: Lieber keine Zukunft?
ANDERSWÄRTS Die schlechte Nachricht: Die westliche Industriegesellschaft ist am Ende. Die gute: Echte Veränderung von Gesellschaft und Wirtschaft ist möglich, sagt der Sozialpsychologe Harald Welzer. Aber nicht mit unseren Parteien und ihrem Personal. Und schon gar nicht mit den Grünen
■ Ein paar Gedanken aus Harald Welzers Werk „Selbst denken“ (S. Fischer), die helfen, mit dem Selberdenken schon mal anzufangen:
1 Alles könnte anders sein.
2Es hängt ausschließlich von Ihnen ab, ob sich etwas verändert.
3Nehmen Sie sich deshalb ernst.
4Hören Sie auf, einverstanden zu sein.
5Leisten Sie Widerstand, sobald Sie nicht einverstanden sind.
6Sie haben jede Menge Handlungsspielräume.
7Erweitern Sie Ihre Handlungsspielräume dort, wo Sie sind und Einfluss haben.
8Schließen Sie Bündnisse.
9Rechnen Sie mit Rückschlägen, vor allem solchen, die von Ihnen selber ausgehen.
10Sie haben keine Verantwortung für die Welt.
VON PETER UNFRIED
Die S-Bahn kommt zum Stehen. Es knarzt in den Lautsprechern. „Liebe Fahrgäste“. Ah ja. Jetzt werden einem wieder Storys vom Pferd erzählt. Grund für die Verspätung ist eine Verzögerung im Betriebsablauf. Was heißt, dass man verspätet ist, weil man verspätet ist. Aber dann sagt der Fahrer: „Grund für die Verzögerung ist ein unfähiger Fahrdienstleiter.“
Als er das erzählt, kriegt sich Harald Welzer, der Sozialpsychologe, nicht mehr ein vor Begeisterung. Das hat Zukunft! Wir kommen darauf zurück, warum.
***
Wir sind am Ende. Genauer gesagt: Die Art, wie westliche Industriegesellschaften produzieren und leben, ist am Ende. Wir müssten uns radikal ändern. Stattdessen klammern sich alle an die Gegenwart und an einen Status quo, von dem zumindest die Nichtkomplettbescheuerten genau wissen, dass er nicht zu halten ist, wenn die Ressourcen weiter so systematisch übernutzt werden.
Das Problem, sagt Welzer: Wir haben keine Vorstellung mehr von einer guten Zukunft. Zukunft wird mit Abstieg gleichgesetzt. Also lieber keine Zukunft.
Ist der Kapitalismus schuld? Welzer schaut, als sei das eine Fangfrage. „Ja“, sagt er dann.
Er empfängt im Büro seiner Stiftung Futurzwei am Hackeschen Markt in Berlin-Mitte. Holzboden und auch sonst sehr repräsentativ, wenn man mal davon absieht, dass man durch die weite Fensterfront auf einen Plattenbau guckt. Welzer kam selbst leicht zu spät. Die S-Bahn.
Also, der Kapitalismus sei historisch einzigartig erfolgreich. Gewesen.
Er brachte Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Bildungs- und Gesundheitsversorgung. Aber: Die an dieses Wirtschaftssystem gekoppelten emanzipativen Potenziale seien nicht nur ausgeschöpft, sagt er, sondern schlügen ins Gegenteil um, weil die Warenproduktion aus dem Ruder läuft.
Das System und seine Waren, sagt er, würden den Menschen die einst gewonnene Fähigkeit, Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen, wieder aus der Hand nehmen. Autos, die selbst einparken, und mobile Endgeräte, die alles Übrige erledigen, sind für ihn keine Entlastung, sondern Entmündigung und „leerlaufende Innovationen“. Ob Auto-, Energie- oder Medienkonzerne: Sie beharren auf dem, was sie tun, und nennen „Innovation“, was sich in reiner Umlackierung erschöpft.
Verbesserte Einpark-Automatik, alldieweil das Auto weiter Unmengen fossilen Brennstoffs verbraucht. Problemlösung ist, wenn man am Hamsterrad rumschraubt, damit es schneller läuft.
