: Die Akten und ihre Opfer
Rainer Eppelmann
Der Umgang mit den Stasiakten über Helmut Kohl beurteilt sich allein nach dem Geist des Stasiunterlagengesetzes. Dieses Gesetz hat zwei klar festgelegte Ziele: Es soll erstens die Opfer schützen und zweitens die Machenschaften der Stasi offenlegen. Eine Behörde kann sich nicht über diesen Gesetzesauftrag hinwegsetzen. Es kann nicht angehen, dass Informationen, die mit kriminellen Methoden gesammelt wurden, veröffentlicht werden. Kohl steht zweifelsfrei unter dem Schutz dieses Gesetzes. Die Gauck-Behörde darf die Akten nicht ohne das Einverständnis des Altbundeskanzlers herausgeben.
Rainer Eppelmann (57) gründete den Demokratischen Aufbruch. Heute ist er CDU-Bundestagsabgeordneter.
Vera Lengsfeld
Ich kann Helmut Kohl verstehen. Ich möchte auch nicht, dass meine Akte veröffentlicht wird. Nur die Vorgänge, die unter dem Namen der Mitarbeiter der Stasi abgeheftet wurden, dürfen rausgegeben werden, um die Täter zu enttarnen. Das war auch die Intention des Gesetzes. Die Opfer müssen geschützt werden. Ich fürchte aber, dass die Diskussion um die Opferakten Kohls dazu benutzt wird, das Kapitel Stasi ganz abzuhaken und die Akten zu schließen.
Vera Lengsfeld (48), Ikone der Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsbewegung, verließ die DDR nach Stasihaft in Richtung England. Heute ist sie CDU-Abgeordnete im Bundestag.
Ralf Hirsch
„Natürlich müssen die Persönlichkeitsrechte eines jeden Einzelnen gewahrt bleiben. Deswegen sollen Personen der Zeitgeschichte auch die Möglichkeit haben, in den Akten Stellen zu schwärzen, die ihnen zu privat sind. Aber am Ende müssen ihre Akten Forschern und Journalisten zur Verfügung stehen. Und wenn einer wie Helmut Kohl sein Recht auf Akteneinsicht nicht wahrnimmt und so die Herausgabe verzögert, dann ist es nur konsequent, wenn nach einer Frist seine Akten freigegeben werden.“
Ralf Hirsch (40) war Mitbegründer der Initiative Frieden und Menschenrechte. Er arbeitet heute beim Berliner Senat.
Thomas Krüger
Ich habe Verständnis für Helmut Kohl. Er war in einer exponierten Stellung und will seine Integrität wahren. Er muss sein Interesse und seine Argumente der Öffentlichkeit aber deutlicher machen. Statt eines Gerichtsverfahrens bedarf es einer intensiven Erklärung. Kohl hat ja früher bei den Bürgerrechtlern um Sympathie geworben. Mit der Klage verspielt er diese wieder.
Thomas Krüger (41), war Pfarrer und Gründungsmitglied der Ost-SPD. Heute ist er Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung.
Klaus Wolfram
Wir haben so etwas 1991 schon einmal erlebt. Damals versuchten Politiker, das Aktenöffnungsgesetz zu verhindern. Wir haben dann einfach die Gehaltslisten von 10.000 Stasimitarbeitern veröffentlicht, um Druck zu machen. Helmut Kohl ist kein Privatmann. Deswegen gelten für ihn auch nicht alle Privatrechte. Seine Akten nicht zu veröffentlichen, ist unvereinbar mit dem Geist von 1989, den auch er immer beschworen hat.
Klaus Wolfram (50), Mitbegründer des Neuen Forums, ist Veleger in Berlin.
Marion Seelig
Es wurden alle Akten unrechtmäßig von der Stasi erstellt. Trotzdem bin ich dafür, dass das bisherige Verfahren bleibt. Mit dem Stasiunterlagengesetz wollten wir auch Lehren aus der Aufarbeitung der NS-Diktatur ziehen, die in der Bundesrepublik nicht stattgefunden hat. Sicher gibt es viele in der PDS, die das Kapitel Stasiakten gerne abschließen würden. Ich gehöre nicht dazu.
Marion Seelig (47) organisierte in der DDR Mahnwachen für Repressionsopfer. Die Mitbegründerin der Vereinigten Linken sitzt heute für die PDS im Abgeordnetenhaus Berlin.
Reinhard Schult
Otto Schily überschreitet deutlich seine Kompetenzen, wenn er ankündigt, die Herausgabe der Akten Helmut Kohls zu verhindern. Die Gauck-Behörde ist kein Teil der Exekutive. Ihr Bericht wird dem Bundestagspräsidenten überreicht. Westliche Politiker versuchen schon länger, die Akteneinsicht zu behindern. Insofern haben Schilys Äußerungen Kontinuität. Es spricht für sich, wenn der Innenminister, der als Anwalt früher Mitglieder der RAF verteidigt hat, die Akteneinsicht stoppen will.
Reinhard Schult (49) gehörte zu den Besetzern der Stasi-Zentrale und beteiligte sich am Hungerstreik gegen die Auslagerung der Akten ins Bundesarchiv. Heute betreibt er eine Kneipe.
Markus Meckel
Ich finde Kohls Forderung anmaßend. Unter seiner Regierung wurde praktiziert, was er jetzt beklagt: die Herausgabe der Stasiakten. Das Gesetz trägt seine Unterschrift. Schily war in der Angelegenheit schon immer skeptisch. Er versucht jetzt, an der Unabhängigkeit der Gauck-Behörde zu rütteln. Ich wundere mich aber über andere Kollegen meiner Fraktion. Grundsätzlich müsste das Stasiunterlagengesetz aber geändert werden.
Markus Meckel (48), Mitbegründer der Ost-SPD und erster demokratisch gewählter Außenminister der DDR, sitzt heute für die SPD im Bundestag.
Werner Schulz
Es hat vor acht Jahren mal die Veröffentlichung eines Abhörprotokolls gegeben. In diesem gratulierte Helmut Kohl dem neuen Staatsratsvorsitzenden Egon Krenz. An dem Gespräch wurde klar, dass Kohl die Entwicklung in der DDR völlig verkannt hat. Ich kann mir kaum vorstellen, dass es noch peinlichere Dokumente in den Kohl-Akten gibt. Seine privaten Angelegenheiten werden ja geschwärzt.
Die Akten müssen freigegeben werden. Nur so können wir die Macht der Stasi endgültig brechen und verhindern, dass alte Offiziere Gerüchte streuen, mit denen sie unsere Gesellschaft auf Trab halten.“
Werner Schulz (50) gehörte in der DDR verschiedenen Oppositionsgruppen an. Er ist heute wirtschafts- und ostpolitischer Sprecher der Bündnisgrünen im Bundestag.
Jens Reich
„Das Stasiunterlagengesetz ist nicht ganz eindeutig formuliert. Aber jahrelang wurden Akten herangezogen, um Tatbestände nachzuweisen. Da kann man nicht Schluss machen, wenn es an die westdeutsche Prominenz geht. Die Stasi hat letztlich jeden, der in ihren Akten auftaucht, zum Opfer gemacht. Manfred Stolpe hat die Opferrolle für sich in Anspruch genommen, Gregor Gysi auch. Die Schriftstellerin Christa Wolf ist ganz sicher ein Opfer. Bei ihren Akten hat das keine Rolle gespielt.
Jens Reich (61) veröffentlichte 1988 unter Pseudonym in „Lettre International“.. Heute arbeitet er beim Max-Planck-Institut.
PROTOKOLLE: RALF GEISSLER
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