piwik no script img

Linkspartei schiebt Flüchtlinge ab

In Berlin werden die meisten Flüchtlinge in Wohnungen untergebracht; nur wenige müssen im Wohnheim leben. Von diesen Ausnahmen stammt die größte Gruppe ausgerechnet aus Marzahn-Hellersdorf, das von der Linkspartei regiert wird. Die Bezirksbürgermeisterin verteidigt das Vorgehen

VON MARINA MAI

Nicht etwa ein CDU-Sozialstadtrat betreibt in Berlin die rigideste Flüchtlingspolitik – sondern die Bürgermeisterin und Sozialstadträtin von Marzahn-Hellersdorfs, Dagmar Pohle, Mitglied der Linkspartei. Das legt die Antwort des Senats auf eine parlamentarische Anfrage des Grünen-Abgeordneten Benedikt Lux nahe. Demnach hatten in Berlin Mitte März 213 geduldete Flüchtlinge einen Wohnheimplatz statt einer Wohnung und sie erhielten ihre Sozialhilfe nicht als Bargeld, sondern als Sachleistungen. Gut jeder vierte Fall davon lag in der Verantwortung des von der Linkspartei geführten Sozialamtes Marzahn-Hellersdorf – obwohl die rot-rote Landesregierung seit Jahren Geldleistungen Priorität einräumt und durchgesetzt hat, dass Flüchtlinge in Wohnungen wohnen dürfen. Fast alle jedenfalls.

Ausgenommen davon sind Asylbewerber in den ersten drei Monaten ihres Aufenthaltes. Das ist bundesgesetzlich zwingend so geregelt, eine Änderung liegt nicht in der Macht des Landes Berlin. Ausgenommen sind zudem jene geduldeten Flüchtlinge, denen die Sozialämter unterstellen, durch eigenes Verschulden ihre Ausreise zu verhindern. Ob so ein Fall vorliegt, ist nach Überzeugung des Flüchtlingsrates eine subjektive Einschätzung.

56 der insgesamt 213 Flüchtlinge wurden von Marzahn-Hellersdorf in das Wohnheim in der Spandauer Motardstraße geschickt, das sind deutlich mehr als in jedem anderen Bezirk. Neben einem Bett im Mehrbettzimmer gibt es dort täglich drei Esspakete, die Georg Classen vom Flüchtlingsrat als „eklig“ und Giyasettin Sayan, Abgeordneter der Linkspartei, als „zu knapp bemessen“ bezeichnet. Nach individueller Entscheidung des Sozialamtes kann ein Bewohner darüber hinaus ein geringes Taschengeld bekommen, was nicht in allen Fällen geschieht.

Die Motardstraße ähnelt einem Ausreisezentrum, das Bundesländer wie Bayern und Sachsen-Anhalt betreiben, um Flüchtlinge durch unattraktive Lebensbedingungen zur freiwilligen Ausreise zu motivieren. Berlin hat zwar beschlossen, kein Ausreisezentrum zu errichten. Doch der formale Unterschied zwischen der Sammelunterkunft und einem solchen Zentrum besteht nur aus einem Verwaltungsakt: In Berlin sind es die Sozialämter, die dorthin einweisen; in anderen Bundesländern erledigen dies die Ausländerbehörden. Für die Bewohner macht das keinen Unterschied.

Bürgermeisterin Pohle verteidigt ihre Politik: „Wir setzen ausschließlich Regelungen des Landes Berlin um, wenn wir Flüchtlinge in eine Unterkunft mit Sachleistungen einweisen. Da haben wir keinen Ermessensspielraum.“ Sie verweist darauf, dass rund 120 Menschen ihres Bezirkes „in ihren Wohnungen verblieben sind, die nach den Regelungen der zuständigen Senatsverwaltung in Sachleistungseinrichtungen unterzubringen gewesen wären.“ Mit anderen Worten: Den schwarzen Peter schiebt sie ihrer Parteifreundin, Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner, zu. Warum andere Bezirke deutlich weniger Flüchtlinge auf Sachleistungen umstellen, erklärt sie so: „Die haben vielleicht weniger Fälle, auf die diese Weisung zutrifft.“

Es sind vor allem junge Leute, die Marzahn-Hellersdorf in die Sammelunterkunft steckt. Anja Rücker vom Paul-Gerhard-Werk, einem freien Träger der Jugendhilfe, kennt zwei Betroffene. Die Russin und der Chinese sind als unbegleitete minderjährige Flüchtlinge ohne Eltern nach Berlin gekommen. Als sie volljährig wurden, mussten sie aus dem Heim der Jugendhilfe ausziehen. Statt ihnen eine Wohnung zu finanzieren, schickte das Sozialamt sie in die Motardstraße. „Die beiden Jugendlichen gehen regelmäßig zur Schule. Sie haben sich absolut nichts zuschulden kommen lassen“, berichtet Anja Rücker. Das Sozialamt hatte ihnen unterstellt, sich nicht um einen Pass zur Ausreise bemüht zu haben. „Wir haben gegen den Bescheid Widerspruch eingelegt und das Gegenteil belegt. Bis heute warten wir auf eine Antwort.“ Das Taschengeld der beiden jungen Leute reiche gerade für das Fahrgeld zur Schule, sagt Rücker. „An Kleidung können sie gar nicht denken.“

Martina Wohlrabe vom Verein pro social, der junge vietnamesische Asylbewerber betreut, kennt weitere Fälle, in denen Jugendliche nach dem 18. Geburtstag ins Sammellager gesteckt wurden. Sie erklärt: „Wir haben uns bis zu ihrer Volljährigkeit bemüht, dass sie als selbständige Menschen ihren Lebensmittelpunkt in Berlin finden. In der Motardstraße werden sie wieder unselbständig.“

Der Grünen-Abgeordnete Lux wirft der Linkspartei vor, dass bei ihr in der Flüchtlingspolitik „Wort und Tat zweierlei sein. In der Opposition erklären sie humanitäre Grundsätze. Doch die gelten nicht mehr für jeden Politiker, wenn er in der politischen Verantwortung steht.“ Linkspartei-Flüchtlingspolitiker Sayan formuliert seine Kritik am Bezirk Marzahn-Hellersdorf diplomatischer. Er will „mit Frau Pohle sprechen, um sie nach den Gründen für die zahlreichen Einweisungen in die Sammelunterkunft zu fragen.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen