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Der Überzeugungstäter Seit fast 40 Jahren lebt Christian Herwartz in einer WG, die Obdachlose aufnimmt, seit 20 Jahren demonstriert er vor dem Abschiebegefängnis in Grünau: Auch mit 72 Jahren ist das Engagement des Jesuiten für Flüchtlinge, Arme und Ausgestoßene ungebrochen„Was in meinemHerzen eintätowiert ist, darf ruhig nachdraußen kommen“

Interview Susanne MemarniaFotos Wolfgang Borrs

taz: Herr Herwartz, wir sind hier in Ihrer WG in Kreuzberg, in der Sie seit knapp 40 Jahren jedem ein Bett geben, der an Ihre Tür klopft. Wer ist denn heute da?

Christian Herwartz: Wer hier gerade wohnt, das will ich lieber nicht in der Zeitung lesen. Ich weiß es auch gar nicht. Denn wer zählt dazu: Wer hier gerade eine Nacht schläft? Wer sich hier zu Hause fühlt? Um ein Beispiel zu sagen: Es gab mal eine Frau, die hatte eine eigene Wohnung, aber dennoch fragte sie mich, ob sie hier sterben dürfe, in ihrem „Zuhause“, wie sie sagte. Zu der Frage, wie viele Menschen sich hier zu Hause fühlen oder unsere Wohnung als Lebensmittelpunkt sehen, könnte ich leicht eine hohe Zahl angeben.

Ist das nicht ein merkwürdiges Zuhause, mit permanent wechselnden Mitbewohnern?

Wir Jesuiten denken, wir sollten dahin gehen, wo wir nötig sind. Bei mir läuft es ein bisschen umgekehrt, dass die Welt zu mir kommt. Aber im Prinzip bin ich Pilger und darf das hier als meine Pilgerherberge ansehen. In meinem Schlafzimmer haben schon Leute aus 70 Na­tio­nen gewohnt. Die Welt ist mein Zuhause, und das darf sich hier ruhig widerspiegeln.

War das von Anfang an Konzept?

Konzept war hier gar nichts. Konzept war, als Arbeiterpriester in die Fabrik zu gehen und das Leben zu teilen, mit den Kollegen und dem Stadtteil. Ich bin 1978 nach Berlin gekommen, vorher hatte ich drei Jahre in Frankreich mit Arbeiterpriestern zusammengelebt. Ich bin dann auch hier arbeiten gegangen, zu Siemens, bis ich 2000 arbeitslos wurde. Seitdem lebe ich von meiner Rente – wir alle hier leben davon. Die offene WG kam mit der Zeit.

Wie denn? Haben Leute von den drei Jesuiten in der Naunynstraße gehört, geklingelt und gefragt, ob sie hier schlafen dürfen?

Mal hat ein Arbeitskollege oder irgendjemand, der in Not war, bei uns gewohnt. Der große Sprung kam, als wir so viele wurden, dass wir zwei Wohnungen brauchten. Die zweite Wohnung war eine ehemalige WG der ökumenischen Gemeinschaft Taizé, von denen nur noch einer da war. Da bin ich mit zugezogen. Die Taizé-Leute hatten die Gewohnheit, Flüchtlinge aufzunehmen, damals vor allem aus Bangladesch. Dadurch wurde immer bekannter, das man hier anklopfen kann und auch einfach mit leben kann. Wir hatten einen Raum mit zwölf Matratzen drin – es war einfach, jemanden mit aufzunehmen. Eine Matratze war eigentlich immer frei. Vor ein paar Jahren haben wir dann aber Betten eingeführt und die Zahl im Schlafzimmer auf sieben reduziert. Heute ist es daher nicht mehr so, dass jeder kommen und hier schlafen kann. Man muss auch schon mal Nein sagen können, wenn es voll ist.

Wann ist es bei Ihnen voll?

Das ist eine spannende Frage. Wenn man etwa eine Sterbende in der Wohnung hat. Dann kann man nicht noch schnell jemanden dazulegen. Dann ist der Respekt vor dieser Person dran.

Sagen nicht viele Leute: Hier ist es nett – kann ich bleiben?

So ist es. Jeder fragt nach einer Nacht, aber dann können schon mal sieben oder dreizehn daraus werden – Jahre. Das weiß man vorher nicht. Aber viele wollen irgendwann wieder mehr Platz, ein eigenes Zimmer haben.

