Porträt Alexis Tsipras: Der Aufstieg eines Schulschwänzers
Der charismatische Chef der Syriza-Partei könnte Ministerpräsident von Griechenland werden. Doch Alexis Tsipras ist nicht unumstritten.
ATHEN taz | Mit gerade mal 16 Jahren beginnt Alexis Tsipras’ Karriere als Protestheld: Anfang 1990 führt der Jungkommunist einen Schüleraufstand gegen die konservative Regierung von Konstantinos Mitsotakis an. Wochenlang fällt der Unterricht an öffentlichen Schulen aus. Die protestierenden Schüler verlangen mehr Geld für Bildung und mehr Freiräume. Mit entwaffnender Eloquenz verteidigt Tsipras das „Recht auf Schuleschwänzen“.
Im Interview mit der gestandenen Fernsehjournalistin Anna Panagiotarea macht der angehende Politstar – roter Pullover, Haare nach oben gegelt – einen routinierten Eindruck. Panagiotarea ist bekannt dafür, ihre Interviewgäste hart anzugehen. Von Tsipras jedoch lässt sie sich beeindrucken. Schon damals wird klar: Dieser Mann kann überzeugen.
Aber der Schülersprecher wird von den politischen Kommentatoren auch hart angegriffen. Dafür beispielsweise, dass er ausgerechnet 1989 in die mächtige Jugendorganisation der Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE) eintrat, eine der letzten Bastionen orthodoxer Kommunisten in Europa, die heute noch Hammer und Sichel im Logo trägt.
Bei den moskautreuen Genossen hält sich Tsipras jedoch nicht lange auf. Wenige Monate später wird er Mitglied der reformkommunistischen Koalition der Linken und des Fortschritts, eines Vorgängers der heutigen Syriza-Partei.
Die Wahl zum Präsidenten in Griechenland ist bereits zweimal gescheitert. Sowohl am 17. als auch am 23. Dezember verfehlte der Kandidat des Ministerpräsidenten Samaras, Stavros Dimas, die erforderliche Mehrheit von 200 Stimmen. Für die Wahl sind maximal drei Wahlgänge vorgesehen. Der nächste Termin ist am 29. Dezember.
Im dritten Wahlgang benötigt Dimas nur noch 180 Stimmen. Sollte er aber auch die nicht bekommen, würde ab Januar eine vorgezogene Parlamentswahl fällig. Umfragen sehen die linke Oppositionspartei Syriza mit Alexis Tsipras vorn.
2006 hat der dann 32-Jährige seinen großen Moment. Vor den griechischen Kommunalwahlen sucht Parteichef Alekos Alavanos verzweifelt nach einem geeigneten Bürgermeisterkandidaten für die Stadt Athen. Er findet Alexis Tsipras, den er gegen großen innerparteilichen Widerstand durchsetzt. „Wir wollen unsere Partei für die Jugend öffnen. Alexis ist ein sensibler Mensch und verkörpert die junge Generation wie sonst niemand“, wirbt Alavanos.
Historischer Wahlkampf in roten Stiefeletten
Tsipras schockiert die etablierten Parteien mit seinem Antikonformismus. In roten Stiefeletten zieht er durch den muffigen Wahlkampf und erreicht Historisches. Bei der vermeintlich aussichtslosen Wahl wird die Linkspartei in der griechischen Hauptstadt erstmals drittstärkste Kraft mit 10,5 Prozent der Stimmen. Damit hat sie ihr Wahlergebnis im Vergleich zur vorangegangenen Parlamentswahl 2004 verdreifacht.
2008 tritt Alavanos als Parteivorsitzender zurück, und Tsipras nimmt seinen Posten ein. Wieder gibt es heftigen Protest seitens der alten Parteischwergewichte. Exjustizminister Kouvelis verlässt das Linksbündnis und gründet seine eigene Gruppe. Alavanos aber lässt sich nicht beirren und unterstützt Tsipras. Der jedoch begeht einige Jahre später politischen Vatermord.
Immer deutlicher nimmt Tsipras Abstand von den politischen Positionen seines Ziehvaters vor allem in der Frage der Euromitgliedschaft Griechenlands. Während Tsipras, bei aller Kritik an der rigiden Sparpolitik, weiterhin für den Euro plädiert, liebäugelt sein Mentor immer deutlicher mit einer Rückkehr zur Drachme. 2013 gründet Alavanos sogar eine neue Partei mit dem bezeichnenden Namen Plan B, die für den Euroaustritt steht. Und versinkt daraufhin in die Bedeutungslosigkeit.
Bei Alexis Tsipras geht es unterdessen weiter aufwärts. Angefeuert durch die Krisenstimmung, wird sein Bündnis Syriza zweitstärkste Partei bei den Parlamentswahlen 2012 und sogar stärkste Kraft bei der Europawahl 2014. Dabei wird Tsipras zum Spitzenkandidaten der Europäischen Linken für die Europawahl ernannt und verhilft neuen Linksparteien in Italien und Spanien zum Erfolg.
