faschismus, oder es gibt eine neue Chance. Die Regierung hat versucht, einen Aufstand zu provozieren, bombardierte Kurden, tötete Menschen, erfand Komplotte und Verschwörungen. Erdoğan will Spannungen, die Normalität nicht zulassen. Weil Normalität hieße: Die AKP hat keine Legitimität mehr, sie haben keinen Plan, nichts, nur Macht. Es sieht so aus, als würde alles zusammenbrechen. Die Neuwahlen sind nur ein Instrument, um dieses Ende zu verhindern.

Madra: Bleibt doch die Frage, ob es überhaupt eine neue Wahl geben wird.

Evren: Ich glaube, sie wird stattfinden. Auf mehr oder weniger faire Art und Weise. Viele bezweifeln das. Ich bin eher optimistisch.

Özgür: Ich wäre gern optimistisch. Aber ich glaube, es wird sich überhaupt nichts ändern.

Evren: Wir haben eine neue türkische Gesellschaft. Die gab es in den Neunzigern noch nicht. Es ist viel anarchistischer geworden. Es gibt viele Graswurzelbewegungen. Auch was den Atheismus angeht, hat sich etwas geändert.

Akşit: Es gibt eine riesige Atheistenvereinigung!

Evren: In den Neunzigern haben Verlage versucht, Bücher über den Atheismus herauszugeben. Sie gaben auf. Es war einfach nicht cool, zu sagen: Ich bin ein Atheist. Heute mögen vor allem junge Menschen dieses Label. Sie empfinden etwas gegenüber dem Atheismus. Früher war da nichts, es gab nur den Klassenkampf. Das macht mich optimistisch.

Özgür: Was mir Sorgen macht, sind die Vorurteile gegenüber der HDP. Ich habe Angst davor, dass sie ihre Stimmen in der Neuwahl verliert.

Kazaz: Ich habe heute die Umfragen gelesen. Da steht, die HDP kommt auf jeden Fall wieder ins Parlament – trotz der faschistischen Angriffe auf ihre Büros. Ich glaube, die wichtigste Frage ist: Warum gibt es überhaupt wieder Wahlen? Wir vergessen immer so schnell, weil so viel in der Türkei passiert. Deshalb haben wir uns damit abgefunden, über das Ergebnis der Wahlen nachzudenken. Aber es geht um einen Regimewandel: von einem Parlament zu einem Präsidialregime. Darüber müssen wir reden.

Zafer Akşit

Der Mensch:Zafek Akşit, geboren 1988 in Ankara, ist Künstler und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Yeditepe-Universität in Istanbul.

Das Werk:Akşit nutzt verschiedene Materialien und Medien in seiner oft konzeptuellen Arbeit: Videos und Neonröhren, Situa­tionen und Orte. 2014 arbeitete er als Artist in Residence in einem Atelier in den Beelitzer Heilstätten nahe Berlin.

Özgür: Aber was wird denn passieren, wenn die HDP nicht mehr über die 10 Prozent kommt? Werden wir nachgeben, werden wir aufstehen gegen Erdoğan?

Madra: Jeden Abend gibt es im Fernsehen Diskussionen, Journalisten und Akademiker reden darüber, was die Türkei gerade zerstört. Deshalb attackiert Erdoğan die Medien. Aber noch sind sie frei.

Özgür: Weißt du, was mir vor drei Jahren passiert ist? Das war sehr frustrierend. Ich habe die Fakultät für Künste und Design an der Kültür Üniversitesi hier in Istanbul geleitet. Mir wurde vorgeworfen, ein Mitglied der KCK zu sein, der kurdischen Kommunisten. Sie sind illegal und gehören zur PKK. Nach einem Monat wurde ich gefeuert. Sie sagten, es sei wegen meiner internationalen Ausstellungen und weil ich keine Zeit habe, die Fakultät zu leiten. Dann war ich fünf Monate lang arbeitslos, mehr passierte zum Glück nicht. Aber was die Meinungsfreiheit angeht: Genau so werden Journalisten, Künstler und Intellektuelle in der Türkei von der AKP verhaftet.

Schweigen am Tisch. Eine Zigarettenpause.

Akşit: Kann ich was zum Optimismus sagen? Wir Gegner der Regierung werden dazu gezwungen, mit kleinen Dingen glücklich zu sein. Oh, die AKP hat keine 50 Prozent mehr, toll! Aber: Fast die Hälfte von uns glaubt noch an die AKP – das sind immer noch verdammt viele!

Özgür: Wir müssen herausfinden, was hinter dieser Bewunderung liegt.

Ebru Yetişkin

Der Mensch:Die Soziologin Ebru Yetişkin, Jahrgang 1976, lebt und arbeitet in Istanbul.

