: Dioxineier sind gesünder als Muttermilch
GIFT Es macht uns Angst, spätestens seit dem Lebensmittelskandal. Aber was ist das eigentlich genau: Dioxin?
■ Der Wunsch: In der sonntaz berichten wir jede Woche über ein Thema, das eine Leserin oder ein Leser angeregt hat. Diesmal mailte uns Karin Griesau ihren Wunsch: „Bei all der Diskussion um Dioxin in Futtermitteln, das ‚versehentlich‘ über Industriefette (wenn ich recht informiert bin, sind sie für die Papierherstellung vorgesehen gewesen) in die Futtermittelproduktion gelangt ist, frage ich mich, warum sich niemand fragt, was Dioxin in der Papierindustrie zu tun hat. Ist Dioxin in unserem Papier? Kann es über Hautkontakt auch aufgenommen werden? In welchen Produkten und in welcher Produktherstellung kommt Dioxin sonst noch vor?“
■ Der Weg: Schicken Sie Ihre Anregung an open@taz.de oder an die tageszeitung, Sebastian Heiser, Rudi-Dutschke-Straße 23, 10969 Berlin.
VON SEBASTIAN HEISER
Dioxine sind völlig überflüssig. Man kann sie zu überhaupt nichts gebrauchen – und dennoch kann man nicht verhindern, dass diese organischen Verbindungen entstehen. Sie bilden sich, wenn Kohlenstoff verbrannt wird, also etwa Holz, Kohle, Öl oder Gas. Die Temperatur muss bei mehr als 300 Grad liegen. Außerdem muss auch Chlor vorhanden sein – und das ist es sehr häufig, etwa in Form von Salz. Dioxine entstehen in der Natur bei Waldbränden und Vulkanausbrüchen. Man fand sie daher auch in etwa 200 Millionen Jahre alten Böden.
Der Mensch hat den Dioxinausstoß stark ansteigen lassen. Verantwortlich dafür sind die Metallindustrie genauso wie die Betreiber von Kraftwerken und Müllverbrennungsanlagen. Dioxine entstehen auch in Papierfabriken mit Chlorbleiche und wenn chlorhaltige Unkraut- oder Insektenvernichtungsmittel hergestellt werden.
Dioxine haften an Staubpartikeln und verbreiten sich über die Luft, über Chemikalien und Papier, über feste Rückstände wie Asche, Schlacke und Klärschlamm und über das Abwasser. Vor allem die Abflüsse aus Zellstoffmühlen oder Deponien sind belastet.
Über die Nahrung gelangen Dioxine dann in den Körper – etwa wenn Tiere auf der Weide grasen. Darum haben Eier von freilaufenden Hühnern sogar in der Regel eine etwas höhere Dioxinbelastung als Eier von Stallhühnern, die unbelastetes Futter essen. Fische aus dem Meer sind stärker belastet als Fische aus dem Zuchtbecken. Menschen nehmen Dioxine auf, wenn sie Tiere oder tierische Produkte wie Eier essen. Dagegen ist es völlig ungefährlich, Papier anzufassen, auch wenn Dioxin bei der Papierproduktion entsteht.
Einmal gegessen, sammeln sich die Dioxine vor allem im Fettgewebe. Sie sind extrem langlebig: Es dauert sechs Jahre, bis der Körper die Hälfte des an einem Tag aufgenommenen Dioxins abbaut. Die Verbindungen sind gefährlich, weil sie langfristig zu Krebs führen können. Nur in hoher Konzentration ist Dioxin unmittelbar schädlich. Das zeigte sich bei dem Dioxinanschlag auf den ukrainischen Politiker Wiktor Juschtschenko im Jahr 2004: Er litt unter Schmerzen im Unterleib, im Rücken und unter Entzündungen, nachdem er offenbar vergiftetes Essen zu sich genommen hatte, was zu einer vieltausendfach erhöhten Dioxindosis führte. Bis heute ist sein Gesicht verpickelt, wegen einer Chlorakne.
Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt, dass ein Erwachsener täglich nicht mehr als 1–4 Billionstel Gramm Dioxin pro Gewichtskilo zu sich nimmt. So viel kann man ein Leben lang Tag für Tag essen, ohne dass es zu spürbaren Auswirkungen auf die Gesundheit kommen soll.
Auch für einzelne Lebensmittel gibt es Grenzwerte. Die sind aber nicht von dem Gesundheitsgrenzwert abgeleitet. „Die Festlegung der Höchstgehalte orientiert sich im Wesentlichen an der nicht vermeidbaren Belastung der Lebensmittel“, informiert das Bundesinstitut für Risikobewertung. Das heißt: Der Grenzwert ist bei jedem Lebensmittel so niedrig, wie es jeweils möglich ist.
Fischleber darf 25 Billionstel Gramm Dioxin pro Gramm Fett enthalten, Geflügelfleisch nur 2 Billionstel Gramm, Schweinefleisch 1 Billionstel. In Niedersachsen wurde Schweinefleisch gefunden, das 50 Prozent über dem Grenzwert lag – aber immer noch weniger belastet war als Fischleber, die weiter verkauft werden darf. Selbst Muttermilch hat einen viermal höheren Dioxingehalt pro Gramm Fett als das aus dem Handel verbannte Schweinefleisch.
Der Dioxinskandal ist also ein Skandal, bei dem es um kriminelle Futtermittelhersteller und zu lasche Kontrollen geht – aber nicht um die Gesundheit. „Selbst wenn in den letzten Monaten Eier oder Schweinefleisch mit Gehalten im Bereich der höchsten gemessenen Werte über einen längeren Zeitraum verzehrt wurden, ist eine Gefährdung nicht zu erwarten“, erklärt Andreas Hensel, Präsident des Bundesinstituts für Risikobewertung.
Seit 1990 landen dank strengerer Gesetzgebung immer weniger Dioxine in der Umwelt. Müllverbrennungsanlagen und Krematorien stoßen heute dank veränderter Technik kaum noch Dioxine aus. Sie entstehen allerdings immer noch bei der Metallproduktion – und in privaten Kaminen, beim Osterfeuer und der Verbrennung von Gartenabfällen. Besonders viele Dioxine bilden sich, wenn lackiertes Holz in Flammen aufgeht.
In den vergangenen Jahrzehnten ist die Dioxinbelastung stark zurückgegangen. Das zeigt besonders gut der Dioxingehalt der Muttermilch. Vor gut zwei Jahrzehnten waren es noch durchschnittlich 36 Gramm Dioxine pro Gramm Fett – dreimal so viel wie bei den im aktuellen Skandal am stärksten belasteten Eiern. Inzwischen ist der Dioxingehalt der Muttermilch um ganze 80 Prozent gesunken.
Doch immer noch nehmen Säuglinge relativ viel Dioxin über die Muttermilch auf. Durchschnittlich sind es laut Bundesamt für Risikobewertung 84 Billionstel Gramm pro Kilogramm Körpergewicht – das liegt also zigfach über dem Grenzwert, der für Erwachsene gilt. Trotzdem denkt niemand daran, das Stillen zu verbieten. Verbraucherschutzministerin Ilse Aigner blieb bisher untätig.
Keine Zeitung, kein Magazin brüllt dem Käufer am Kiosk diese angebliche Gesundheitsgefahr entgegen. Die menschliche Angst, dass das Essen vergiftet ist, bezieht sich offenbar vor allem auf industriell hergestellte Lebensmittel.
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