Schlagabtausch in Muttersprache
Beim Schlagabtausch aller Spitzenkandidaten in Brüssel spricht er anders als die deutschen Kandidaten, der Sozialdemokrat Martin Schulz und die grüne Ska Keller, in seiner Muttersprache. Konservative Kommentatoren in Griechenland spotten: „Ist doch klar, dass der junge Tsipras keine Zeit für Englischunterricht hatte, der hat ja immer geschwänzt“, heißt es.
Was bleibt am Ende? Spuren. Zeichen. Geschichten. Die taz.am wochenende vom 27./28. Dezember 2014 erinnert an die Menschen, die 2014 starben. An Frank Schirrmacher, Siegfried Lenz und Stefanie Zweig. An den Graffiti-Künstler Oz, der mit 64 Jahren beim Sprayen auf den Gleisen starb. An Daisy Oehlers, die in der MH17 saß, dem Flugzeug, das über der Ukraine abgeschossen wurde. Und an viele andere. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Erfolg hat Tspiras trotzdem. Seit der Europawahl liegt Syriza unangefochten vorn in der Wählergunst und hat in Umfragen mindestens drei Punkte Vorsprung vor der konservativen Nea Dimokratia des amtierenden Regierungschefs Antonis Samaras. Die einstigen Volksparteien – die Nea Dimokratia und die sozialdemokratische Pasok – bleiben zusammen unter 35 Prozent.
Obwohl ihn seine politischen Gegner immer noch als Bürgerschreck und Störenfried karikieren, kommen immer mehr Stimmen für Syriza auch aus dem bürgerlichen Milieu.
„Dieses Vorurteil ist doch längst überholt“, sagt der Syriza-Europaabgeordnete und Vizepräsident des EU-Parlaments Dimitrios Papadimoulis der taz. Und fügt hinzu: „Alexis Tsipras ist ein Reformpolitiker. Er wird die aussichtslose Austeritätspolitik in Griechenland beenden und mutige Reformen angehen.“
Krawattengegner und Strandurlauber
Tsipras’ Lebensführung macht ihn im bürgerlichen Lager beliebt. Anders als so mancher griechische Politiker gilt der Syriza-Chef weder als Frauenheld noch als einsamer Wolf, sondern eher als netter Nachbar: Er lebt mit seiner Jugendliebe und seinen zwei Söhnen in Athen, fährt gerne Mofa, verbringt seinen Urlaub am liebsten an öffentlichen Stränden auf Kreta und trägt keine Krawatten. Als Tsipras im Mai 2012 zu Beratungen in den Präsidentenpalast eingeladen wird und dort in weißem Hemd und Anzug erscheint, antwortet Tsipras auf die Frage eines edel gekleideten Politjournalisten nach der fehlenden Krawatte: „Vielleicht leihe ich mir mal eine Krawatte bei Ihnen.“
Auch in der eigenen Partei gibt es nach wie vor Zoff um Tsipras. Vor allem im linken Flügel ist die Kritik besonders laut. Als prominentester Widersacher von Tsipras gilt derzeit Panagiotis Lafazanis. Er ist Erbe des legendären Kommunistenführers und Partisanenkämpfers Charilaos Florakis, der die KP 1974 nach dem Fall der Athener Obristenjunta wieder in die Legalität führte. Lafazanis verlangt die Nationalisierung aller Banken und einen Mindestlohn von 750 Euro im Monat. Eine Tolerierung der Syriza-Regierung durch die Kommunisten kann er sich genauso gut vorstellen wie die Rückkehr zur Drachme.
Tsipras lässt ihn gewähren. Nur über eine Beendigung der Euromitgliedschaft will der Syriza-Chef nicht verhandeln. Auf einer Parteitagung im April kam es laut Medienberichten zu einer offenen Auseinandersetzung mit Lafazanis. Als dieser wieder einmal über einen Euroaustritt Griechenlands beraten wollte, soll Tsipras ihn gefragt haben: „Den Antrag hast du siebenmal innerhalb eines Jahres gestellt, und jedes Mal wird er abgelehnt. Was willst du eigentlich?“ Lafazanis bestreitet den Vorfall, Tsipras äußert sich nicht. Die parteiinternen Konflikte, so scheint es, sind das Einzige, was Tsipras’ Erfolg derzeit ein wenig trübt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ausschreitungen in Amsterdam
Ein hitziges Nachspiel
Obergrenze für Imbissbuden
Kein Döner ist illegal
Wahl in den USA
Sie wussten, was sie tun
Regierungskrise in Deutschland
Ampel kaputt!
Abschiebung aus dem Frauenhaus
Schutzraum nicht mehr sicher
Lehren aus den US-Wahlen
Wo bleibt das linke Gerechtigkeitsversprechen?