Welzer wirkt sehr entspannt. Grundsätzlich und auch im Moment. Wenn ihn etwas sorgt, dann dass er sich langweilen könnte.
Es gibt kein Modell für die Zeit nach diesem Kapitalismus, der nur auf Wachstum beruht, aber immerhin das Wissen, dass Korrektur im Bestehenden nicht möglich ist, sagt er. Wer Zukunft haben will, darf sie nicht vom Status quo aus begreifen. Sondern muss von einer wünschbaren Zukunft aus zurück in die Gegenwart denken. Was muss ich heute verändern, um diese Zukunft möglich zu machen?
Mag sein, dass es den einen oder anderen irritiert, dass Welzer, 54, von Weitem aussieht wie ein Tiroler Skilehrer. Nichtsdestotrotz war er ein ordentlicher deutscher Sozialpsychologe von Professorenrang, der sich mit Erinnerungskultur, Tätern, Aufarbeitung deutscher Vergangenheit und privat mit dem Sammeln von Autos beschäftigte, wie sich das gehörte.
Er erlebte keinen Schicksalsschlag, kein Erweckungserlebnis. Und dennoch veränderte er sich und ist heute Deutschlands führender Intellektueller für Klimakultur und die Frage, warum trotz des Wissens darum alle den Klimawandel ignorieren.
Mit der Stiftung Futurzwei ging Welzer den nächsten Schritt: „Raus aus dem Wissenschaftsbetrieb und hin zur Praxis.“ Futurzwei liefert Geschichten einer „nachhaltigeren Wirklichkeit“, also über Menschen, die es anders machen. In der Praxis. Als Sozialpsychologe weiß er, dass weder Wissen noch Einsicht zu anderem Handeln führen, sondern nur erlebte Praxis.
Jetzt ist sein Buch „Selbst denken“ bei S. Fischer erschienen. Es ist das bisher fehlende Werkzeug zur Selbstermächtigung nicht vollständig gelähmter Individuen in einer unerklärlich selbstmitleidigen Gesellschaft. Ohne Zweifel das wichtigste Buch des Jahres, um es mal vorsichtig auszudrücken. Botschaft: Veränderung gelingt durch praktiziertes Nichteinverstandensein – auch gegenüber sich selbst.
Die übliche Haltung ist ja: Was kann ich schon tun? Kinder zeugen oder kriegen, dann Familie; als Konsequenz einer fehlenden gemeinschaftlichen Idee von Zukunft.
Welzers These: Das Neue beginnt, wenn man eine Geschichte über sich erzählen kann, in der man Teil einer Gemeinschaft ist, die sich aktiv verändert.
Blenden wir also über in die Arztpraxis von Uwe Kurzke auf der nordfriesischen Insel Pellworm. Bei Husum, südlich von Sylt, 37 Quadratkilometer groß.
Kurzke ist der Inselarzt. Vor etwa zwanzig Jahren gründete er mit anderen den Verein „Ökologisch wirtschaften“. 70 Prozent der etwa 1.000 Insulaner produzieren mit Wind und Sonne selbst Strom, 42 Familien gehört ein Bürgerwindpark. Sie verdienen gut mit dem Stromexport.
Man kann in und mit einer Gesellschaft etwas verändern. Allerdings nicht schnell mal und nicht nebenbei. Es ist ein harter Weg des Widerstands. „Ich habe unterschätzt, wie lange das braucht“, sagt Kurzke.
Es ist Mittagszeit. Der Doktor sitzt in seiner Praxis. Er hat einen schönen grauen Schnauzer, den der Reporter aber nicht sehen kann, denn das Gespräch findet am Telefon statt. Und er hat einen angenehmen Humor. Den braucht man vermutlich, um so lange dranzubleiben.
Kurzke stammt aus Nordrhein-Westfalen, geboren 1954, geprägt von den gesellschaftspolitischen Entwicklungen der Siebziger. Er ging mit seiner Frau auf die Insel, weil sie das spannend fanden und „weil sie sich hier immer spüren“. Die Frage, die man sich vor einem Engagement stellt, ist ja: Lohnt sich das denn? Oder reibe ich mich auf, und am Ende dankt es mir keiner? „Wenn es sich nicht gelohnt hätte, wäre ich nicht mehr hier“, sagt Kurzke.
