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Kommentar Proteste in der TürkeiHeuchelei und Tränengas

Deniz Yücel
Kommentar von Deniz Yücel

Mit der Beerdigung von Berkin Elvan meldet sich die türkische Zivilgesellschaft zurück. Es ist ein Schrei der Trauer und des Zorns: Es reicht!

Istanbul am Ende des Trauerzuges für Berkin Elvan: Gas, Gas, Gas. Bild: dpa

D ie Geschichte der Türkischen Republik ist reich an politischer Gewalt; kaum ein Datum, das nicht mit einer Bluttat verbunden wäre. Der 12. März zum Beispiel ist der Jahrestag des Militärputsches von 1971 und zugleich der Jahrestag des Massakers im Istanbuler Stadtteil Gazi im Jahr 1995.

Und seit nun ist auch der Tag, an dem Hunderttausende Menschen in Istanbul, Ankara, Izmir und weiteren Städten Berkin Elvan das letzte Geleit gaben, dem 15-jährigen Jungen, der nach der Räumung des Geziparks von einer Tränengaspatrone der Polizei getroffen wurde und am Dienstagmorgen nach 269 Tagen im Koma verstorben ist.

Es ist nicht ganz die Menschenmenge, die im Frühjahr vorigen Jahres auf der Straße war. Aber es sind deutlich mehr Menschen als in den vergangenen Wochen und Monaten, als es anlässlich der Korruptionsermittlungen immer wieder zu Protesten kam. Bei dem Schlagabtausch zwischen der islamischen Gülen-Bewegung und der AKP-Regierung war die Zivilgesellschaft in der Zuschauerrolle. Nun ist sie zurück, zu einem unendlich traurigen Anlass.

Zwei Tote

Bei den jüngsten Anti-Regierungs-Protesten in der Türkei soll es Medienberichten zufolge zwei Tote gegeben haben. Wie die Nachrichtenagentur Dogan in der Nacht auf Donnerstag online meldete, erlag ein Polizist im Krankenhaus der Stadt Tunceli einem Herzinfarkt. Er wurde demnach eingeliefert, nachdem er einer großen Menge Tränengas ausgesetzt war.

In Istanbul starb Dogan zufolge ein 22-Jähriger nach Zusammenstößen im Stadtteil Okmeydani an einer Kopfverletzung. Die jüngsten Proteste im Land hatte der Tod eines von der Polizei vor neun Monaten verletzten Jugendlichen entfacht.

Sieben Jahre nach dem Mord am türkisch-armenischen Publizisten Hrant Dink ist ein Teil der türkischen Gesellschaft wieder in der Trauer vereint, während die Anhänger der AKP und die ihr nahestehenden Medien den Demonstranten vorwerfen, den Tod von Berkin zu instrumentalisieren – ganz so, als ob Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan sich nicht gerühmt hätte, der Polizei die Befehle erteilt zu haben, als ob der Istanbuler Gouverneur Hüseyin Avni Mutlu oder der Staatspräsident Abdullah Gül in den neun Monaten, die Berkin im Koma verbrachte, ein Wort der Anteilnahme gezeigt hätten.

Gewachsene Ansprüche

Das Beileid, das sie nun ausdrücken, ist verlogen. Denn es hat keine Konsequenzen. Es gibt keine ernsthafte Bemühung, diejenigen dingfest zu machen, die für Berkins Tod verantwortlich sind. Und der türkische Staat reagiert auf die jetzigen Proteste auf dieselbe Weise, wie er seit Gezi stets reagiert: Gas, Gas, Gas, gern auf Kopfhöhe abgeschossen.

So wie die fünf unmittelbar bei den Gezi-Protesten getöteten Demonstranten entstammte Berkin aus der alevitischen Minderheit. Auch die Opfer des Massakers von 1995 waren Aleviten; der jüngste der damals von der Polizei erschossenen 17 Menschen, Sezgin Engin, war 16 Jahre alt, kaum älter als Berkin.

