: Der Prediger im Dienst
Was macht eigentlich Henning Scherf? Orgelspielen, Malen, Bücher schreiben – und Werbung für den Evangelischen Kirchentag 2009 in Bremen. Sein letztes Großprojekt, sozusagen. Teil 2 der taz-Serie über norddeutsche Ex-PolitikerInnen
von ARMIN SIMON
Er ist zu Fuß gekommen, diesmal, ohne Fahrrad. Barfuß in Korkbettsandalen ist er herübergelaufen, den alten Weg vermutlich, von seiner WG geradeaus über die große Straße, an den Schmucklädchen vorbei über die Pförtnerbrücke in den Wallanlagen, immer am Wasser entlang, wo schon wieder Enten gefüttert werden und die Sonne die Letzten weckt, die hier übernachtet haben. Zweihundert Meter sind es noch, durch die Unterführung, die Treppe hoch, dann quer über die Domsheide, immer direkt auf das Rathaus zu. Fast drei Jahrzehnte war das das Ziel von Henning Scherf.
Dann biegt er ab. Im letzten Moment. „Ich will nicht mit den Füßen aus dem Rathaus getragen werden“, hat er seinen Genossen Ende September 2005 verkündet, kurz vor seinem 67. Geburtstag, und dass er als Gewerkschaftsmitglied immer für eine kürzere Lebensarbeitszeit gestritten habe. „Er hatte immer weniger Lust“, resümierte die grüne Opposition spitz. Nun ist der Ex-Fraktionschef Bürgermeister, der Kiefernholztisch im Rathaus gegen einen aus Eiche ausgetauscht und statt in der Bürgerschaft über den verfassungswidrigen Haushalt, die missratenen Großprojekte und die gescheiterte „Sanierung“ Bremens zu streiten, redet Scherf im Haus der Wissenschaft. Zu SEINEM Thema. „Braucht Bremen einen Kirchentag?“ Es ist eine rhetorische Frage, und keiner hat sie eindeutiger beantwortet, als der, der sie selbst aufgeworfen hat: Henning Scherf. Er war es, der dem Kirchentagskomitee vorschlug, hunderttausend Christen nach Bremen einzuladen, er war es, der als Bürgermeister und Senator für kirchliche Angelegenheiten die Zusage gab und zugleich einen Zuschuss in Höhe von 7,5 Millionen Euro in Aussicht stellte. Er war es, der diese Entscheidung politisch vertrat, der, als Widerspruch aufkam, einen Freundeskreis gründete und wenn er dann tatsächlich steigt, vom 20. bis 24. Mai 2009, wird Scherf sowohl Gastgeber als auch Gast sein. Alles in Personalunion.
Heute ist Scherf Prediger. Eine Milliarde Euro Defizit verzeichnet der Bremer Haushalt jedes Jahr, beim Verfassungsgericht in Karlsruhe hat der Senat auf Teilentschuldung geklagt, Geld darf nur noch für verpflichtende Staatsaufgaben ausgegeben werden oder dann, wenn das Vorhaben größere Einnahmen verspricht. Vereine und Initiativen kämpfen um die letzten Tausend Euro Zuschuss und ihr Überleben. Selbst Scherfs Ex-Kollegen, CDU-Innensenator und Bürgermeister Thomas Röwekamp, hat das zu provokanten Äußerungen verleitet. Der Kirchentag, betonte er in einem Interview kurz vor dem Beginn der Koalitionsberatungen über die noch zu tätigenden Investitionen, gehöre nicht zwingend dazu.