Es geht nicht nur um die Sache, es geht um die politische Macht. Und die Macht der Gewohnheit. Der Bürgerwindpark – eigentlich das Symbol für eine Gemeinschaft, die in die Zukunft weist – spaltete Pellworm bis in einzelne Familien hinein. So etwas eskaliert dann nicht in ein reinigendes Rumgeschreie bei einer der vielen Versammlungen. Das macht man auf so einer Insel nicht. Die Fraktionen zischen vor sich hin.
Heute sind Windkraftwirtschaft, Ökolandbau und umweltbewusster Tourismus einerseits Mainstream, andererseits hören Bedenken und Rückschläge nie auf. Vieles klappt nicht. Ein Zukunftskonzept von 1990 brauchte fast ein Vierteljahrhundert, bis es nun im Gemeinderat positiv diskutiert wird.
Längst nicht alle Pellwormer verstehen sich als Teil einer Aufbruchgeschichte. Manche auch als Teil einer Problemgeschichte. Die Insel ist klamm, ihre Erneuerbare-Energie-Wirtschaft soll nicht die Welt retten, sondern wie der Ökolandbau Familien ökonomisch ermöglichen, auf der Insel bleiben zu können oder gar hierherzukommen. Wenn noch mehr weggehen, macht die Schule irgendwann zu, dann schrumpft und überaltert Pellworm noch mehr, und irgendwann ist der Laden zu.
Kurzke denkt in Arbeitskreisen über neue Zukunftswege nach, über ein Inselgrundeinkommen. Aber wenn er eines gelernt hat, dann dass es nicht auf „schlaue Ideen“ ankommt, sondern darum, „möglichst viele ins Boot zu holen und deren Bedürfnisse und Ideen unterzubringen“. Unendlich mühsam. Wie soll eine große Wende weltweit funktionieren, wenn man schon ein paar Insulaner so schwer in Bewegung bringt? „Na, eben lokal“, sagt Kurzke.
Was man denke und tue, verpufft hier auf der Insel nicht einfach. Schon gar nicht als einziger Arzt, zu dem alle kommen. Die Begrenztheit der Insel führt auch dazu, dass der Mensch ökologische Veränderung tatsächlich spürt. Dass er merkt, wie sich das auf alles andere auswirkt. Und trotzdem zögert er.
Kurzke sieht Pellworm nicht als gelungene, aber als „gelingende Geschichte“. Von seiner Küche aus kann er den Windpark sehen. Manchmal denkt er dann: So weit sind wir jetzt. Immerhin. So weit wären wir nicht, wenn wir nicht angefangen hätten.
Die Geschichte gefällt dem Sozialpsychologen Welzer. „Vor allem weil sie keine Eiapopeia-Geschichte ist.“ Lokalisierung als Antwort auf die Globalisierung ist für ihn eine Notwendigkeit, um die Leitprinzipien der Gegenwart mit dem Ausprobieren des Gegenteils zu kontern.
Man muss mit Welzer nicht darüber streiten, dass es in der Gesellschaft kein weit verbreitetes Bedürfnis nach Strukturveränderungen gibt, und auch nicht, dass Bürgerprotest in der Regel kurzatmig und kurz gedacht ist – gegen Startbahnen oder einen Tiefbahnhof, nicht gegen die fehlende Zukunftsfähigkeit unserer Mobilität.
Aber das Hauptproblem ist für ihn, dass die Politik in den Modus eines „verhängnisvollen Illusionismus“ übergegangen sei. Das heißt: Europakrise, Klimakrise, Finanzkrise: Die Politik tut nur noch so, als könne und wolle sie gestalten. Keine Partei habe ein Programm, das den Umbau der Industriegesellschaft enthalte. Aber die Grünen hält er für besonders problematisch, weil sie „nach ihrem eigenen Selbstbild diejenigen sind, die für Veränderung stehen und das Rezeptwissen dafür haben“.
