: Ein Sommer der Lügen
Sollte Kevin tatsächlich im Mai 2006 schon tot gewesen sein, dann spielte sein wegen Totschlags angeklagter Ziehvater Bernd K. einer Reihe von Menschen, darunter Kevins Tante, etwas vor
von Eiken Bruhn
„Ich habe mich gefreut, ich dachte, meine Schwester hätte es geschafft.“ Diesen Eindruck nach einem Besuch in Gröpelingen schilderte gestern vor dem Bremer Landgericht die Tante des tot aufgefundenen Kleinkinds Kevin. Erstmals sagte damit eine Verwandte Kevins aus. Gesehen hatte Claudia K. ihn jedoch nur einmal, etwa ein Jahr nach Kevins Geburt am 23. Januar 2004.
Das positive Gefühl, mit dem Claudia K. nach diesem Besuch zurück ins Rheinland fuhr, hielt allerdings nicht lange. Ein dreiviertel Jahr später starb ihre Schwester Sandra K. unter nicht geklärten Umständen, die Leiche Kevins fanden Polizisten am 10. Oktober 2006 im Kühlschrank von Bernd K. Der Lebensgefährte von Sandra K. hatte sich um Kevin kümmern wollen und ist jetzt wegen Totschlags und Misshandlung Schutzbefohlener angeklagt. Die Staatsanwaltschaft glaubt, dass er Kevin verprügelt hat und es anschließend unterließ, ihn in ein Krankenhaus zu bringen.
Wann Kevin starb, konnten Gerichtsmediziner nicht genau sagen, lebend gesehen wurde er zuletzt Ende April 2006. Sollte Kevin tatsächlich in dieser Zeit gestorben sein, so belog Bernd K. eine Reihe von Menschen, die im Sommer 2006 nach Kevin fragten. Darunter auch Claudia K., die Bernd K. nur zweimal gesehen hatte. Beim ersten Mal hatte sie den Eindruck gewonnen, es handle sich um eine weitgehend glückliche Familie. Beim zweiten Mal, auf der Beerdigung ihrer Schwester, habe Bernd K. geweint. „Wir waren alle traurig.“
Die dritte Begegnung, am 5. und 6. Juli 2006 hingegen blieb ihr als unangenehm in Erinnerung. Das Grab ihrer Schwester sei ungepflegt gewesen, ohne Grabstein, „nur ein Stück Erde“. Geärgert habe sie auch, dass Bernd K. eine Wochen zuvor getroffene Verabredung platzen ließ und anschließend so tat, als habe er nichts davon gewusst. „Er sagte, er war mit Kevin am Wasser spielen“, so Claudia K. „Am nächsten Tag waren wir in der Wohnung, da hat er gesagt, Kevin sei im Kindergarten.“ Die Wohnung habe ausgesehen, als würde ein Kind darin wohnen. Bernd K. habe behauptet, Kevin und er hätten gerade noch mit herumliegenden Förmchen gespielt. Auf ihren Wunsch seien sie dennoch zum Kindergarten gefahren, Bernd K. sei im Gebäude verschwunden. „Er kam wieder und sagte, die Kindergruppe sei spazieren.“ Als sie ihrer Mutter von den Erlebnissen erzählte, habe diese beim Jugendamt angerufen. Doch die Mitarbeiter dort sahen, wie bereits im Untersuchungsausschuss bekannt geworden ist, keine Veranlassung dazu, sich selbst ein Bild von der Lage zu machen.
Keine neuen Erkenntnisse brachte die gestrige Vernehmung des Kinderarztes von Kevin. Er wiederholte seine bereits im Untersuchungsausschuss getroffene Aussage, er habe Bernd K. verdächtigt, Kevin misshandelt zu haben. Die in der Klinik untersuchte Stoffwechselerkrankung, mit der die Verteidiger von Bernd K. versuchen, sowohl Kevins Knochenbrüche als auch seinen Tod zu erklären, hatte er für eine Strategie des Klinikpersonals gehalten, um Kevin möglichst oft zu Gesicht zu bekommen. Wie schon an den vorausgegangenen Prozesstagen reagierte der Rechtsanwalt Jörg Hübel auf diese Aussage mit aggressiven Einwürfen. Später bemühte er sich offenbar darum, einen besseren Eindruck zu hinterlassen, indem er erklärte, die Verteidigung habe nie sagen wollen, Kevins Knochenbrüche seien auf eine schwache Knochenstruktur zurückzuführen. Allerdings gebe es Anzeichen dafür, dass Kevin nicht permanent misshandelt wurde.
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