Das Werk:Yetişkin forscht und lehrt an der Technischen Universität Istanbul zu Daten- und Netzwerkpolitik. Sie leitet Workshops und spricht auf Podien in Berlin, New York und Istanbul. Zudem arbeitet sie als Kunstkritikerin und Kuratorin. Yetişkin ist Mitglied der International Association of Art Critics.

Evren: Das ist ganz einfach. Die Opportunisten sind das Problem. Wenn Erdoğan fällt, werden 50 Prozent gegen ihn sein. In einer Sekunde. Es ist so einfach, Geld zu verdienen, du musst nur sagen, dass Erdoğan super ist. Diese Leute werden schnell die Seite wechseln.

Yetişkin: Wir verlieren uns gerade in lokalen Problemen. Das heißt nicht, dass wir sie nicht diskutieren sollten, wir sehen ja täglich die vielen Toten. Aber um etwas zu ändern, müssen wir über die wirtschaftlichen Ursachen dieser Probleme nachdenken. Und die müssen wir als globale Community bekämpfen, nicht als türkische. Cizre ist jetzt ein Symbol. Aber noch vor ein paar Monaten war Rojava das Symbol. Die Kontexte ändern sich, das ist alles.

Das Militär riegelte Cizre in Südostanatolien ab und verhängte eine zehntägige Ausgangssperre, um die PKK zu bekämpfen. Die Gewalt eskalierte, viele Menschen starben. Leyla Imret, eine 28-jährige Friseurin aus Bremen, war Bürgermeisterin der Stadt. Sie wurde in Cizre geboren. Wegen angeblicher „terroristischer Propaganda“ wurde sie ihres Amtes enthoben. Rojava ist eine de facto autonome kurdische Region in Nordsyrien.

Kazaz: Es gibt eine Verbindung zwischen Rojava und Cizre. Cizre war auch einer dieser Orte, wo nach den Wahlen und nach dem Massaker von Suruç eine Selbstverwaltung von den Bürgermeistern ausgerufen wurde. Deswegen passiert das gerade. Weil die Regierung ihnen eine Lektion erteilen will.

Madra: Selbstverwaltung geht gegen die Idee des Nationalstaats der AKP. Aber die Türkei ist kein homogenes Land. Die Kulturen sind zu unterschiedlich.

Evren: Es gibt eigentlich keinen Grund dafür, dass wir alle hier zusammenleben. Deshalb brauchen wir neue Lügen. Wir schaffen sie auch gerade.

Yetişkin: Du meinst, wir brauchen Geschichten.

Evren: Ja, sie müssen aber nicht wahr sein. Es müssen Geschichten sein, die mit Liebe geschrieben wurden. Das ist wichtig. Nicht die Wahlen. Es gibt Leute, die Geschichten aus Liebe schreiben. Sie schreiben sie überall. Es braucht nur Zeit.

Yetişkin: Wir müssen uns auf die kleinen Geschichten der Leute konzentrieren. Das klingt vielleicht romantisch, aber mit kleinen Geschichten lässt sich die Welt analysieren und eine neue vorstellen.

Evren: Wenn die AKP wieder gewinnt und die HDP rausfliegt, das ist kein Problem. Erinnern wir uns an die Französische Revolution. Sie hat zu nichts geführt. Napoleon übernahm. All das ist also egal. Das Einzige, was zählt, ist, ob sich die politische Kultur verändert hat. Damit meine ich: was die Leute unter Politik verstehen. Heute glauben die Menschen, dass sie sehr leicht Teil der Politik sein können, sie brauchen keine Parteien. Sie können von einem Moment zum anderen politisch werden. Und die Leute hier sind dazu bereit. Sie haben 2013 bei den Gezi-Protesten die Freude daran erfahren, etwas Politisches zu tun, das Leben zu beeinflussen. Diese Freude vergisst du nicht.

Bei den Gezi-Protesten 2013 ging es zunächst um die Bebauung des Geziparks im Zentrum Istanbuls. Bald richteten sich die Proteste gegen die autoritäre Politik der AKP.

Madra: Wir müssen uns fragen: Warum ist die PKK gerade jetzt aktiv? Weil die USA wollen, dass die PKK von den irakischen Kandil-Bergen herunterkommt und sich der YPG, den Kurden in Nordsyrien, anschließt. Wir reden nie über die Interessen der USA.

Yetişkin: Was unmöglich ist! Du kannst nicht über regionale Politik reden, ohne die Interventionen und Intentionen der globalen, kapitalistischen Mächte miteinzubeziehen. Das ist unmöglich!

Madra: Die USA wollen die PKK im Moment nicht im Irak. Deswegen haben sie der türkischen Armee erlaubt, die Kandil-Berge zu bombardieren. Damit sie vom Irak nach Syrien gehen. Ohne die USA um Erlaubnis zu fragen, könnte die Türkei keine Bomben werfen.