Haben sie aber nicht. Der Green New Deal, das Versprechen eines nachhaltigen Wachstums, ist für Welzer maximal illusionistische Politik. Weil das, was an Effizienz gewonnen wird, sofort in Mehrproduktion umgesetzt wird und also innerhalb der Wachstumslogik relativ bleibt. Für ihn ist Postwachstum zwingend: weniger Autos, nicht mehr „grüne“ Autos.
Pars pro toto für den grünen Irrglauben steht für ihn Fritz Kuhns legendärer Slogan „Mit grünen Ideen schwarze Zahlen schreiben“, mit dessen Hilfe er die Oberbürgermeisterwahl in Stuttgart gewann. Welzer schüttelt sich. „Da war ja schon Ludwig Erhard weiter.“ Der Wirtschaftsminister Adenauers hatte die Notwendigkeit, sich für die Zeit nach dem Wachstum zu rüsten, bereits während des „Wirtschaftswunders“ thematisiert. Ein Zukunftshorizont, der über das Bestehende hinaus weise, fehle in der politischen Kommunikation heute komplett. Speziell von den Jüngeren komme nichts. Was ihn nicht wundert. Der Sozialisationseffekt und Anpassungsdruck in allen Parteien seien zu stark.
Nun muss man aber auch fragen, was Politiker schlussfolgern müssen, wenn in Hamburg eine Regierungskoalition eine Kleinigkeit ändern will, nämlich die Grundschule um zwei Jahre verlängern. Und das Ergebnis ist: Revolte der eigenen Wähler, Reform gekippt, Ole von Beusts historische erste schwarz-grüne Regierung auf Landesebene abgewählt, CDU beschädigt, Grüne beschädigt, und das Wort Schulreform darf ein Jahrzehnt nicht mehr ausgesprochen werden.
Wo soll denn da parteipolitische Dynamik herkommen?
„Eben nicht da her“, ruft Welzer, „innerhalb von Parteien kann es keine Dynamik geben. Jetzt verstehen Sie das doch mal.“ Offenbar ist er etwas indigniert ob der geistigen Immobilität um sich herum. „Dynamik kommt nie aus der Box, sondern nur von ‚out of the Box‘.“
Mal sehen, was Ole von Beust zu Welzers Vorwurf der illusionistischen Politik sagt. Von Beust empfängt in seiner Anwaltskanzlei, einen Kilometer vom Rathaus entfernt, in dem er ein Jahrzehnt die Stadt und den Staat Hamburg regierte, mit absoluter CDU-Mehrheit, mit den Grünen. Der Freiherr serviert den Kaffee persönlich. Er sieht gut aus, und auch er wirkt sehr entspannt.
Er zählt auf, was alles gemacht wurde. Und wie die Bildungsreform scheiterte. Ein gutes Zeichen, weil Menschen sich in politische Prozesse einbringen, oder ein Indiz, dass man Veränderung als Bedrohung begreift?
Für ihn, sagt von Beust, bleibe die Erkenntnis, dass solche Veränderungen mehr Zeit bräuchten. Er veranschlagt inzwischen zehn Jahre für so einen Erklärungsprozess. Aber eine Zeitspanne von zwei Legislaturperioden kennt die Politik nicht. Tja, sagt er: „So ist Demokratie.“
Dementieren Sie Welzers These, dass Politik kein Projekt mehr kennt und nur noch Gestaltung vortäuscht?
■ Das Thema: Deutschland ist eine reiche und freie Gesellschaft. Dennoch tun fast alle so, als seien Finanzkrise, Klimawandel und Zukunftslosigkeit schicksalhaft und die Einzelnen hilflos und ohnmächtig. Es gibt keine Vorstellung von Zukunft – außer, dass alles schlechter wird. Daher klammern sich alle an den Status quo, die Politik produziert Illusionen. Bedarf es einer neuen Aufklärung und einer anderen Politik der Zivilgesellschaft – und wie sieht die aus?