Scherf faltet die Hände. „Wo gibt es in Zukunft noch Arbeitsplätze?“, fragt er: „Nicht mehr in der Industrie, sondern im Dienstleistungsbereich.“ Wozu bekanntermaßen auch das Gastgeber-Gewerbe gehört. Weswegen es für Bremen wirtschafts- und strukturpolitisch günstig sei, auch mal „für über 100.000 Gäste“ Gastgeber zu spielen. Beziehungsweise, was heißt hier „für Bremen“? „Wir wollen das beweisen!“ „Wir“. Es ist das Scherf‘sche „Wir“, eines, das jeden umfasst, ob er es nun will oder nicht. Wir BremerInnen. Wir Gesellschaft. Wir Mehrheit. Wir Kirche. Wir Scherf.
Selbst der katholische Bischof Bode aus Osnabrück hat schon Unterstützung für den Kirchentag zugesichert. Denn: „Wir sind so eng miteinander, wir leben hier so vertraut miteinander.“ Scherf rollt die Hände zu Fäusten, rechts-links-auf-ab gehen seine Arme in einer Bewegung, die zu nachdrücklich ist, als dass sie nicht programmatisch wäre.
Die diakonische Rolle der Kirche in der Gesellschaft sei „unverzichtbar“, sagt Scherf: „Wir brauchen die.“ Auch als „Wächter“, als kritische Instanz. „Das sage ich als einer, der aus der Regierungserfahrung kommt.“
Die Politik. Keine Minute habe er sie vermisst seit der Ernennung seines Nachfolgers im November, die Senatssitzungen, das Rathaus, die Partei, das Parlament, erzählt Scherf nach dem Vortrag, kein einziges Mal habe es ihn in den Fingern gejuckt, noch einmal an Stelle von Jens Böhrnsen zu agieren. Orgelspiel und Malerei sind an die Stelle der Politik gerückt, unzählige Gremien haben um seine Mitarbeit gebeten, demnächst erscheint sein Buch, über das Altern, und die WG wird nun bekocht: „Früher habe ich da nur gegessen.“
Die Politik ist Vergangenheit. Auch ihre Bissigkeit. „Wer liest schon gerne in der Zeitung, dass er Fehler gemacht hat?“, wirft Scherf, einst als Autokrat und Herrscher eines „Königreichs“ verschrien, einen Blick zurück, von der „Bequemlichkeit der Regierenden, keine Kritik hören zu wollen“ spricht er. Und setzt die Kirche dagegen: Wenn er dort rede, dann sage er: „Haltet bloß nicht den Mund.“ Denn: „Wir brauchen euch, mitten in unserer Gesellschaft.“ Wir.
Die 30 Minuten sind um, der Vortrag zu Ende. Es folgt die Fragestunde, beziehungsweise die Gelegenheit „mich auf Details abzufragen“. Scherfs Blick schweift über die gut 40 Zuhörenden. „Wer soll das alles bezahlen?“, will eine ältere Frau wissen. „Das ist eine schwierige Frage“, erwidert Scherf. Und erzählt von den Millionen, die die Kirche in das Ereignis stecke, sagt, dass auch die Nachbarkirche in Oldenburg einen Beitrag leisten wolle und dass „wir als Stadtgesellschaft“ nach „mühsamen Verhandlungen“ eben jene 7,5 Millionen Euro zugesagt hätten. Weil die Hotels dann gut ausgelastet seien, viele der BesucherInnen einmal wiederkämen, und Bremen Steuereinnahmen generierten, die deutlich über dem Zuschuss lägen. Das sei Ergebnis einer „großen gutachterlichen Auseinandersetzung“, sagt Scherf, der selbst eines der Gutachten in Auftrag gab. Es blieb nicht unwidersprochen.
Hinzuzufügen wäre, dass der Leiter des Kirchentag-Organisationskomitees im Februar damit drohte, die ganze Veranstaltung müsse ausfallen, wenn Bremen die versprochenen Millionen in Frage stelle. Und dass die Haushälter die Finanzzusage Scherfs von 2003 schlussendlich akzeptierten. „Ich glaube, wir werden eine ganz schöne Woche haben“, sagt Scherf. Es ist das Scherf‘sche „Wir“.
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