: Brauchen wir ein neues Sozialsystem?
Die DGB-Aktionen zum 1. Mai stehen unter dem Motto „Du hast mehr verdient“. Der DGB-Vorsitzende Michael Sommer forderte am Wochenende erneut „sichere Einkommenserhöhungen“ für die Arbeitnehmer und die Festlegung eines gesetzlichen Mindestlohns „nicht unter 7,50 Euro“. Sommer sagte: „Was ich will, ist, dass die Menschen von ihrer Hände Arbeit leben können.“ Doch weil das immer weniger Menschen gelingt, fordern Politiker, Unternehmer oder Arbeitslosenverbände ein Umdenken: Sie fordern den Abschied vom Diktat der Lohnarbeit. Sie wollen ein bedingungsloses Grundeinkommen.
VON HANNES KOCH UND KATHARINA KOUFEN
Es gibt Menschen, die wissen alles darüber, wie wir arbeiten. Jedenfalls alles, was man wissenschaftlich herausbekommen kann. Zu denen gehört Ulrich Walwei. Vor 20 Jahren schrieb er seine Doktorarbeit über befristete Beschäftigung, ab dem 1. Mai 2007 amtiert er als kommissarischer Chef des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg. In diesen 20 Jahren hat sich die Arbeitsgesellschaft in Deutschland radikal verändert. So stark, dass der 48-jährige Walwei inzwischen zu einer Minderheit gehört – zu denjenigen, die einen festen, unbefristeten, sozialversicherten Arbeitsplatz haben, der sie gut ernährt.
„Das Normalarbeitsverhältnis verliert weiter an Bedeutung“, sagt Ulrich Walwei, Deutschlands oberster öffentlicher Arbeitsmarktforscher. In den 1950er- und 1960er-Jahren, der Hochzeit des deutschen Wirtschaftswunders, arbeiteten fast alle Beschäftigten auf Stellen, denen eine Verheißung innewohnte: „Du kannst deine Familie ein Leben lang von dieser Arbeit ernähren.“ Das hat sich geändert: Nur die Hälfte aller Beschäftigten kommen heute noch in den Genuss des alten Standardjobs.
Das alltägliche Risiko, zum Sozialfall zu werden, hat erheblich zugenommen. Da ist es kein Wunder, dass ein politisches Konzept auf den Tisch kommt, das alte Fragen ganz neu beantwortet. Katja Kipping, die Vizechefin der Linkspartei, Drogerie-Unternehmer Götz Werner, Umweltpolitiker Reinhard Loske (Grüne), der CDU-Ministerpräsident von Thüringen, Dieter Althaus – um nur einige zu nennen – machen sich stark für eine visionäre Idee: das bedingungslose Grundeinkommen. 800 Euro pro Kopf und Monat solle jeder erwachsene Bundesbürger vom Staat erhalten, schlägt Althaus vor. Die meisten bisherigen Sozialleistungen fielen im Gegenzug weg. Der Charme der Idee: Das Grundeinkommen würde als Bürgergeld gewährt, auf das ein jeder Anspruch hat – unabhängig von der Bereitschaft zu arbeiten und den oft entwürdigenden Prozeduren des Hartz-IV-Systems. Das Grundeinkommen ist gedacht als neue, verlässliche Existenzsicherung – weil man nicht mehr unbedingt davon ausgehen kann, dass jeder seinen Lebensunterhalt mit bezahlter Lohnarbeit finanzieren kann.
Die Zeiten haben sich geändert. In den Aufrufen der Gewerkschaften zum 1. Mai 2007, dem traditionellen Tag der Arbeit, spiegelt sich der Wandel freilich nicht wider. So heißt es in der Erklärung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB): „Jeder Mensch muss von seinem Einkommen in Würde leben können und darf nicht in Zweit- und Drittjobs gezwungen werden.“ Der Zweit- und Drittjob, die schlecht entlohnte Teilzeitstelle, der Stundenlohn von 3,80 Euro brutto, die befristete Honorartätigkeit – lässt sich diese Realität aber noch wegdiskutieren? Ist die Hoffnung berechtigt, dass die modernen, flexiblen, teilweise miesen Arbeitsverhältnisse dereinst wieder Platz machen für die guten alten Vollzeitarbeitsplätze?