■ Das Gespräch: Im taz.lab 2013 am 20. April spricht taz-Chefreporter Peter Unfried mit Harald Welzer über die Frage, warum Selberdenken so schwer fällt. Als führender Intellektueller für Klimakultur hatte Welzer mit Claus Leggewie erstmals die Leerstelle zwischen dem bekannten Wissen über die Bedrohung durch den Klimawandel und dem praktischen Ignorieren und Nicht-Handeln besetzt.
■ Das taz.lab: „Erfindet. So kann es nicht weitergehen“ heißt es am Samstag, 20. April, im Haus der Kulturen der Welt in Berlin. Mit dabei auch: Claus Leggewie, Anke Domscheit-Berg, Richard Sennett. Mehr unter: taz.de/tazlab
■ Der Termin: Am 16. März schon diskutiert Peter Unfried mit Welzer und Daniel Cohn-Bendit: Was ist Politik im 21. Jahrhundert? 19.30 Uhr, Neues Schauspiel Leipzig
Stille.
Ja oder nein?
„Ich denke grade drüber nach.“ Er lacht. „Ja, doch, im Wesentlichen ist es so.“
Das Zukunftsmodell der CDU? „Im Grunde ist das Zukunftsmodell, dass es möglichst so bleibt, wie es ist.“ Andererseits sei eben das Bedürfnis der Leute nach Nichtveränderung „riesig“. Wahlen gewännen Politiker, die glaubhaft für eine ordentliche Verwaltung des Status quo stünden. Olaf Scholz in Hamburg, Stephan Weil in Niedersachsen, Angela Merkel in Deutschland.
„Merkels hohe Popularität kommt doch nicht, weil die Leute denken, die meistert die Eurokrise so toll. Das kann keiner beurteilen, ich letztlich auch nicht.“ Sagt er einfach so nebenbei.
Der Kanzlerin, sagt er, werde „ein Grundvertrauen entgegengebracht wie einer Hausärztin. Die macht das schon irgendwie. Man hat ein Problem, und die sagt: Da schreibe ich Ihnen was auf. Und man denkt: Prima, die schreibt was auf.“
Dass Merkel immer gleich aussehe und alle Probleme mit Gelassenheit und Gleichmut anzugehen scheine, wirke sehr beruhigend auf die Leute.
In seinem bemerkenswerten Buch „Mutproben“ hat von Beust das Wort „konservativ“ auf einen „Kampfbegriff gegen Veränderung“ reduziert und damit als irreales Konzept angesichts der Realität des 21. Jahrhunderts. Er selbst, sagt er, sei Christdemokrat, „kein Konservativer“.
Es heißt immer, alle Parteien seien sozialdemokratisch. Sind nicht in Wahrheit alle konservativ? „Wenn Sie konservativ als mangelnden Willen zu Veränderung definieren, dann ist das bei CDU und SPD so, die Grünen gehen zumindest bei bestimmten Themen auf die Veränderung der Zeit ein.“ Energiepolitik, Bildung. Er kann noch richtig schwärmen von den Grünen. Wenn er in Kabinettssitzungen mit denen redete, hatte er das Gefühl, es ginge ihnen um die Sache. Nachdem er 2001 Regierungschef geworden war, spürte er einen allgemeinen Wunsch nach Veränderung. Die SPD hatte allerdings auch 44 Jahre die Macht gehabt.
Das ließ dann schnell nach. Bei den Bürgern und in der eigenen Partei. Der Anfang einer Entwicklung, die in seinen freiwilligen Rücktritt 2010 mündete. Gestalten sei zwar politdeutsch. Aber wozu solle man sonst Politik machen. „Verwalten kann auch der Amtsrat“, sagt er. Heute weiß er, dass die Grundlage des Widerstands gegen seine Schulreform das Fehlen eines ganzheitlichen Zukunftsentwurfs war. Ohne den entstehe das Gefühl: „Und dann wird auch noch auf dem Rücken unserer Kinder experimentiert.“
Zum einen neige der Mensch nicht dazu, ohne große Not und Druck von außen Dinge zu verändern. Er auch nicht. Von Beust kramt sein Mobiltelefon raus. Teenager würden sich totlachen. Bitte, er habe zwar ein iPhone, aber keine Lust darauf. Zum Zweiten gebe es historische Wellen: nach dem Ruhebedürfnis der Adenauer-Zeit die Bewegung der Willy-Brandt-Jahre. Zum Dritten gebe es den Unterschied zwischen dem abstrakten Wunsch nach Veränderung und dem konkreten persönlichen Leben.
