Foto: Piotr Pietrus

Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland:Der Käpt’n überlebt immer

Stefan Diebetz ist Schleusenwärter in Eberswalde, er gehört zu den Ostdeutschen, die nach der Revolution 1989 viel verloren haben. Heute hat er eine Marke aus sich gemacht.

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16.10.2022, 15:42  Uhr

Drei Ruderboote biegen in die Schleuse ein. Eines heißt „Hiddensee“, ein anderes „Aurith“. Die Frauen und Männer manövrieren ihre langen Holzkähne an die Seitenwände. Einer der Steuermänner macht sich ein Bier auf. „Nastrowje, wie die Britten sagen!“, ruft er.

„Na, dann spielen wir mal Schiffe versenken“, sagt Stefan Diebetz, Kapitänsmütze und langer geflochtener Wikingerbart, und kurbelt die Metallklappen auf, das geht so schwer, dass er sich mit dem ganzen Oberkörper dagegen stemmen muss. Das Wasser rauscht mit Karacho aus dem Becken. Die Boote wackeln. „Festhalten!“, ruft einer der Insassen.

„Eines muss ich euch noch fragen“, brüllt Diebetz gegen den ohrenbetäubenden Lärm der Wassermassen an: „Was ist das wichtigste Gerät eines Schleusenwärters?“

„Die Kurbel“, rät ein Mann.

„Bierflasche“, ruft eine Frau.

„Wasser“, eine andere.

„Ooch nich“, brüllt Diebetz zurück. „Das Telefon! Und wisst ihr auch, warum?“

Allgemeine Ratlosigkeit.

„Na, um die Arbeit immer weiterzuleiten.“

Die Ru­de­r:in­nen lachen.

Diebetz fingert eine Zigarette aus seiner Schachtel. „Ich gucke mir die Leute vorher an“, sagt er, „dann weiß ich, wer Lust auf meine Scherze hat.“ Die Hauptsaison ist an diesem Tag Ende August gerade vorbei, trotzdem ist einiges los: Ein Floß mit Tagesausflüglern, ein Ruderverein aus Frankfurt (Oder), das 100 Jahre alte Fahrgastboot des Tourismusverbands tuckert vor der nahegelegenen Stadtpromenade herum.

Diebetz arbeitet seit 2017 an der Stadtschleuse Eberswalde und hat es als ihr Wärter zu einer gewissen Prominenz in der brandenburgischen Kleinstadt im Landkreis Barnim gebracht. Er mag Boote und Wasser, unterhält sich gerne mit Menschen. Er ist eine städtische Attraktion, eine Marke, so wie der Eberswalder Spritzkuchen, der wie eine glasierte Krone aussieht. Diebetz ist zur Ruhe gekommen nach den Abstürzen der vergangenen Jahrzehnte, den ganzen Veränderungen, die er bewältigen musste in seinem ostdeutschen Leben seit 1989. 17 Jahre ohne feste Arbeit hat er hinter sich, da ist Schleusenwärter quasi wie König sein.

So könnte es weitergehen.

Könnte. Sicher ist das nicht. Denn wieder wird die Arbeit, die Diebetz und seine Kol­le­g:in­nen machen, in Frage gestellt.

Immer im Oktober, wenn sich die deutsche Einheit jährt, werden die entsprechenden Reden gehalten, von Revolution, Freiheit und dem Leben, das heute besser ist als in der DDR. Seit einigen Jahren geht das nicht mehr so selbstverständlich, die Risse zwischen Ost und West sind wieder stärker zutage getreten, werden häufiger thematisiert, gerade im Umgang mit den Krisen und Umbrüchen der Gegenwart.

Bundesratspräsident Bodo Ramelow (Die Linke) hat in seiner Rede zum diesjährigen Tag der Deutschen Einheit gesagt: „Neben Geschichten von erfolgreichen Aufbrüchen stehen Erzählungen von Menschen, für die die Einheit einen sozialen Abstieg bedeutete – für manche von ihnen auf sehr lange Zeit.“ Und er warnte vor Ereignissen, die nach den Umbrüchen von damals erneut „unsere Arbeitswelt und unsere gesamte Lebensweise verändern“. Das löse bei vielen Menschen Ängste und Sorgen aus.