Doch die Türkei ist nicht mehr dasselbe das Land wie 1995. Damals gab es einen Schießbefehl, im Vergleich dazu – und nur im Vergleich dazu – ist das Vorgehen der Polizei etwas weniger entfesselt. Heute trauert wenigstens ein Teil der Gesellschaft wegen des gewaltsamen Todes eines 15-Jährigen. Und die Gesellschaft von heute formuliert andere Ansprüche – Ansprüche an Demokratie, die einst auch die AKP formuliert hatte, ehe ihre Herrschaft immer autoritärere Züge annahm.

Gemessen an diesen Ansprüchen aber ist es ein Skandal, dass ein 15-Jähriger von der Polizei getötet wird und die Regierung so tut, als handle es sich dabei um einen bedauerlichen Verkehrsunfall.

Doch Berkin Elvan ist nicht durch die Verkettung unglücklicher Umstände gestorben. Für seinen Tod verantwortlich ist eine Regierung, die einst mit dem Versprechen angetreten ist, die Gewaltgeschichte zu beenden, aber sie nur um neue Kapitel ergänzt hat. Die Menschen, die auf Berkins Beerdigung waren, haben ihm die letzte Ehre erwiesen. Und sie haben in stiller Trauer oder im Zorn herausgeschrien: Yeter artık! Es reicht!

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Deniz Yücel
Kolumnist (ehem.)
Von Juli 2007 bis April 2015 bei der taz. Autor und Besonderer Redakteur für Aufgaben (Sonderprojekte, Seite Eins u.a.). Kurt-Tucholsky-Preis für literarische Publizistik 2011. „Journalist des Jahres“ (Sonderpreis) 2014 mit „Hate Poetry“. Autor des Buches „Taksim ist überall“ (Edition Nautilus, 2014). Wechselte danach zur Tageszeitung Die Welt.
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15 Kommentare

 / 
  • M
    Murat

    @Hasan

    Öcalan ging es im türkischen Knast gut. Sogar äußerst gut. Ungewöhnlich gut für das was er verbrochen hat. Anschläge auf Kindergärten z.B. Der ein oder andere politische Häftling ist nach einem Jahr im türkischen Gefängnis nicht wieder zu erkennen. Öcalan ist seit 1999 jahrelang wohlgenährt und gesund durch den Knast gekommen.

    http://www.deutsch-tuerkische-nachrichten.de/2013/02/468610/enthuellt-so-lebt-pkk-fuehrer-oecalan-auf-imrali/

    Hat er seine PKK aus dem Gefängnis weitergeführt? Es gibt zumindest Spekulationen darüber. Wie ist eine Freilassung zu werten? Ein Deal? Mit Erdogan? Bewahrheitet sich doch der Plan einen eignenen Kurdenstaat zu schaffen wie im Greater Middle East Project beschrieben? eine Abtretung bisher türkischen Gebiets. Was die Ethnien betrifft: Die Türkei setzt sich us dem EX-Osmanischen Reich zusammen. Eine einheitliche Ethnie gibt es nicht. Das ist kein Argument Kurden einen eigenen Staat zu geben. Außerdem rassistisch, oder? Ja, überall wird doch prpagiert unterschiedliche Ethnien solen friedlich zusammenleben. Warum nicht hier in einem Staat Türkei?

  • M
    Max

    Herr Yücel,

     

    Ihnen ist unumwunden beizupflichten.

    Es wäre allerdings erfeulich, wenn sie mit gleichem Furor die Ungerechtigkeit solchen polizeilichen Vorgehens beklagten, wenn es in der Westbank passiert und die Täter israelische Soldaten sind. Das passiert dort nämlich ständig in exakt der gleichen Weise. Leider haben Sie für Menschen, die das thematisieren in der Regel nur einen Kübel Hohn und den unterschwelligen Vorwurf des Antisemitismus übrig ...

    Es ist aber gerade vor diesem Hintergrund schön zu lesen, dass auch Sie wütend und empört sein können und nicht nur ironisch, sarkastisch, zynisch und polemisch.