Özgür: Sind wir also zum Schluss gekommen, dass die Türkei eine Marionette der USA ist und wir selbst nichts ändern können? Ich weiß, dass wir eine Marionette der USA sind, aber das kann doch nicht alles sein.

Evren: Alles hat sich seit Gezi verändert.

Özgür: Wie denn?

Madra: Meine einzige Hoffnung ist, dass der Dollar auf 4 Lira steigt und die Wirtschaft kaputtgeht. Erdoğan kam mit der Wirtschaft und er wird mit ihr gehen.

Evren: Erdoğan ist der letzte anatolische Diktator. Das Ende eines Reichs. Danach werden wir sehr viel mehr Chaos haben, aber keinen Typen wie ihn.

Akşit: Nein, die Geschichte wird sich wiederholen. Als Adnan Menderes Ministerpräsident war, hat er gesagt: Ich könnte einen Esel ins Parlament wählen lassen, wenn ich wollte. Das ist echte Macht! Und wir haben das vergessen. Deswegen ist Erdoğan nicht der letzte Diktator.

Evren: Jeder kann einen Esel ins Parlament wählen lassen.

Madra: Menderes war auch korrupt.

Evren: Aber er hatte eine Liebesgeschichte, eine schöne sogar.

Özgür: Und Erdoğan hat keine. Obwohl, vielleicht hat er eine . . .

Madra: Kann ich eine kleine Geschichte erzählen? Als Menderes regierte, war ich ein kleines Mädchen. Ich lebte im Istanbuler Viertel Teşvikiye. Gegenüber der Moschee lebte die Freundin von Menderes. Immer, wenn er ankam, gingen alle Leute raus, um zu sehen, was los war. Jeder wusste: heute ist er gekommen, heute ist er gefahren.

Özgür: Das war damals sehr romantisch, was?

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Madra: Es war sehr romantisch. Sie war Sopranistin. Es war eine Seifenoper!

Gözde Kazaz muss gehen. Es ist der Geburtstag von Hrant Dink, dem armenischen Journalisten und Herausgeber der Zeitung Agos, für die Kazaz arbeitet. Er wurde verfolgt und auf offener Straße erschossen. Heute findet zu seinen Ehren eine Preisverleihung der Zeitung statt.

Özgür: Ich wäre so gern optimistisch, aber ich kann nicht. Manchmal trifft das türkische Volk keine Schuld, sie können einfach nicht entscheiden, wen sie wählen und unterstützen sollen. Ich sehe sie als unschuldig an. Ungebildet oder unschuldig, das kommt aufs Gleiche. Erdoğan wird gewinnen, bis die Opposition sich auf einen starken Kandidaten einigen kann. Bis dahin habe ich wenig Hoffnung.

Yetişkin: Ich glaube, Hoffnung ist auch Kapital. Hoffnung ist im Moment funktional. Sie ist dafür da, das konventionelle politische System zu stützen. Aber das konventionelle politische System ist korrupt. Es funktioniert nicht. Globale Wirtschaftsmächte regieren die Welt, nicht die Politik.

Evren: Ich mag es nicht, über globales Finanzkapital zu reden. Wichtiger ist für mich Empowerment, Selbstermächtigung. Wenn wir über die Macht des Finanzkapitals reden, fühlen wir uns selbst machtlos. Interessanter sind Menschen, die kleine Dinge tun, die uns Macht geben. Für mich waren die arabischen Revolutionen echte Revolutionen. Da werden viele Leute in der Türkei anderer Meinung sein. Es waren Revolutionen, weil sie die Leute bemächtigt haben. Auch wir haben seit Gezi eine neue Gesellschaft, junge Leute, die selbstbewusster sind. Die Machtspiele der Könige werden sich ändern, neue Könige werden kommen, das Geld kommt und geht und Menschen werden abgeschlachtet. Aber es gibt Menschen, die etwas dagegen tun können – oder eben nicht. Und diese Menschen müssen stark sein, mächtig. Sie müssen einander vertrauen, anders wird es nicht funktionieren.

Langsam brechen sie auf. Zu einer Party auf der anderen Seite der İstiklâl, bei der sich die Kunstszene trifft.

Akşit: Hey, wir haben nicht über die Zensur gesprochen. Wir haben nicht über die Armenier gesprochen. Ein Riesenthema!

Madra: Das größte Problem ist, dass die Türken sich niemals mit ihren Traumata auseinandergesetzt haben. Es gibt keine Erinnerung.

Viktoria Morasch, 27, taz.am wochenende-Redakteurin, lebte ein halbes Jahr lang in Istanbul

Fatma Aydemir, 28, ist taz-Redakteurin. Ihr erster Roman pendelt zwischen Berlin und Istanbul

Bradley Secker, 28, ist freier Fotograf. Wenn er nicht auf Reisen ist, arbeitet er in Istanbul

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