In der PCK-Raffinerie in Schwedt, knapp 50 Kilometer nordöstlich von Stefan Diebetz und seiner Schleuse in Eberswalde, haben sie die ganz großen Ängste. Da fürchten 1.200 Ar­bei­te­r:in­nen 32 Jahre nach der Wiedervereinigung erneut um ihre Arbeitsplätze, falls dort kein russisches Öl mehr ankommen sollte. Da fürchten sie den Krieg und seine Folgen.

Bei den Schleu­sen­wär­te­r:in­nen in Eberswalde sind die Sorgen ein paar Nummern kleiner. Hier droht nur der Fortschritt. Die alten Schleusen, die Stefan Diebetz und seine Kol­le­g:in­nen noch wie vor 150 Jahren mit der Hand aufkurbeln, sind marode. Deshalb wollen die Kommunen am Kanal sie sanieren – und, wenn sie schon dabei sind, auch gleich automatisieren. Dann könnten die Schleusen abends länger geöffnet bleiben. Und sparen würde man auch, die Gehälter der Schleu­sen­wär­te­r:in­nen kosten die Kommunen jedes Jahr knapp eine halbe Million Euro. Die Bauarbeiten an den ersten drei Schleusen sollen bald beginnen. Drei Arbeitsplätze fallen sofort weg, später wahrscheinlich mehr.

Gerade spekulieren Diebetz und die anderen Wär­te­r:in­nen – eine Frau gibt es unter all den Männern – viel darüber, wer bleiben darf und wer nicht. Und dann wechselt auch noch ihr Arbeitgeber. Aktuell ist es ein Sozialverein, der Projekte für Langzeitarbeitslose anbietet. Doch mit Beginn der Bauarbeiten sind die Kommunen für die Schleusen zuständig, genauer ein Zweckverband. Und der hat sich noch nicht dazu geäußert, wie viele Saisonarbeiter er im nächsten Jahr einstellen will, kann, darf – das entscheiden die Kommunen.

Der Schleusenwerter öffnet mit der Kurbel die Schleuse, das Wasser strömt mit großem Druck hinein Foto: Piotr Pietrus

Jeder, der bleiben will, muss sich neu bewerben. Auch Diebetz.

Am Morgen dieses Augusttages stapft Stefan Diebetz über die stoppelige Wiese zum oberen Teil der Schleusenanlage. Ab und an regnet es, die Luft drückt ein wenig, Unwetter sind angekündigt. Um den Hals trägt Diebetz ein Fernrohr, das er sein „Okular“ nennt, er will den Pegelstand ablesen. Modriger Geruch liegt in der Luft.

Vor den Gitterstäben des Wehrs haben sich die Überreste der letzten Party auf der Stadtpromenade angesammelt. Leere Bierdosen, etwas, das wie eine Chipstüte aussieht. „Jugendliche“, sagt Diebetz. Er sei ja schon froh, wenn sie nachts nicht zu ihm aufs Gelände klettern. „Ich hatte ja früher mal richtig Deko dran gehabt, mit alten Paddeln, alten Schwimmwesten. Das haben sie mir über die Jahre geklaut.“ Und auch die Handkurbeln für die Schütze schließt er jede Nacht in dem roten Backsteinhäuschen am Rand des Beckens ein. Damit ihm niemand aus Jux und Tollerei den Kanal leerlaufen lässt, sagt er.

Stefan Diebetz ist gelernter Gleisbauer. Die Ausbildung hat er in der örtlichen Bahnmeisterei gemacht, nicht freiwillig allerdings. „Zu DDR-Zeiten war es ja so“, sagt Diebetz, sein Blick wandert über das Becken zum Wallnussbaum hinter der Schleuse, „man musste einen Beruf ergreifen, und das war der einzige, der frei war.“ Der „Asozialen-Paragraf“ 249 im Strafgesetzbuch machte in der DDR Arbeit zur Pflicht. Wer keine hatte, landete oft im Gefängnis oder im Arbeitslager. Mit 16 Jahren steht Diebetz zwischen ausgewachsenen Männern im Gleis und schuftet. „Das haben wir alles mit der Hand gemacht. Die Schwellen unterkoffert, damit sie runterfallen, rausziehen, neue Schwelle rein, einhängen, wieder stoppen.“ Seit dieser Zeit habe er Probleme mit der Hüfte.