Schon seit Mitte der 1970er-Jahre ist die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses im Gange. Auf der Basis von Zahlen, die Ulrich Walwei und das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung veröffentlichen, kann man die folgende Rechnung aufstellen. Von den gut 82 Millionen Einwohnern Deutschlands waren 2006 etwa 34,7 Millionen abhängig beschäftigt – sie haben Arbeitsverträge zum Beispiel bei Unternehmen unterschrieben. Von diesen allerdings arbeiten 11,5 Millionen Menschen nur in Teilzeit. Und weitere rund 3,5 Millionen Arbeitnehmer beziehen Niedriglöhne, von denen sie und ihre Familien oft nicht leben können. Unter dem Strich erfreuen sich des sogenannten Standard-Arbeitsverhältnisses damit noch 19,7 Millionen Beschäftigte. Im Verhältnis zur Gesamtzahl der abhängig Beschäftigten sind das 56 Prozent. Zieht man einen Vergleich zum Erwerbskräftepotenzial – zur Zahl derjenigen, die arbeiten würden, wenn man sie ließe –, fällt die Relation noch dramatischer aus. Im Verhältnis zum Erwerbskräftepotenzial von 44,5 Millionen Menschen in Deutschland haben noch gut 44 Prozent einen Standardjob. Damit ist klar: Aus dem ehemaligen Mehrheitsmodell des Wirtschaftswunders ist heute ein Minderheitenmodell geworden.
Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Schon in der letzten Dekade der alten Bundesrepublik hatte sich eine Entwicklung bemerkbar gemacht, die nach der Wiedervereinigung rasant an Tempo gewann: die Globalisierung. Eigentlich arbeiteten die westlichen Länder seit den 1940er-Jahren daran, die Zölle abzubauen und den Handel mit Kapital zu erleichtern. Doch erst in den 1980er-Jahren kamen die Folgen auch in den deutschen Wohnzimmern an: Die Stereoanlage hieß nicht mehr Grundig, sondern Kenwood oder Sony. Deutsche Arbeit war wie immer gut und teuer, aber asiatische Arbeit war plötzlich gut und billig.
Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs erblühte dann im Vorgarten deutscher Unternehmen über Nacht ein Niedriglohnparadies. Während die Ostdeutschen auf eine schnelle Anpassung ihrer Löhne an Westniveau drängten, arbeiten Polen, Tschechen und Rumänen für einen Bruchteil der deutschen Gehälter. Und nach der Gründung der Welthandelsorganisation (WTO) 1994 boten zunehmend Arbeitsmärkte in Fernost ihre Dienste an – zu einem Bruchteil der polnischen oder tschechischen Löhne.
Die Belegschaften zu Hause in Deutschland waren von nun an mit der Drohung kleinzukriegen: Wenn ihr euch nicht mäßigt, lagern wir eure Arbeitsplätze aus. Die Gewerkschaften mussten zusehen, wie jahrzehntelange Errungenschaften nichts mehr galten. Ihre Mitglieder arbeiteten länger, für weniger Geld und immer in der Angst vor dem Jobverlust. Geradezu exemplarisch für diese Entwicklung steht der Boom der Zeit- und Leiharbeitsbranche. Sie stieß in die Lücke zwischen dem traditionell hohen Schutzbedürfnis der Arbeitnehmer und dem Wunsch nach flexiblem „hire and fire“ der Betriebe. Angeboten werden nicht selten Tages- oder Wochenjobs, die Bezahlung liegt oft unter Tariflohn.
Und noch etwas hat sich verändert, seit das goldene Zeitalter der Vollbeschäftigung zu Ende ging: Die traditionelle Alleinernährerfamilie hat sich überlebt. Frauen wollen heute arbeiten. Moderne Paare versuchen, Kindererziehung, Haushalt und Erwerbstätigkeit aufzuteilen. Gleichzeitig muss die nachwachsende Generation ihre alternden Angehörigen pflegen. Damit nimmt die Nachfrage nach Teilzeitjobs zu.
Vor diesem Hintergrund lauten die Fragen: Ist das Normalarbeitsverhältnis rekonstruierbar? Oder braucht Deutschland ein neues Sozialsystem, um neuen Lebensrisiken vorzubeugen? Für die Einführung des bedingungslosen Grundeinkommens plädiert Michael Opielka. Er ist Professor für Sozialpolitik an der Fachhochschule Jena und hat gerade das Bürgergeld-Modell von Thüringens Ministerpräsident Althaus analysiert. „Wir müssen die Existenzsicherung vom Arbeitsmarkt entkoppeln“, sagt Opielka. Seine Begründung: „Das Standard-Arbeitsverhältnis lässt sich nicht wiederherstellen“.