    • 8G
      889 (Profil gelöscht)
      @Max:

      Na, was soll man denn auch von Leuten halten, die sich in Nahost über jeden Furz empören, und kein einziges Wort über die Westsahara verlieren?

      • T
        tim
        @889 (Profil gelöscht):

        wie lange dauert der konflikt in nahost jetzt schon an?

  • H
    Hasan

    Herr Yücel, warum berichten Sie nicht mal, über die Massaker der Kurden (PKK). Welches mehrere zehntausende Menschen (darunter auch Baby, Kinder u. Jugendliche) umgebracht worden sind. Oder über die Mordserie der NSU. Wo waren die Aleviten, als die Kurden (PKK) Menschen umgebracht haben. Den Aleviten hat es nicht gejuckt. Und sind die Aleviten so dreist und reden von Wichtigkeit des Menschen. Warum erwähnen Sie nicht, was die Aleviten unter dem Deckmantel linker Terrorismus gemacht haben. Das wären z.b. DEV-YOL, TIKKO, THKP, TKP-MLP,...etc. Die Aleviten sind keine assreinen Demokraten, wie Sie selber es immer behaupten.

    • HK
      Hasans kleine Schwester
      @Hasan:

      Warum lassen Sie hier Ihren Hass auf Aleviten los? Ist sonst alles normal bei Ihnen?

  • RW
    Rainer Winters

    Ab sofort:

     

    Die Türkei gehört NICHT in die EU.

     

    Aber nicht, WEIL sie anti-demokratisch und repressiv ist. Denn das ist sie ja. Sondern weil die EU und ihre stärksten Vertreter D und GB zunehmend anti-demokratisch, repressiv und seit Neuestem auch kriegstreiberisch (Krimkrise) sind.

     

    Ein Beitritt der EU würde die Anti-Demokratie und Repressivität nur noch verstärken.

     

    Wir brauchen keinen neuen Achsenmächte-Pakt gegen Russland.

    • @Rainer Winters:

      @ RAINER WINTERS Herr Winters, lassen sie bitte diese alte Suppe zur Seite. Bei jeder Angelegenheit nutzen die Leute wie Sie sofort EU-Beitritt der Türkei zu thematisieren. Haben Sie überhaupt über das Geschehenes in der Türkei was zu sagen? Ich würde gern Ihre Meinungen hören!

    • B
      Baris
      @Rainer Winters:

      Okay, abgemacht. Die Türkei wird ab jetzt nicht in die EU aufgenommen.

  • Es ist sehr bedauerlich, dass so ein junger Mensch sterben musste! Wofür?

    Die politische Geschichte in der Türkei hat viele Gesichter. Man sieht leider nur das Schaufenster. Der Background sieht anders aus. Im sichtbaren Bereich ist der "böse" Erdogan auf einer Seite und "Freiheitskämpfer" auf der Anderen. Die Realität ist nicht wie man durch das Schaufenster schauet. Um sie zu erfahren, braucht man analytisches Denkvermögen, Kenntnisse und Erfahrungen in der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Geschichte der Türkei.

     

    Die Verantwortung der AKP-Regierung ist ohne wenn und aber ein gerechtes System aufzubauen. Aber nicht allein, sondern mit anderen Denkenden zusammen. Leider haben die anderen Denkenden in der Türkei ein Feindbild vor ihrer Augen: Erdogan und seine Partei AKP. Anstatt eine konstruktive Politik durchzuführen, ersticken sie in ihrem Hass.

     

    Das Hauptproblem in der Türkei ist aber mehr als eine Gerechtigkeit. Unabhängig von der politischen Ansichten, unabhängig vom Glauben und unabhängig von der Abstammung hat die Türkei ein enormes Problem: ethische Werte in der Türkei sind auf dem Boden! Ohne diese Werte wieder zu beleben wird diese Gesellschaft mehr zugrunde gehen. Diese Werte können nur durch eine solide Bildungs- & Erziehungspolitik und durch ein unabhängiges Justizsystem wieder aufgebaut werden. Dafür muss die Aufbau von oben nach unten jetzt anfangen.

