Auszeichnung für Theaterprojekt: Pädagogik? Fehlanzeige
Das Hamburger „Theater am Strom“ erzählt Kindern von Obdachlosigkeit oder dem Leben der Sinti. Jetzt wird die Ausdauer der Macherinnen belohnt.
Ein Theater so nah an den Schulen dran, das sei einzigartig, sagt Richers – und eine große Chance: Die kurzen Wege machten es möglich, mit den Kindern und Jugendlichen auf verschiedenen Ebenen zusammenzuarbeiten. Denn ins Theater kämen Schulklassen, vor allem Grundschüler, immer seltener, erzählt sie. Aber auch anspruchsvollere Stücke für ältere Kinder und Jugendliche würden kaum nachgefragt.
Weil die Strukturen an den Schulen sich verändert hätten und alles fachgebunden sei, glaubt Richers. Heute sei es ein großer organisatorischer Aufwand für einen Lehrer, mit einer Klasse vormittags mal einen längeren Weg ins Theater zu machen. Und für die Kinder sei eben wiederum der Weg zur kurzweiligen Kultur am Smartphone ein kurzer.
Das sei einmal anders gewesen, erzählt Richers. Fünf Jahre lang hat sie am Hamburger Jugendtheater „Klecks“ gearbeitet, bevor es 1990 geschlossen und dann abgerissen wurde. 19 Jahre lang liefen dort Jugendstücke mit politischem Anspruch: über Aids, Apartheid. Das sei gut gegangen, immer sei es voll gewesen. Heute fehlten Strukturen, es mangele auch an einer Lobby.
Hinter der Tür zu den zwei großen Räumen des Theaters ist es still, dicke Betonwände halten den Schultrubel draußen. Das Einzige, was manchmal störe, sei die Schulglocke, sagt Richers beim Gang durch die beiden Stockwerke. Genutzt werden die Räume nicht nur für eigene Projekte und Proben: Zweimal in der Woche arbeitet das „Theater am Strom“ dort mit Schülern, bietet Workshops für Lehrer an und überlässt den Raum obendrein einer Stadtteiltheatergruppe.
Das Theater selbst ist mobil: Es gastiert auf nationalen und internationalen Bühnen, arbeitet mit anderen Schulen zusammen, mit Stadtteilzentren oder öffentlichen Bücherhallen zusammen.
Dass die Macherinnen deswegen oft als „Theatertanten“ missverstanden werden, ärgert Richers: Das sei eine große Diskriminierung, denn oft seien es Frauen, die so etwas machten. „Dann gibt es dieses Kindergartengefühl“, sagt sie: „Die werden schon gut betreut. Da kann man nur eine Grenze ziehen und sagen: Auf dieser Ebene bitte nicht mit uns reden.“
Um Pädagogik geht es den drei Frauen vom „Theater am Strom“ nur am Rande, im Zentrum steht die Beziehung, der Umgang miteinander, auch: die Wahrnehmung. Und professionelle Theaterarbeit. Richers zeigt auf die Lichtanlage über der Bühne, die die Kulturbehörde spendiert hat, damit die Stücke, die hier aufgeführt werden, auch ins rechte Licht gerückt werden können.
Und jetzt steht das kleine Theaterprojekt selbst einmal im Rampenlicht: Für das jahrelange Engagement bekommt das „Theater am Strom“ nun den Max-Brauer-Preis. Seit 1993 vergibt die Alfred-Toepfer-Stiftung den mit 20.000 Euro dotierten Preis – an Einzelpersonen und Einrichtungen, die das kulturelle, wissenschaftliche oder geistige Leben Hamburgs prägen, so heißt es.
Ausgezeichnet wurden in den vergangenen Jahren unter anderem das transnationale Kunstprojekt Hajusom, Hamburgs Geschichtswerkstätten oder auch Thalia-Intendant Joachim Lux.
„Mutig und zielstrebig“ nehme die freie Theaterformation gesellschaftspolitische Themen auf und vermittele sie professionell, begründet Michael Wendt vom Preiskuratorium die diesjährige Wahl. Außerdem engagierten sich die Macherinnen „maßgeblich und richtungsweisend“ im Struktur-Aufbau der Freien Szene und betrieben kontinuierlich Netzwerkbildung.
Für das dreiköpfige Theaterteam ist diese Anerkennung wichtig. Richers freut sich vor allem darüber, dass eine „kleine Form künstlerischer Zusammenarbeit, die weitgehend von der Risikobereitschaft aller Beteiligten getragen wird, in der Stadt öffentlich wahrgenommen und gewürdigt wird“.
Für einen gewissen Zeitraum sichtbar zu sein, das sei eine große Chance und Motivation, ergänzt Gesche Groth: Die kontinuierliche Arbeit am Netzwerk sei eben auch aus der Not geboren. Als freies Theater habe man dünne Wände oder gar keine Wände, sagt Richers. Da könne man nur anfangen, das konstruktiv zu nutzen und vernetzt zu arbeiten.
Auf klassisches Kindertheater setzt das „Theater am Strom“ in den letzten Jahren immer weniger, auch wenn es weiterhin unterhaltsame, charmante Kinderstücke wie „Gans der Bär“ ins Programm nimmt. Hinzugekommen sind vor allem engagierte Kinderstücke und Stücke im öffentlichen Raum, die Richers selbst schreibt.
Es sind Stücke wie „Im Herzen von Hamburg“, das sich aus der Perspektive von Nicht-Sinti mit der Geschichte und Gegenwart der Sinti im Stadtteil Wilhelmsburg auseinandersetzt; entstanden in enger Zusammenarbeit mit der Familie Weiss entstanden ist, die dort seit über 100 Jahren lebt. Beleuchtet werden darin neben Täterbiografien aus der Nazizeit auch einzelne Schicksale aus der Nachkriegszeit sowie der jüngeren Gegenwart.
Auch die aktuelle Produktion „Immer weiter“ beschäftigt sich mit einem gesellschaftspolitischen Thema. Es sind Stoffe, die Richers „erwischen“, wie sie sagt. Immer wieder habe sie diese obdachlose Frau mit ihren acht Einkaufswagen gesehen, lange habe sie mit Groth und dem Musiker Frank Wacks dann recherchiert: Wie sieht die Stadt für diese Frau aus, welche Erfahrungen macht sie? Wie fühlt, hört sich die Stadt für sie an, welchen Takt hat ihr Alltag zwischen dem Café mit Herz, der Kemenate und dem warmen Klo in der Michaeliskirche, dem „Hamburger Michel“?
Herausgekommen ist ein ungewöhnliches Kindertheaterstück, das Dokumentation, einen eindringlichen Text, eine lärmende Großstadtklangkulisse und Filmeinspielungen eindrucksvoll zusammenführt und das Leben einer Obdachlosen auch für Kinder nachvollziehbar macht. Dafür übrigens gibt es Anfang Oktober gleich den nächsten Preis für das „Theater am Strom“: den Kindertheaterpreis der Hamburger Kulturstiftung.
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