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Der Tod war schneller als das Amt

Zweijähriger Junge liegt tot im Kühlschrank – kurz bevor er zu einer Pflegefamilie kommen sollte. Schon einmal war das Kind in Obhut. Dann bekam es der Vater zurück, trotz Drogenabhängigkeit. „Das ist politisch gewollt“, sagt der Sozialamtsleiter

aus Bremen ARMIN SIMON

Zuletzt hat der Arzt das Kleinkind gesehen, der den drogenabhängigen Vater behandelte. Das war im Juli. Der Arzt habe „keine weiteren Auffälligkeiten“ festgestellt, betont Jürgen Hartwig, Leiter des Bremer Amtes für Soziale Dienste. Gleiches gelte für die Mitarbeiter des örtlichen Sozialzentrums. Die betreuten den Vater und seinen Sohn, für den das Amt das Sorgerecht innehatte. Keine Auffälligkeiten – „bis zu dem, was wir heute mitbekommen haben“.

Bremen-Gröpelingen, Kulmer Straße. Ein Arbeiterstadtteil, eine Sackgasse beim Güterbahnhof. Reihenhäuser auf beiden Seiten, in den Vorgärten spielen Kinder. Am Ende zwei Wohnblocks, im rechten lebte der Zweijährige mit seinem Vater.

Gestern morgen um kurz nach sieben wollten ihn Mitarbeiter des Sozialzentrums abholen. Das Familiengericht hatte die Inobhutnahme des Kindes angeordnet, auf Antrag des Sozialzentrums, wegen „gewichtiger Hinweise auf eine Kindeswohlgefährdung“. Doch die Jugendamtsmitarbeiter kommen zu spät. Auf ihr Klopfen öffnet niemand, Polizeibeamte brechen die Tür auf. Sie treffen nur den Vater an. Im Flur steht ein Kinderwagen, Kinderkleidung liegt herum. „Wo ist das Kind?“, fragen die Beamten. Der 41-Jährige, seit Jahren im Methadonprogramm, weist auf den Kühlschrank.

Das Obduktionsergebnis stand gestern bei Redaktionsschluss noch aus, die Todesursache ist daher unklar. Der Junge, der etwa zwei Jahre und zehn Monate alt wurde, sei aber „nicht erst seit gestern tot“, sagte ein Polizeisprecher. Sein Vater verweigert die Aussage, er wurde vorläufig festgenommen.

Bremens Sozialsenatorin Karin Röpke (SPD) sprach gestern von einem „furchtbaren Ereignis, das mich tief bestürzt und uns fassungslos macht“. Warum die Inobhutnahme erst so spät angeordnet wurde, blieb gestern indes weit gehend unklar. Es habe regelmäßig „Fallkonferenzen“ gegeben, an denen bisweilen auch der Vater teilgenommen habe, teilte Amtsleiter Hartwig mit. In diesen Konferenzen habe man diesen mehrfach aufgefordert, Hilfen für sein Kind in Anspruch zu nehmen: Tagesmutter, frühkindliche Förderung, Spielkreis. Wie regelmäßig diese Konferenzen stattgefunden haben, konnte der Amtsleiter gestern auch nach einem dreiviertel Tag Recherche nicht sagen – ebenso wenig, wann zum letzten Mal ein Sozialarbeiter das Kind gesehen hatte, das sich seit November 2005 in staatlicher Vormundschaft befand. Der „Case Manager“ sei derzeit erkrankt, entschuldigte Hartwig.

Sie werde „sehr genau prüfen, inwieweit die fachliche Begleitung qualifiziert war und ob es Fehleinschätzungen gegeben hat“, kündigte Röpke an. Erst auf Nachfrage bestätigte Hartwig, dass das Kind im November 2005 schon einmal für einen Monat in Obhut genommen worden war. Anlass seien damals Gewalttätigkeiten gewesen, die man jedoch der ebenfalls drogenabhängigen Mutter zugeschrieben habe. Nach deren Tod habe man das Kind daher – einer fachlichen Weisung folgend – dem Vater zurückgegeben. „Das ist in Bremen politisch gewollt, dass auch drogenabhängige Eltern ihre Kinder behalten können“, sagte Hartwig der taz.

Stutzig wurde das Jugendamt erst, als der Vater die Hilfen für sein Kind offensichtlich nicht in Anspruch nahm. Auf einer Besprechung am 18. September habe man beschlossen, das Kind in die Obhut einer geschulten Pflegefamilie zu geben und einen entsprechenden Beschluss beim Familiengericht zu erwirken. Zwar, räumte Hartwig ein, dürfe das Jugendamt bei Gefahr im Verzug auch ohne Gerichtsbeschluss eingreifen. Wegen der „innigen Beziehung“ des Vaters zu seinem Sohn habe man jedoch befürchtet, dass dieser gewalttätig werden könne – und den Gerichtsbeschluss sowie polizeiliche Begleitung vorgezogen. Zur Verhandlung seien Vater und Sohn zweimal nicht erschienen, am 2. Oktober entschied das Gericht schließlich ohne sie. Ob das Kind zu diesem Zeitpunkt noch lebte, ist offen.

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