Ende der achtziger Jahre versuchen viele Männer, dem Dienst an der Waffe bei der Nationalen Volksarmee zu entkommen. Diebetz will raus aus dem Gleisbau. Außerdem versprechen sie ihm, er könne was mit Hunden machen, und die liebt er. Bei einem zweiten Treffen im Oktober 2022 zeigt er ein Schwarzweißfoto auf seinem Mobiltelefon. Seine Mutter hat es ihm geschickt. Es zeigt Diebetz vor einem großen Hundezwinger. Diebetz guckt in die Kamera, lächelt.

Damals verpflichtet er sich für drei Jahre. Und er leistet seinen Dienst nicht irgendwo: Diebetz patrouilliert mit seiner Rottweilerhündin Biene vor dem Brandenburger Tor und am Checkpoint Charlie. Er soll Menschen aufhalten, die aus der DDR fliehen wollten. „So war der Befehl“, sagt er, „na ja.“

Als die Mauer im November 1989 fällt, ist Diebetz Anfang zwanzig. Einen Tag später überquert er zum ersten Mal die Grenze, die er bewacht hat. Er will sehen, wonach sich die anderen sehnen. Spektakulär findet er es bis heute nicht. Er sagt: „Das war da wie bei uns.“

Im Oktober 1990 tritt die DDR der BRD bei. Mit dem Land geht auch dessen Armee zu Ende. Die Diensthündin von Diebetz wird eingeschläfert, weil Biene zubeißt, in Situationen, in denen sie sich unsicher fühlt, sagt er.

So kurz nach der Revolution herrscht bei vielen Menschen noch Freude über das neue Leben, aber es beginnt auch schon die Zeit, in der viele Betriebe auf dem Gebiet der ehemaligen DDR für wenig Geld an westdeutsche Firmen verkauft werden. Die Zeit der Treuhand, der massiven Entlassungen, die Zeit existenzieller Kämpfe.

Die Kapitänsmütze hat Stefan Diebetz bei Amazon gekauft Foto: Piotr Pietrus

Das Eberswalde, in dem Diebetz aufgewachsen ist, war ein bedeutender Industriestandort der DDR, mit chemischer Fabrik und Walzwerk. Hier besserten sie Züge aus und bauten riesige Kräne für den internationalen Markt. 2002 liegt die Arbeitslosenquote für den Bezirk Eberswalde bei rund 20 Prozent. Doppelt so hoch wie in Gesamtdeutschland.

Heute ist das anders. Das liegt auch an den Tourist:innen. Wenn es die nicht gäbe, bräuchten sie Stefan Diebetz hier auch nicht. Er nimmt die lange Stange aus der Haltevorrichtung und zieht das Tor mit langsamen, rückwärtsgewandten Schritten auf. „Wenn man das zwanzig Mal am Tag macht, weiß man, was man gemacht hat“, sagt er. In der vergangenen Saison hätten sie rund 17.000 Schleusungen von Freizeitbooten im Kanal registriert. Vor allem während der Lockdowns hätte er manchmal keine freie Minute gehabt, erzählt Diebetz.

Der aus Rostock stammende Soziologe Steffen Mau vergleicht die Einführung der Marktwirtschaft im Osten Deutschlands in seinem Buch „Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft“ mit einem gesellschaftlichen Tsunami: „Private Gewinninteressen wurden in Szene gesetzt und ermächtigt, bislang abgeschirmte Bereiche den Imperativen des Marktes unterworfen, Werktätige in marktfähige Güter verwandelt.“

Diebetz hat damals erst mal Glück. Er wird zunächst Hausmeister in einem städtischen Jugendclub, dann macht er sich 1993 selbstständig mit einer Firma für Abrisse und Entrümpelungen. Er entsorgt die Dinge, die die Leute nicht mehr haben wollen, also quasi alles. Drei Autos hat er, und er stellt Mitarbeiter ein. Es sieht aus, als hätte er es geschafft. Doch dann hätten einige seiner Kunden nicht gezahlt. „Es gibt Städte, die heute noch Schulden bei mir haben“, sagt er. Der erste Versuch, im Kapitalismus Fuß zu fassen, scheitert nach nur drei Jahren. Dann ist die Firma pleite. „Ich hatte Leute, die ich bezahlen musste. Die musste ich dann alle wieder entlassen“, sagt Diebetz. Er meldet Privatinsolvenz an.