„Erst wenn es uns wirklich dreckig geht, entsteht ein Veränderungswunsch, aber dann muss die Verunsicherung über das Prekariat hinaus in den Mittelstand reingehen.“ Die dominanten Empörungen der vergangenen Monate zeigen ihm, dass es Verunsicherungen gibt, aber keine existenziellen.
Sehen Sie im Moment ein Zukunftsprojekt der Politik? „Nein. Leider nicht. Es gäbe welche. Europa. Integration. Energiewende.“ Bei der Frage, ob nicht Welzers Vorstellung, dass die Gesellschaft sich aufrafft, das wahre illusionistische Projekt sei, zögert er nicht. „Nein, das kann es geben. Es gibt viele Leute, die sich engagieren. Nicht überall, aber in bestimmten Projekten.“
Die Energiewende als gesellschaftliches Projekt, das hält er dann für möglich, wenn es für den Einzelnen fassbar wird. Das Problem der Konkretion einer gestaltenden Zivilgesellschaft seien die fehlende Organisation und die Verbindung der beiden Wünsche: etwas zu verändern und sich nicht binden zu wollen. „So ein Shitstorm im Internet verändert ja nichts.“
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Und was bitte bringt ein S-Bahn-Fahrer, der sich mit Berliner Schnauze über einen Kollegen aufregt – das rettet doch die Welt auch nicht?
Oho. Wer das sagt, sollte besser wissen, dass es sich da um Welzers Hassspruch handelt. In seinem Buch finden sich knackige Leitlinien. Eine lautet: Du musst nicht die Welt retten. Es genügt, den larmoyanten Stolz auf die eigene soziale Impotenz aufzugeben und seinen Handlungsspielraum zu nutzen.
„Der Fahrer verändert eine ganze Menge“, sagt Welzer. „Er denkt selbst, er leistet Widerstand, und er produziert eine Geschichte, die man weitererzählen kann.“ Dadurch steige die Wahrscheinlichkeit, dass andere es ihm nachtun. So wie die Wahrscheinlichkeit steigt, dass man seine apathische Zuschauerrolle verlässt, wenn man Zeuge einer Intervention gegen Skin-Gewalt in der S-Bahn wird. Oder sogar, wenn nur jemand davon erzählt.
So wie die Chance zum Handeln steigt, wenn Inlandflüge innerhalb einer Peergroup plötzlich als Abweichung vom Normalen erzählt werden. Wenn Eltern, die man kennt, ihre Kinder auf die Gesamtschule schicken statt aufs Gymnasium. Ohne Not und voller Überzeugung.
Große Veränderung, sagt Welzer, seien lange nicht mehrheitsfähig. Die Forderung des Postwachstumsforschers Niko Paech etwa, für eine Zukunft die Hälfte aller Flughäfen zu schließen. Das ist doch undenkbar für unsere Gesellschaft? „Ja, aber die Abschaffung der Sklaverei ging auch vielen Menschen zu weit. Der Mehrheit geht chronisch unheimlich viel zu weit.“
Was, wenn statt Abraham Lincoln Schwarz-Gelb an der Macht gewesen wären? „Dann“, sagt Harald Welzer, „hätte man die Sklaverei beibehalten, um den Wirtschaftsstandort zu sichern.“
Und mit Rot-Grün?
„Dasselbe. Aber die hätten dazu noch gesagt, dass die Menschenrechte auch wichtig sind.“
Okay, okay. Dynamik kommt nur von outside the box. Wer will, kann jetzt anfangen.
■ Peter Unfried, 49, taz-Chefreporter, ist zu Recht beleidigt, wenn jemand zu ihm sagt: „Du hast dich ja gar nicht verändert“
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