: Vorbild unter Druck
PRESSEVIELFALT Bleiben die Chancen auf einen Platz am Kiosk für alle Titel gleich? Am Dienstag entscheidet der BGH
■ Der Trend: Die Zahl der Verkaufsstellen für Presseobjekte steigt. Rund 122.000 gibt es derzeit in Deutschland. Neu hinzugekommen sind in den letzten Jahren Bäckereien, Drogerien und vor allem Lebensmitteldiscounter.
■ Das Problem: Die Hälfte aller Verkaufsstellen führt weniger als 100 Titel. Eine Entwicklung, die vor allem mittlere Verlage kritisieren, weil ihre Objekte in solchen Minisortimenten nicht präsent sind.
■ Der Motor: Nicht zuletzt Springer wirkt daraufhin, dass das Grosso immer neue Verkaufsstellen erschließt. Bild soll noch beim kleinsten Landbäcker erhältlich sein. Die Logistik für die tägliche Nachtkommissionierung ist teuer.
VON RENÉ MARTENS
Klaus Tolksdorf, der Präsident des Bundesgerichtshofs (BGH), steht in Teilen der Öffentlichkeit derzeit nicht gut da. Offenbar will er die Beförderung eines allzu meinungsstarken Richters verhindern. Die Zeit hat der Causa kürzlich ein Dossier gewidmet, in dem BGH-Juristen erwähnt sind, die ihren Chef kritisieren. Da ist es Tolksdorf wohl ganz recht, dass er am Dienstag auf andere Art im Mittelpunkt steht. Dann fällt der Kartellsenat unter seinem Vorsitz ein Urteil, von dem die Zukunft der Pressevielfalt und Pressefreiheit in der Bundesrepublik abhängen.
Vordergründig geht es darum, ob es rechtmäßig war, dass die Bauer Media Group (Tina, Bravo, Auf einen Blick) 2008 dem Elmshorner Pressegrossisten Hans-Ulrich Grade kündigte und durch eine verlagseigene Firma ersetzte. Die Firma Grade ist eines von derzeit 69 mittelständischen Grosso-Unternehmen, die überwiegend verlagsunabhängig sind. Sie fungieren als Zwischenstation zwischen den Verlagen und dem Pressehandel, sie sind logistische Dienstleister. Wenn ein Medienhaus einem neutralen Grossisten kündigen kann, sagen Experten, wachse die Gefahr, dass ein Verlag, speziell einer mit absatzstarken Titeln, den Grossisten seine Bedingungen diktiert und weniger einflussreiche Verlage darunter zu leiden haben.
Der Mann, der gegen Bauer kämpft, heißt Alexander Grade, er ist der Inhaber der Elmshorner Firma, die 540 Verkaufsstellen in Südwestholstein beliefert. Grade, von Freunden „Ali“ genant, wird im November 60, und die Klage gegen Bauer ist sein letztes Gefecht. Er kämpft für seine Branche – nicht für sich, denn er wird seine Firma an ein neues Grosso-Großunternehmen mit Sitz in Kiel verkaufen. Ende vergangenen Jahres hat Grade mit dem Exbundesligakicker Thomas Meggle einen Buchverlag gegründet, außerdem baut er eine Unternehmensberatung für Kleinverlage auf.
Bauer kündigt
Seit Ende 2008 läuft die Auseinandersetzung mit Bauer, für die der Bundesverband Presse-Grosso, der die Gerichtskosten übernimmt, bis heute rund eine halbe Million Euro hat aufbringen müssen. Damals kündigte Bauer nicht nur Grade, sondern auch der Firma Hinrich Mügge im Liefergebiet Stade. Auch die setzte sich zur Wehr. Die Ausgebooteten unterlagen aber vor den Oberlandesgerichten Schleswig und Celle, woraufhin sie Revision beim BGH einlegten. Die Stader nahmen ihre Klage aber zurück, Inhaber Frank Mügge verkaufte die Firma noch 2010, nachdem ihm ein Medienkonzern – nicht Bauer, zu dem zu diesem Zeitpunkt kein Kontakt mehr bestand – dies eindrücklich „empfohlen“ hatte.
Grade zieht sich aus ähnlichen Gründen zurück. Nachdem die Klage gegen Bauer ihren Lauf genommen hatte, sei er von zwei anderen Verlagen unter Druck gesetzt worden, sagt er. Hintergrund: Einige Konzerne sind daran interessiert, dass die Grossisten fusionieren, weil dann Arbeitsplätze wegfallen und sie von den geringeren Personalkosten der Zwischenhändler profitieren können. Da Grade durch die Kündigung Bauers, die große Umsatzverluste mit sich brachte, bereits wundgeschossen war, hatten sich einige Manager ihn als Zielobjekt ausgeguckt.
Wie die Großen der Branche ihre Karten ausspielen, beschreibt Hermann Schmidt, der kürzlich als Vertriebschef des Jahreszeitenverlags ausgeschieden ist. In seinem Buch „FC St. Pauli – Der Kampf geht weiter“ kommt auch „Ali“ Grades Kampf zur Sprache: „Während der Publishers Night in Berlin bat mich ein Großverlags-Manager, meinem Freund Ali, dem Elmshorner Grossisten, doch auszurichten, er möge sein Unternehmen an seinen Nachbarn verkaufen. Etwas anderes könne er nicht raten. Ich sagte ihm ironisch, dass es eine klasse Idee sei, wenn die Unternehmer sich nun untereinander enteignen würden … Der Mann, im Alter meines Sohnes, verstand mich nicht. Er forderte mich auf, ihm beim Gespräch in die Augen zu sehen, weil ich die ganze Zeit an ihm vorbeigeschaut hätte, und er bat mich, unsere Unterredung vertraulich zu behandeln.“ Männer fürs Grobe, wie Schmidt hier einen beschreibt, sind derzeit gefragt in den Verlagen. Ihr Auftreten erweckt den Eindruck, als hätten sie ein paar schlechte B-Movies zu viel gesehen. Sie sind aber clever genug, ihre Grobheiten nicht schriftlich zu dokumentieren.