Stefan Diebetz über das Ende seiner Firma

„Es gibt Städte, die heute noch Schulden bei mir haben“

Ostdeutsche Männer aus dem Jahrgang 1971 hätten nach dem Mauerfall bis zum Alter von 34 Jahren fast fünfmal den Job gewechselt, Frauen viermal, schreibt Soziologe Steffen Mau. Und: In der typischen Erwerbsbiografie eines Ostdeutschen „reihten sich vom Jobcenter verordnete Bewerbungstrainings, Gelegenheitsjobs, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, reguläre, aber befristete Jobs, Versuche der Selbstständigkeit, längere Krankheitsphasen, Aushilfstätigkeiten im Laden einer Bekannten und Solounternehmertum aneinander“.

Diebetz ist vier Jahre älter als die Altersgruppe, über die Mau in seinem Buch schreibt, aber nach der Privat­insolvenz läuft es bei ihm ganz ähnlich. Er bekommt einen Job als Bauhelfer angeboten, einen als Elektrohelfer. Er schlägt sie alle aus, lebt von Sozialhilfe und arbeitet wieder als Hausmeister. Dieses Mal bei der Volkssolidarität, ohne Gehalt, ehrenamtlich. Einfach mal nicht zu arbeiten wäre ihm nicht in den Sinn gekommen: „Zu Hause rumsitzen konnte ich nicht, da wäre mir die Decke auf den Kopf gefallen.“

Das ist bis heute so.

„Hast morgen frei, wa?“, nuschelt ein Kollege, der gegen Abend von einer anderen Schleuse gekommen ist. Die beiden sitzen auf eine Zigarette zusammen.

„Wer, du?“, fragt Diebetz.

„Ne, du“, sagt der Kollege.

„Na ja, fünf Tage“, sagt Diebetz.

„Der braucht das mal“, sagt der Kollege und deutet mit dem Kinn auf Diebetz. „Der macht ja auch nebenbei genug. Seine’ Leute’ da helfen, einkaufen fahren und sonst was. Deshalb sitzt der auch hier und will nicht nach Hause.“

Diebetz nickt.

Menschen, die viel arbeiten, gibt es natürlich auch in Westdeutschland, der Workaholic gilt geradezu als klassischer Auswuchs des Kapitalismus. Im Osten Deutschlands gibt es aber noch ein anders gelagertes spezielles Verhältnis zur Arbeit. Vielleicht weil in der DDR vieles um die Arbeit herum organisiert war, um die Betriebe: Sportvereine, Freizeit, Feiern, ja sogar die Kampfgruppen für die Heimatverteidigung. Arbeit war oft Lebenssinn, und ja, wer keine hatte, konnte im Gefängnis landen. „Kulturell war die DDR eine durch und durch ‚arbeiterliche Gesellschaft‘, in der tätige Arbeit, Betriebsanbindung und Facharbeiterkultur besondere Wertschätzung erfuhren“, schreibt Mau in „Lütten Klein“. Fast je­de:r in der DDR hatte einen Job, ein Großteil des eigenen Selbstverständnisses wurde über den Arbeitsplatz gebildet.

Diebetz kann nicht einfach Dienst nach Vorschrift machen. Er kurbelt nicht nur seine Schleuse auf, er betreibt auch den zur Stadtschleuse gehörenden Kanuverleih, ist ständig für seine Kol­le­g:in­nen erreichbar, hilft ihnen bei ihren Bewerbungen. Er erklärt jeder Person, die danach fragt, die alte Technik seiner Anlage und gibt Boots­fah­re­r:in­nen Tipps, wo sie am besten einkaufen oder übernachten können.

2010, da war er noch ehrenamtlicher Hausmeister, sei ihm alles einmal kurz zu viel gewesen, erzählt Diebetz.