Das breite Spektrum der Befürworter eines Grundeinkommens findet sich auch in den recht unterschiedlichen Vorstellungen über die Höhe und die Finanzierung wieder. Thüringens Ministerpräsident Dieter Althaus (CDU) schlägt nach Abzug der Gesundheitskosten eine Summe von 600 Euro vor – was für einen Alleinstehenden weniger als Hartz IV bedeutet. Zur Finanzierung sollen die bisherigen Sozialtransfers herangezogen werden. Daneben soll die Einkommensteuer für Verdienste bis 1.600 Euro auf 50 Prozent angehoben werden, für höhere Einkommen hingegen auf 25 Prozent gesenkt werden. Zur Finanzierung der Rente setzt Althaus eine neue Lohnsummensteuer vor. Thomas Straubhaar vom Hamburger Weltwirtschaftsinstitut setzt auf eine einheitliche Einkommensteuer von 50 Prozent, um ein Grundeinkommen von 800 Euro zu finanzieren. Drogeriemarkt-Chef Götz Werner schlägt eine Summe von 800 bis 1.000 Euro vor. Er setzt zur Finanzierung vor allem auf eine drastisch erhöhte Mehrwertsteuer, die dann bis zu 50 Prozent betragen soll. Das linke Netzwerk Grundeinkommen, in dem Katja Kipping (Linkspartei) mitarbeitet, fordert ebenfalls rund 1.000 Euro monatlich. Neben Einsparungen bei der Bürokratie und Verrechnungen einiger, aber nicht aller Sozialleistungen, schlägt das Netzwerk höhere Steuern für Unternehmen, Vermögende und Bezieher hoher Einkommen vor.
Dass es zwischen 1960 und 2007 einen „Strukturbruch“ gegeben habe, bezweifelt dagegen Dierk Hirschel. Er ist Chefvolkswirt des Deutschen Gewerkschaftsbundes, der die Kundgebungen zum 1. Mai ausrichtet. „Hätten wir nur fünf Jahre Aufschwung, würde niemand über das bedingungslose Grundeinkommen reden“, so Hirschel, „denn Wachstum schafft Beschäftigung.“
Auch die meisten Politiker tun so, als wäre es nur eine Frage der Zeit, bis die Epoche von Miele, Volkwagen und AEG zurückkehre. Der gegenwärtige Wirtschaftsboom scheint ihnen recht zu geben. Anders als in den Jahren zuvor herrscht bei vielen Ökonomen Optimismus. „Der Aufschwung müsste noch etwa vier Jahre anhalten“, sagt Gustav Horn, Direktor des gewerkschaftsnahen Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK). Dann könnte die Zahl der Arbeitslosen auf unter zwei Millionen Menschen sinken, und die Erwerbslosenquote läge bei vier bis fünf Prozent. „Damit kann man leben“, so Horn.
Holger Schäfer vom arbeitgebernahen Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln hält eine Rückkehr zur Vollbeschäftigung ebenso für grundsätzlich möglich. „Auch andere Länder wie Dänemark und Großbritannien haben das binnen zehn Jahren erreicht“, sagt Schäfer. Trotzdem ist er skeptisch, ob Deutschland es schaffen wird, die Arbeitslosigkeit komplett abzubauen. „Je mehr Leute eingestellt werden, umso mehr sind das Arbeitnehmer mit geringer Qualifizierung, also mit niedriger Produktivität“, so Schäfer. Solche Menschen finden auf dem ersten Arbeitsmarkt in der Regel nur im Niedriglohnbereich einen Job. Vollbeschäftigung sei also nur um den Preis der Ausweitung des Niedriglohnsektors zu erreichen. Schäfer: „Es ist eine politische Frage, ob man das will.“
Dass viele der neuen Jobs den traditionellen Anforderungen nicht genügen, räumt auch Gewerkschaftsökonom Dierk Hirschel ein: „Mehr als 50 Prozent der Stellen, die gegenwärtig entstehen, muss man als prekär bezeichnen.“ Um das zu verhindern, fordert er eine „bessere Wirtschaftspolitik“. Der Gewerkschaftsbund würde die guten alten Arbeitsverhältnisse am liebsten per Gesetz zurückholen und plädiert unter anderem dafür, schlecht bezahlte und versicherte Mini- und Midijobs abzuschaffen, die geringfügige Beschäftigung per Gesetz einzudämmen und Teilzeitbeschäftigte besser abzusichern. In diese Richtung denkt auch Ulrich Walwei vom Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung in Nürnberg. „Die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses ist ein Trend. Internationale Vergleiche zeigen jedoch, dass diese Entwicklung gestaltbar ist.“
In der Zunahme mieser Jobs sieht Grundeinkommen-Befürworter Michael Opielka dagegen ein zentrales Argument für sein Konzept. „Das Grundeinkommen ist die Antwort auf die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse“, so Opielka. Möglicherweise gehe uns zwar die Arbeit nicht aus, aber die neuen Jobs, die der Aufschwung schaffe, seien häufig von geringerer Qualität als früher, argumentiert der Professor für Sozialpolitik. Deshalb brauchten die Menschen eine neue Art der materiellen Existenzsicherung – und damit eine neues Gefühl sozialer Sicherheit.
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