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Rostocker Erinnerungslücken

Vor Gericht kann Nguyen Do Thin immerhin die Ungereimtheiten noch mal öffentlich ansprechen

aus Schwerin und Rostock HEIKE KLEFFNER

Die Frage ist zur Routine geworden: „Woran können Sie sich noch erinnern?“ Ein knappes Dutzend Zeugen und die drei Männer mit den kurzen Haaren und den dezent einfarbigen Pullovern auf der Anklagebank haben im Saal des Schweriner Landgerichts seit Mitte November darauf antworten müssen. Die Standardformel lautete: „Das ist alles so lange her, daran kann ich mich nicht mehr erinnern.“

Nein, sagt Polizeioberrat Jürgen Deckert, er könne die Bilder jener Nacht des 24. August 1992 nicht vergessen. Er weiß noch, wie der Rauch in dem Haus in Rostock-Lichtenhagen immer dichter wurde. Wie die darin Eingeschlossenen verzweifelt versuchten, die verschlossene Dachtür aufzubrechen. Gesehen hat er die Bilder allerdings erst einige Tage später im Fernsehen. Denn während das „Sonnenblumenhaus“ brannte und 150 Vietnamesen, ein ZDF-Kamerateam, der Rostocker Ausländerbeauftragte Wolfgang Richter und ein Dutzend Deutsche darin eingeschlossen waren, saß er eineinhalb Kilometer entfernt in seiner Einsatzzentrale. Und hatte gerade 20 Minuten vorher zwei Polizeihundertschaften den Befehl gegeben, sich vom Ort des Geschehens zurückzuziehen.

Ein Missverständnis seiner Untergebenen sei dieser Rückzug gewesen, sagt Deckert. Der 50-Jährige legt den Aktenordner auf den Wohnzimmertisch, der das Ende seiner Karriere dokumentiert. Mit roten, grünen und schwarzen Strichen sind da auf einer Folie die Polizisten eingezeichnet, über deren Einsatz er vor neun Jahren als stellvertretender Polizeidirektor von Rostock entschieden hatte. Und die sich 150 Meter vom brennenden Haus hinter einer Einkaufshalle versteckten, während glatzköpfige Schläger die Feuerwehrleute am Löschen hinderten.

Jürgen Deckert hat ein dringendes Bedürfnis, seine Entscheidungen während des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen zu rechtfertigen. Auch bei seinem Auftritt vor dem Landgericht Anfang des Monats. Deckert ist einer der wenigen Zeugen, die bei diesem verspäteten Prozess gegen drei mutmaßliche Brandstifter reden. Regungslos und angespannt verfolgen die Nebenkläger Wolfgang Richter und Nguyen Do Thinh, die damals nur knapp den Flammen entkamen, wie der Polizeioberrat auf dem Zeugenstuhl nach vorne rutscht, bevor er seine Entscheidung begründet, das Heim der Vietnamesen am dritten Tag der Angriffe schutzlos zu lassen. Er sei nicht von einer Gefährdung der Vietnamesen ausgegangen, sagt Deckert. Die ehemaligen Hafenarbeiter seien integriert gewesen im Gegensatz zu den Asylbewerbern, die wochenlang auf der Wiese neben dem „Sonnenblumenhaus“ mitten im Wohngebiet campieren mussten, weil die dort untergebrachte Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber immer wieder „Überfüllung“ meldete. Die Flüchtlinge aber, sagt der Polizeichef, seien schon am Nachmittag des 24. August evakuiert worden.

Dass danach unter den Jugendlichen vor dem Plattenbau die Parole vom „Fidschis klatschen“ die Runde machte, will Deckert nicht erfahren haben. Obwohl er davon spricht, eine „ausreichende Aufklärung“ betrieben zu haben. Erst auf Nachfragen eines Nebenklagevertreters bröckelt Deckerts selbstbewusste Fassade. Schließlich muss er einräumen, unter den mehreren tausend Zuschauern und Neonazis nur acht Polizisten als „Aufklärer“ eingesetzt zu haben. Zwei dieser Beamten hätten das Geschehen aus einer Wohnung im „Sonnenblumenhaus“ beobachtet. Doch als die Brandflaschen flogen, sei der Kontakt zu ihnen abgerissen. Eine Panne unter vielen, die sich zu einem „totalen Versagen“ summierten, wie der spätere Rostocker Polizeichef einmal feststellte.

Außerhalb des Gerichtssaals wird Deckert deutlicher und erklärt, auch er gehöre zu den Opfern des 24. August 1992. In seinem Wohnzimmer sagt er, er sei „politisch allein gelassen worden“ und habe „den Kopf für andere hingehalten“. Namen will er nicht nennen. Die sind eh leicht zu raten: Deckerts Vorgesetzter Siegfried Kordus war in der Brandnacht unerreichbar beim „Hemdwechseln“, wie er es selber formulierte, und wurde zum Leiter des Landeskriminalamts befördert, obwohl der Untersuchungsausschuss des Schweriner Landtags seine Mitverantwortung feststellte. Erst 1994 stolperte Kordus über einen Rotlichtskandal. Oder der damalige CDU-Landesinnenminister Lothar Kupfer. Sein Ministerium ließ die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber neben den Wohnungen der Vertragsarbeiter im „Sonnenblumenhaus“ unterbringen und sah wochenlang zu, wie die Anwohner immer zorniger wurden. Kupfer blieb bis Ende 1992 Minister, forderte die Änderung des Asylrechtsartikels 16 und behauptete, ein Bleiberecht für Vietnamesen fände „in der Bevölkerung keine Akzeptanz“.