Steffen Mau, Soziologe

„Kulturell war die DDR eine durch und durch ‚arbeiterliche Gesellschaft‘“

„Da hatte ich Winterdienst, nur mit Schippe und Besen. Bin dann nach Hause und habe Schmerzen gekriegt. Brustschmerzen. Da wusste ich, irgendwas stimmt nicht.“

Drei Minuten klinisch tot. Ein Herzinfarkt.

Nach drei Stents, 14 Tagen auf Station und drei Wochen Reha sei es ihm dann wieder einigermaßen gut gegangen, sagt Diebetz. Er fängt sogar wieder mit dem Rauchen an.

Seine zweite große Chance, vielleicht auch die dritte, wenn man die Entrümpelungsfirma zählt, kam für Diebetz im Sommer 2017. Damals fragte ihn seine Sachbearbeiterin unverhofft, ob er den Job als Schleusenwärter will. Und ob er will. Endlich ein fester Job mit einem akzeptablen Einkommen. Diebetz arbeitet nur in der Saison, von Mitte April bis Mitte Oktober. Im Winter fährt er als Kraftfahrer für ein örtliches So­zialkaufhaus, wenn sie ihn da brauchen.

Wie viel er bei seiner Arbeit an der Schleuse verdient, sagt er nicht. Nur so viel: „Ich habe zu Hause ein Auto stehen und ein Moped. Man überlebt es.“

Er hat sogar ein Boot. Dieses Boot, oder eigentlich nur ein Bild davon, ist eines der ersten Dinge, die Diebetz zeigt, an diesem Tag im August. Es ist früh am Morgen, noch vor dem Rundgang mit dem Okular. Da sitzt er an seinem Schreibtisch im Backsteinhaus, greift nach einem schmutzigen Kaffeebecher auf dem Kühlschrank hinter sich und zeigt auf das Bild. Das Boot erinnert entfernt an einen Katamaran. Er hat es mit seinem Bruder aus zwei alten DDR-Kähnen und einer Holzplattform zusammengeschraubt und „Andrea Doria“ getauft. Nach einem Song von Udo Lindenberg, weil er den toll findet. Das Boot ist Marke Eigenbau, so wie Diebetz’ Leben.

Der zweite Schleusenwärter des Tages lässt die Boote durch Foto: Piotr Pietrus

Mit seinem Gefährt kann er noch öfter am und auf dem Wasser sein als in seinem Job. Er liebt das Wasser und alles, was irgendwie damit zu tun hat, deswegen auch sein Wikingerschmuck. Er trägt ein Lederarmband am rechten Handgelenk. Darauf ist ein Hammer abgebildet, das Zeichen von Thor. Stefan Diebetz sagt, er habe ein Faible für den Gott, weil der für die Freiheit der Wikinger gekämpft habe.

Und er sagt Sätze wie: „Der alte Finowkanal existiert schon seit 400 Jahren“, und dass er für den Kanal kämpft. Seine Schleuse ist die älteste am Wasserlauf, stolz zeigt er das Schild: Vollendet im Jahr 1875. Diesen Stolz hat er nicht exklusiv, den teilen in Eberswalde viele. Das ist der örtliche Lokalpatriotismus, sogar ihren Dialekt nennen sie hier Kanaldeutsch.

Bei Diebetz fängt es mit diesem Stolz allerdings erst nach der Revolution 1989 an. Zu DDR-Zeiten ist das Wasser eine Kloake der Industriebetriebe, das chemische Werk leitete seine Abwasser hinein, eine Wäscherei ebenfalls. Manchmal steht der Schaum zentimeterhoch auf der Wasseroberfläche und verströmt einen seifigen Geruch. Damals nimmt Stefan Diebetz den Kanal kaum wahr, sagt er. Das ändert sich bei ihm erst, als die Industrie nach dem Beitritt der DDR verschwindet und das Wasser sauberer wird.

Diebetz arbeitet hier auch deshalb so gern, weil er hier das Sagen hat.

Hier entscheidet er, wann welches Boot zuerst hineinfährt und wo es festgemacht wird.

Hier hat er Kolleg:innen, die ihn anrufen und ihn um Rat bitten.

Hier hat er zwei Schmetterlinge aus Blech an das Fenstergitter seinen Büros angebracht und eine eigene Kaffeemaschine hineingestellt.