Christian Herwartz über neue Gäste Wir hatten einen Raum mit zwölf Matratzen drin. Vor ein paar Jahren haben wir Betten eingeführt und die Zahl auf sieben reduziert. Heute ist es daher nicht mehr so, dass jeder kommen kann. Man muss schon mal Nein sagen können

Sie haben Ende Juni am Bundesgerichtshof einen Prozess gewonnen gegen die Flughafengesellschaft. Erzählen Sie mal!

Ich engagiere mich viel für Flüchtlinge, besonders für die in der Abschiebehaft. Zusammen mit anderen mache ich regelmäßig seit zwanzig Jahren eine Mahnwache in Grünau vor dem Gefängnis. Wenn man viel mit Menschen zusammenlebt, die Flüchtlinge sind und vielleicht sogar mal in dieser Haft waren, dann sieht man unsere Ausländerpolitik schon lange anders als die große Mehrheit der Bevölkerung. Wir wollten also auch vor dem neuen Abschiebeknast am Flughafen Schönefeld demonstrieren, der 2012 eröffnet wurde. Weil die Flughafengesellschaft uns das verboten hat, musste ich vor Gericht gehen.

Warum wurde das verboten?

Die Begründung war, das Gelände sei privat. Ist es natürlich nicht, es gehört zu 100 Prozent dem Staat. Die??? haben aber die Flughafengesellschaft eingesetzt, so dass man gar nicht mit dem Staat in Verhandlung treten kann. Dass eine private Gesellschaft einen Gefängniszugang blockiert – das geht doch nicht! Aber das ist unsere Gesellschaft: Der Staat privatisiert und übergibt hoheitliches Recht an private Gesellschaften. Und Freiheitsberaubung ist ja nun wirklich ein hoheitliches Recht. Das sind Menschen, denen der Staat die Papiere verweigert, sie damit zu Illegalen macht und dann ins Gefängnis setzt. Was ja schon an sich furchtbar genug ist. Aber das geht dann in einem Schnellverfahren, bei dem sich alle Haare sträuben. Bei dieser Art Asylverfahren wird noch nicht einmal ein Rechtsbeistand für den Flüchtling zugelassen.

Sie meinen das sogenannte Flughafenverfahren?

Ja. Das trifft zwar nicht sehr viele Flüchtlinge pro Jahr. Aber der Umgang mit ihnen ist so katastrophal, dass wir eine Mahnwache machen wollten.

Und jetzt haben Sie Recht bekommen.

Wir sind nicht die Ersten. Eine Frankfurter Gruppe wollte am dortigen Flughafenterminal demonstrieren. Acht Jahre musste sie prozessieren, 2011 hat sie vor dem Bundesverfassungsgericht gewonnen. Das Gericht begründete sein Urteil damit, dass der Terminal ein Ort ist, an dem man auch Kaffee trinken und promenieren kann – und wo man konsumieren könne, dürfe man auch eine politische Meinung äußern. Darauf habe ich mich berufen. Aber der Richter in Königs Wusterhausen hat gesagt: In Schönefeld, wo das Gefängnis steht, kann man nicht promenieren, da gibt es keinen Kaffee. Also geht das nicht. Das Landgericht hat das bestätigt. Die Richterin vom Bundesgerichtshof hat dann zum Anwalt der Flughafengesellschaft gesagt: „Reden Sie doch nicht von Promenieren, reden Sie von Straßenland.“ Sie sagte, das ist Straßenland in diesem Nebengelände vom Flughafen, wo die Verwaltung sitzt, die Abfertigung von Flugfracht, viele Büros. Und auf Straßenland kann man demonstrieren.

Klingt logisch.

Die Richterin ist noch einen Schritt weitergegangen. Darum ist das Urteil für mich wirklich wegweisend. Sie sagte: „Wenn ich auf Einkaufszentren wie das ­Alexa schaue, dann sind das doch die modernen Straßen. Wenn das aber Straßenland ist, kann man dort auch demonstrieren.“ So dass ich jetzt gespannt bin, wie das Urteil schriftlich formuliert wird. Und dann werde ich überlegen, demnächst mit einer Initiative vor einem Shop im Alexa eine Mahnwache anzumelden, um auf die katastrophalen Arbeitsbedingungen bei der Herstellung von Kleidung hinzuweisen.

Aus Ihrer WG heraus sind vor vielen Jahren die sogenannten Straßenexerzitien entstanden. Dabei geht es – wenn ich das richtig verstehe – darum, Gott in zufälligen Begegnungen, mitten im Leben zu finden. Ist Gott eher auf der Straße als in der Kirche?