     

    Ja, Erdogan hat eine große Aufgabe vor sich: ein gerechtes System mit ethischen Werten aufzubauen. Die ganze Verantwortung in dieser Aufgabe allein auf Erdogan und AKP zu schieben ist eine Feigenpolitik. Damit die anders Denkenden nicht mehr eine "Feige" sein, sollten sie mit einer konstruktiven Politik Alternative schaffen. Wenn die anders Denkenden glauben, dass sie diese Alternative mit Ultranationalisten, Faschisten und Rassisten zusammen aufbauen können, irren sich gewaltig. Für eine demokratische Gesellschaft müssen die anders Denkenden zuerst sich selbst ändern.

    • 8G
      889 (Profil gelöscht)
      @Our Fairness:

      Den Leuten, die von Erdogans Schergen ermordet, verletzt und mit Gas beschossen werden, vorzuwerfen, sie erstickten "in ihrem Hass" und müssten sich zunächst mal selbst ändern, ist schon mehr als zynisch.

      • @889 (Profil gelöscht):

        @KLEINER SPINNER Ich merke, dass Sie das analytisches Denkvermögen nicht besitzen. Sie haben die Zusammenhänge in meinem Beitrag NULL verstanden.

         

        Wenn eine Person oder eine Gruppe mit Hass gefüllt ist, hat sie vor ihren Augen immer dieses Feindbild. Anstatt einen gemeinsamen Lösungsweg zu suchen, wird diese Person von Wutattacken gesteuert. Die blinde Opposition in der Türkei sieht alles schwarz. Die Opposition gönnt der AKP noch nicht mal, dass die AKP die erste Partei in der Türkei ist, dass die Kurdenproblematik auf den Tisch legt und Lösungen sucht.

         

        Was macht die Oppotionskräfte: sie schreien NAZI-Parolen bei der Kurdenproblematik. Nicht vergessen: die sogenannte "Linke" schreiet genauso diese Parolen.

         

        Wer eine Lösung mit solchen NAZI-Köpfen in der Türkei sucht, hat entweder keine Ahnung über die Türkei, oder hat die identische Ansichten wie Ultranationalisten = Faschisten. Diese (Un)Lösung sucht leider Europe und die USA auch aktuell in Ukraine!

         

        Eine Politik ohne ethische Werte ist blind. Die unethische Politik der Opposition in der Türkei (CHP, MHP) versucht, Anhänger in Europa zu finden. Wer reinfällt, stickt im eigenen Hass.

    • A
      Araf
      @Our Fairness:

      eine große Mehrheit der Demonstranten sind auch Heuchler sie sind absolut nicht interessiert an Berkins Tod das er ausgerechnet jetzt gestorben ist, ist auch kein Zufall lasst euch nicht irren das sind keine friedlichen Demonstranten unter ihnen sind gewaltbereite linksradikale Gruppen, Nationalsozialisten, und Kemalisten, diese wollen aus verschiedenen Gründen das das Kurdenproblem nicht gelöst wird ausserdem was ist mit Ceylan und Umut wieso habt ihr damals nicht demonstriert ach ich habe vergessen das waren ja nur kurdische Kinder

  • DJ
    Der JUDE

    Herr YÜCEL,

     

    Sie habe Recht! Fast alles, was Sie in Ihrem Artikel schreiben entspricht den Tatsachen.

    Einen ähnliche Artikel hätte ich auch über die Haltung des deutschen Staates in Sachen NSU-Morde von Ihnen erwarten!? Haben Sie den Mumm dazu?

    • @Der JUDE:

      Nein, das erwarten Sie viel von der taz-Journalisten und taz selbst. Als ich vor ein paar Jahren über Sarrazin Kommentare abgegeben habe (ich habe Sarrazin als NAZI bezeichnet, ich bin immer noch in der Meinung), hat taz meine Kommentare einfach nicht veröffentlicht. Ich habe mehrmals den Grund gefragt. Leider hatte ich keine Antwort drauf.