Auf dem Abstellgleis fand sich nach dem 24. August 1992 einzig Jürgen Deckert wieder. Er klagt nun darüber, dass ein Mann mit seiner Erfahrung „nicht mehr mitspielen darf“. Heute unterrichtet er an der Landespolizeischule den Nachwuchs in „Einsatztaktik“. Vielleicht erläutert er dort auch, warum er am Vorabend der Brandnacht den Befehl gab, über 100 autonome Antifaschisten aus Hamburg und Berlin am „Sonnenblumenhaus“ festzunehmen.

Dieser Teil der Rostocker Ereignisse hat für Nguyen Do Thinh eine besondere Bedeutung. Im Büro der Begegnungsstätte „Dien Hong“ in Rostock erzählt der Sozialarbeiter, dass er heute wie damals eine Gänsehaut bekomme, wenn er an jenen Moment in 72 Stunden Terror zurückdenke. Als für ihn völlig unerklärlich plötzlich die feindselige Menschenmenge vor dem Haus zurückwich und die Rufe „Hoch die internationale Solidarität!“ zu hören waren. Deckert ließ die Linken festnehmen.

Sichtlich stolz erklärt Deckert dazu, er habe keine „zweite Front“ gewollt und daher die Festnahmen der Linken angeordnet. Außerdem hätte es über die Pläne der Autonomen Vorabinformationen von den Kollegen aus Hamburg gegeben, während ihn leider kein Verfassungsschutz und kein Landeskriminalamt über die Anreise von 100 Rechtsextremisten und polizeibekannten Neonazikadern aus ganz Deutschland informiert habe.

Ungereimtheiten wie diese sind es, die Do Thinh seit über neun Jahren beschäftigen. Deshalb tritt er mit dem Ausländerbeauftragten Wolfgang Richter in Schwerin als Nebenkläger auf. Im August 1992 hatte er für seine vietnamesischen Kollegen im „Sonnenblumenhaus“ übersetzt und vermittelt. „Natürlich habe ich Leute aus der Nachbarschaft unter den Angreifern wiedererkannt“, sagt der schmale 40-Jährige, der seit 20 Jahren in Deutschland lebt. Beiläufig erwähnt er, dass die Polizei keines der Opfer je als Zeugen vernommen hat. Dann spricht er über den 24. August 1992, nach dem es für ihn „kein normales Leben mehr gab.“ Über die Todesangst. Das Gefühl der Schutzlosigkeit. Und sein Erschrecken vor der „absoluten Kälte“, mit der Deckert ihn und das ZDF-Team ohne ein Wort der Entschuldigung und „voller Rechtfertigungen“ wenige Stunden nach dem Brand in seiner Einsatzzentrale abfertigte.

Er habe nicht gewusst, dass die Parole „Fidschis klatschen“ umging, sagt Polizeioberrat Deckert

Vor Gericht kann Nguyen Do Thinh diese Fragen über seinen Anwalt immerhin noch einmal öffentlich formulieren. Fragen, auf die bislang niemand überzeugend geantwortet hat. Inwieweit die Zeugen antworten müssen, bestimmt allerdings das Gericht. Dessen Bereitschaft, die Chance zur Aufklärung zu nutzen, hat Grenzen. Den Zeugen Deckert erlöst der Vorsitzende Richter Horst Heydorn von den Fragen der Nebenkläger mit dem Satz: „Wir sind hier kein Untersuchungsausschuss.“

Wenn Heydorn schleppenden Schrittes den Gerichtssaal betritt, macht er den Eindruck, als ob jeder Verhandlungstag für ihn eine Qual ist. Von April 1995 bis November 2001 lag die Anklageschrift gegen Ronny S., André B. und Enrico P. auf dem Schreibtisch des Richters. Sechs Jahre zögerte der Vorsitzende der dritten Großen Strafkammer den Prozessbeginn mit der Begründung von Arbeitsüberlastung wegen „dringender Haftsachen“ hinaus.

Dafür, dass der letzte von gerade einmal 40 Prozessen gegen mutmaßliche Beteiligte an den Rostocker Angriffen keine „dringende Haftsache“ wurde, hatte Heydorn im September 1992 gesorgt. Da setzte er die Haftbefehle gegen die jetzigen Angeklagten außer Vollzug. Obwohl gegen den Angeklagten Ronny S. damals schon mehr als ein dutzend Ermittlungsverfahren liefen, unter anderem wegen Körperverletzung. Am Rande der Verhandlung erklärt Heydorn dazu, es sei schließlich um „bodenständige Mecklenburger Jungs“ gegangen. Die wären ja nicht weggelaufen.

Und so blieb das Aktenzeichen 23 Kls 27/95 für Heydorn eines von vielen. Der Jurist behauptet, er habe keine persönlichen Erinnerungen an die Ereignisse von 1992, da er damals in einer „DDR-Notwohnung“ keinen eigenen Fernseher gehabt habe. Zeitungsberichte will er auch nicht gelesen haben. Inzwischen sind die Vorwürfe gegen einen vierten Angeklagten verjährt. Und die Verteidiger von Ronny S., André B. und Enrico P. prognostizieren Freisprüche, während ihre Mandanten nach der Vernehmung des Zeugen Deckert gelangweilt fragen. „Was hat das alles mit uns zu tun?“

Nguyen Do Thinh hatte von Anfang an wenig Hoffnung, dass die drei verurteilt würden. Trotzdem ist er deprimiert. Er kennt das Gefühl. Irgendwo muss es noch andere Antworten auf die Frage geben, warum er beinahe verbrannt wäre. Doch kaum noch im Schweriner Landgericht.

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