Das Wort „Gott“ ist ein Hilfsmittel, um diesen Freiraum zu beschreiben, den wir nicht füllen können

Das Wort „Gott“ ist ja ein Hilfsmittel, um diesen Freiraum zu beschreiben, den wir nicht füllen können. Wir suchen ein Gegenüber für alles Unerklärliche und nennen das „Gott“. Aber das ist nicht die Bedingungen für Exerzitien auf der Straße. Die beginnen damit, dass ich frage: Worüber ärgerst du dich? Oder: Worüber wirst du traurig? Hinter diesem Ärger oder der Traurigkeit steht meine persönliche Sehnsucht. Dann suchen wir nach Wegen, wie wir diese Sehnsucht leben können. Wir schauen, wo uns diese Sehnsucht hinführt in der Stadt.

Was kann das sein?

Das ist ganz verschieden. Eine Frau hat zum Beispiel die Sehnsucht, dass jeder gesehen wird, und ihre Trauer ist, wenn eine Gruppe Menschen ausschließt. Über diese Sehnsucht hat sie Gott angesprochen: „Du, der mich schön ansieht. Du, dem ich nicht egal bin, bei dem ich nicht ausgegrenzt werde.“ Mit diesem Satz ist sie vor ein großes Krankenhaus gegangen und hat die Leute, die dort mit Gipsbein, Tropf oder im Rollstuhl standen, schön angeguckt. Und die nächsten Tage ist sie mit diesem Blick durch die Stadt gegangen. Dadurch kommt ein Prozess in Gang: Wo und wie will ich leben mit diesem Blick?

Ist das ein Gegenkonzept zur klassischen Meditation, bei der man sich zurückzieht, um sich zu finden?

Das ist gar nicht so anders. Wenn ich in die Stille gehe, in eine Meditation, dann stehe ich vor dieser Wirklichkeit, die ich selbst bin. Das tue ich auf der Straße auch. Dazu kommt, dass es noch äußere Inputs gibt, die mich auch auf mein Inneres hinweisen können. Das Schöne ist, dass es ein Ansatz ist, zu dem man alle Menschen einladen kann, egal welche Religion sie haben, welche Lebensgeschichte. Diese Sehnsucht hat jeder, sie sieht bei jedem anders aus, aber sie ergänzt sich unheimlich schön.

Wieso sind Sie Jesuit geworden?

Ich bin mit fünfundzwanzig Jahren in den Orden eingetreten. Ich hatte alles Mögliche gesucht, wollte etwas ganz leben. Das ist ja das Religiöse: nicht irgendein Teilgebiet eines Engagements, sondern dass es mich als ganze Person herausfordert. Ich meinte, dass dies besser in einer Gemeinschaft geht. Die Hoffnung war, in diesen internationalen Zusammenhang zu kommen, den man „Mission“ nennt. Das heißt ja nicht, dass ich den anderen etwas aufdrücken will. Sondern dass ich in die innere Offenheit dem anderen gegenüber trete und von ihm oder ihr lernen will. Das war das Zen­tra­le, warum ich in den Orden gegangen bin – und das ist mir hier auch geschenkt worden.

Haben Sie diesen starken Glauben von Ihren Eltern?

Man muss das selbst finden. Mein Zuhause war ein gutes Startkapital, aber ich bin nicht die Verlängerung meiner Eltern – keiner von uns. Da kommt immer ein Bruch in der Pubertät. Ich bin im Frieden mit meinen Eltern geblieben, aber ich kann von ihnen nicht meinen Glauben ableiten.

Dann im Kampf gegen sie?

Ein junger Mensch muss in den Widerspruch gehen, sonst kann er nicht er selbst werden. Aber ich konnte mit meinen Eltern immer gut reden. Mein Vater hat sogar, obwohl er bei der Marine war, meine Kriegsdienstverweigerung mitgetragen. Er war kein Militarist und ein bisschen philosophisch angehaucht.

Sie haben erzählt, eigentlich sei Ihre Idee gewesen, Arbeiterpriester zu sein. Was heißt das genau?