Grossist kämpft
Grades Auseinandersetzung mit Bauer ist eine Art Urkonflikt, in der Folgezeit haben sich rund ums Thema Grosso zahlreiche juristische Verfahren entsponnen, die von der BGH-Sache kaum zu trennen sind – darunter auch ein bizarres presserechtliches Scharmützel zwischen Bauer und dem Bundesverband, bei dem auch Regionen unterhalb der Gürtellinie eine Rolle spielten. Derzeit ist am Landgericht Köln eine Klage Bauers gegen den Verband anhängig. Es geht darum, ob es kartellrechtlich zulässig ist, dass der Bundesverband Presse-Grosso im Namen aller Grossisten über Handelsspannen verhandelt.
Zu den Charakteristika des Grosso-Systems gehört es auch, dass die Firmen in ihren Liefergebieten ein Monopol haben –wobei es auf den ersten Blick paradox ist, dass dieses Monopol den Wettbewerb garantiert. „Aufgrund der Alleinanbieterstellung in seinem Vertriebsgebiet“ sei „der Grossist zur Aufnahme und Verbreitung aller verkäuflichen Titel verpflichtet“, schreibt dazu der Ökonom und Verlagsberater Peter Brummund in seinem Buch „Die Entwicklung des Funktionsrabatts im Presse-Grosso“. Ein Grossist muss also jedes Nischenmagazin in Umlauf bringen, egal, wie gering die Nachfrage ist. „Da der einzelne Grossist gegenüber den Verlagen über ein Nachfragemonopol und gegenüber dem Einzelhandel in seinem Gebiet über eine Angebotsmonopol verfügt, ist er zur Neutralität verpflichtet“, erläutert Brummund.
Das sehen die Politiker, die sich mit dem Thema beschäftigen, eigentlich auch so. „Das Presse-Grosso bleibt ein unverzichtbarer Teil unserer Medienordnung“, heißt es auf Seite 105 des aktuellen Koalitionsvertrags zwischen CDU, CSU und FDP. Zuständig für das Thema ist Kulturstaatsminister Bernd Neumann. Der hielt 2010 anlässlich des 60-jährigen Bestehens des Bundesverbands Presse-Grosso eine Rede, in der er schwärmte, das Grosso-System sei „die gleichsam ‚handfeste‘ Seite der verfassungsrechtlich garantierten Meinungs-, Presse- und Informationsfreiheit“. Es gelte „völlig zu Recht“ als „international vorbildlich“. Ähnliches hört man von anderen Politikern, aber mehr als Schönwetterformulierungen haben sie zur Sache bisher nicht beigetragen. Der Wille, Maßnahmen zur Stützung des Systems zu ergreifen, ist nicht erkennbar.
Notwendig wären sie, denn dass das System ins Wanken geraten ist, hat viel mit den sinkenden Auflagen und Anzeigenerlösen in weiten Teilen der Printbranche zu tun – und in dieser Hinsicht ist wohl wenig Besserung zu erwarten. Seit 2003 hat das Grosso bei Verhandlungen über die Handelsspannen gravierende Zugeständnisse an die großen Verlage gemacht. Die Zwischenhändler gehören zu jenen, die für die Managementfehler bluten müssen, die die Verlage seit Aufkommen des Internets gemacht haben.
Wie wichtig ein funktionierendes neutrales Grosso für Pressevielfalt und Pressefreiheit ist, zeigt ein Blick nach Großbritannien. Dort ist die Bauer Media Group der größte Verlag für Publikumszeitschriften. Rainer Bechtold, der Anwalt des Bundesverbands Presse-Grosso, führt in einer der taz vorliegenden Stellungnahme an das Landgericht Köln aus, der Bauer-Konzern habe „ebenso wie im Zeitungsbereich die News Corporation von Murdoch in besonderer Weise von dem Niedergang des verlagsunabhängigen Gebiets-Grosso profitiert“. Der britische Großhandelsmarkt sei „in den Händen von zwei Vertriebskonzernen, die zudem fast 50 Prozent des Einzelhandelsumsatzes über ihre eigenen Outlets tätigen“, der drittgrößte Grossist habe vor zwei Jahren Konkurs angemeldet. „Es gibt keinerlei Instrumente zur Sicherung der Neutralität und zur Verpflichtung der Einzelhändler, neutral disponierte Vollsortimente zu führen; vielmehr hängt der Marktzugang und die Verbreitung wesentlich von den Konditionen ab, die der einzelne Verlag dem Groß- und Einzelhandel zu bieten bereit ist.“ Deshalb ist die Neueinführung einer Zeitschrift in Großbritannien ungleich schwieriger als in Deutschland. Neon oder Brand eins hätten sich unter britischen Bedingungen hierzulande nie etablieren können.
Gericht urteilt
Dass es in Karlsruhe gut ausgeht fürs Grosso, ist aber längst nicht gewiss. Während der mündlichen Verhandlung im Mai äußerte sich auch Jörg Nothdurft, der Chef des Bundeskartellamts. Das Grosso-System sei vorbildlich, sagte er, aber ob es angesichts der Gebietsmonopole „kartellrechtlich in Ordnung“ sei, sei eine andere Frage. Im ungünstigsten Fall könnte die Quintessenz des Urteils, das BGH-Chef Tolksdorf und seine Kollegen am Dienstag fällen, lauten: Wir haben hier ein gut funktionierendes System, aber es darf nicht so bleiben, wie es ist.
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