Die Arbeiterpriester sind in Deutschland im Zweiten Weltkrieg entstanden. Weil die Franzosen ihre Zwangsrekrutierten in der deutschen Wirtschaft irgendwie religiös begleiten wollten, haben sie Priester mitgeschickt. Wenn das allerdings herauskam, landeten die im KZ. In Frankreich ist das bis heute so ähnlich: Wenn ein Priester zur Arbeit geht, also in Solidarität mit den Kollegen – das ist der springende Punkt –, dann wird er entlassen, wenn das rauskommen sollte. Auch in Deutschland wäre das so. Darum geht dieser Schritt vom Für-Arbeiter-da-sein-Wollen in das Mit-ihnen-Leben nur, wenn man in diese Gemeinsamkeit eintritt: die Gemeinsamkeit, vor dem Chef zu stehen und angeschrien zu werden; gemeinsam den Lohn verweigert zu kriegen und all die anderen Sachen. Für mich als gläubiger Mensch ist das ein Schritt in die Menschwerdung. Denn die Vorstellung der Christen ist ja die, dass Jesus Gott ist oder in Einheit mit ihm war, und diese Vorzüge verlassen hat und Mensch geworden ist in Solidarität mit uns. Dieser Vorgang spiegelt sich wider, indem man von seinen Privilegien lässt und in die Fabrik geht. Und dort entdeckt, was die anderen Menschen einem zu sagen haben. Das Wichtigste für Menschen – auch für Priester – in der Fabrik ist, dass wir Lernende sind.

Denken Sie, dass Arbeiter – oder allgemeiner – Arme und Ausgeschlossene, eine besondere Wahrheit haben?

Dass sie die Besonderheit haben ausgegrenzt zu werden, ja. Die ich nicht kenne. Zumal als Priester in der Mitte der Kirche mit all ihren Privilegien.

Christian Herwartz

Der Junge: Christian Herwartz wird im Jahr 1943 in Stralsund geboren. Sein Vater ist U-Boot-Kommandant, er arbeitet auch nach dem Krieg bei der Marine. In Kiel geht Christian Herwartz nach Abbruch der Schule auf die Werft und lernt Dreher. Später macht er sein Abitur in Neuss. Herwartz hat fünf jüngere Brüder.

Arbeiterpriester und Pilger: 1969 tritt Herwartz dem Jesuitenorden bei, 1975 geht er für drei Jahre als Arbeiterpriester nach Frankreich. In Berlin lebt er seit 1978, er arbeitet bis zum Jahr 2000 bei Siemens. Nebenher wird seine Jesuiten-WG in Kreuzberg zu einer Obdachlosen-Pilgerherberge für Menschen aus aller Welt.

Der Jesuit: In der WG ent­wickelten Besucher mit den Jahren die Idee der Exerzitien auf der Straße, deren Konzept Herwartz nach einiger Zeit übernimmt. Inzwischen gibt er Kurse in ganz Deutschland und in den Nachbarländern. Außerdem veröffentlichte er zahlreiche Bücher. Mehr Infos im Netz unter: www.strassenexerzitien.de und nacktesohlen.wordpress.com

Aber Sie könnten in den Schoß der Kirche zurückkehren im Unterschied zu den Arbeitern. Ist das nicht etwas herablassend?

Da ist die Frage der Ernsthaftigkeit: Mache ich das, nur um etwas zu lernen – oder etwas zu leben? Geht das bis zum Tod oder ist das eine vorübergehende Angelegenheit? Für mich ging es erst zu Ende, als die Abteilung geschlossen wurde und ich entlassen wurde wie alle anderen. Es war auch gar nicht bekannt, dass ich kein „normaler“ Arbeiter bin.

Sie haben immer sehr viele Menschen um sich herum. Aber sind Sie als Priester nicht trotz allem immer außen vor? Sind Sie einsam?

Dazu möchte ich sagen: Wenn ich auf die Weltbevölkerung gucke, lebe ich hier in dieser Wohnung total normal – wenn auch nicht ganz so beengt, wie viele Menschen in Afrika oder Asien. Ich merke allerdings, wie anormal und besitzergreifend viele Menschen in Deutschland leben. Das gibt eine Einsamkeit, die kann ich gar nicht vermeiden.

Man sieht, dass Sie Ihre Arme fast vollständig tätowiert haben. Warum?

Nicht nur am Arm, am ganzen Körper. Mein Glaube hat sich nach außen gezeigt. (Er weist auf seinen linken Arm.) Das ist der brennende Dornbusch von Mose. Die Geschichte ist mir sehr wichtig, weil er darin mit achtzig Jahren kapiert hat, dass er persönlich gerufen wurde. Andere Tätowierungen betreffen andere Themen, die in Bildern wahrnehmbar sind. Ich habe in der Bibel gelesen, dass das Herz Gottes tätowiert ist. Was ist darauf tätowiert? Darüber kann man rätseln. Dein Name zum Beispiel, dass er ihn nicht vergisst. Was in meinem Herzen eintätowiert ist, das darf ruhig nach draußen kommen – und darüber haben wir die ganze Zeit gesprochen: der Wunsch nach Liebe, nach Offenheit, nach Achtung des anderen und meiner selbst.

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