Hier kennt man ihn.

Hier ist er wer.

An diesem Augustmorgen kommt ihn ein ehemaliger Mitarbeiter des Wasserstraßen- und Schifffahrts­amts besuchen, so wie fast jeden Tag. „Morgn, Herr Thiele!“, ruft Diebetz. Und fügt hinzu: „Der kommt fast täglich. Der hat Sehnsucht nach dem Kanal.“

Vom Zaun des Schleusengeländes winkt jemand. „Das ist der eine Nachbar von mir, den werde ich erst mal wieder abwimmeln“, sagt Diebetz und läuft zum Zaun. Der Nachbar ist ein großer Mann mit Schnauzbart und einem kindlichen Ausdruck im Gesicht. In einer Hand hält er einen Brief.

„Was haben wir denn, damit du selber kommst?“, fragt Diebetz.

Der Nachbar: „Der B. ist doch voriges Jahr beerdigt worden.“

„Nein, das ist schon zwei Jahre her.“

„Zwei Jahre?! Ich habe Post gekriegt von der Polizei …“

„Ach so. Den hat R. auch jekriegt.“

„Ja?“

„Ja, ja. Stellungnahme sollste machen.“

„Ob ich was gesehen haben soll …“

„Ja, genau.“

„Er ist Analphabet“, erklärt Diebetz. „Deswegen kommt er mit solchen Problemen zu mir.“

Diebetz kümmert sich um andere, die weniger gut zurechtkommen als er. Seine Arbeit, könnte man sagen, die sichert nicht nur sein Leben.

Er wohnt seit 2002 in einem Haus der Volkssolidarität, in dem außer ihm vor allem Menschen mit Betreuer wohnen. Die meisten sind Männer. Der eine hört Stimmen, ein anderer hat sich vor einiger Zeit im Wald aufgehängt.

Ins Haus lassen will er einen bei einem Besuch Anfang Oktober allerdings nicht. „Zu chaotisch.“ Seine Wohnung, er sagt: „mein Apartment“, sei bloß ein kleiner Raum, 20 Quadratmeter, mit Hochbett und Kochnische. Viel lieber zeigt er den Wohnwagen, den er vor ein paar Jahren hinter dem Haus aufstellen durfte, und den Holzpavillon davor, den er selbst gebaut hat. Über der Eingangstür hängt eine Kuhglocke. „Wer mit dem Kopf dagegen stößt, muss draußen bleiben“, sagt Diebetz. Er lasse nur Menschen hinein, die mit ihm auf einer Augenhöhe oder kleiner sind. Hier lebt er den ganzen Sommer über, erst wenn die Saison vorbei ist, zieht er ins Haus.

Eine Lichterkette zieht sich die Wände entlang, über einem Kaktus hängt ein Schild. „Ruhezone“. Ein Fernseher käme ihm hier nicht hinein, sagt Diebetz. Bei ihm werde sich noch richtig unterhalten. „Das ist mein Nachbar H.“, stellt Stefan Diebetz den Mann am Tisch vor, der mit versteinerter Miene mehrere Tawa-Big-Packs übereinanderstapelt und dabei genau darauf achtet, dass sie Kante auf Kante liegen. H. hört Stimmen, sagt Diebetz. Er kocht jeden Abend auch für ihn. Cordon Bleu, Nudeln, Gemüsepfanne, etwas Hack. Er setzt Kaffee auf. Er sagt: „Der Mensch braucht etwas Warmes.“ Er sagt auch: „Bei mir können die Leute kommen, wie sie wollen.“

Er ist in das Haus eingezogen, nachdem er sich von seiner Ex-Freundin getrennt hat. Wenn er über sie redet, dann hört man bisweilen den rauen und manchmal rassistischen Ton heraus, in dem die Männer hier miteinander sprechen:

„Die musste mal ’ne andere Hautfarbe kennenlernen und da habe ich gesagt: Schluss, aus, Micky Maus, und habe mir was Eigenes gesucht.“

Stefan Diebetz war noch nie im Urlaub. Okay, ein Mal vielleicht, auf Rügen

„Ich habe doch den Finowkanal. Der reicht mir“

Dazu passt auch der Satz, den Diebetz sagt, als man ihn fragt, wie sich die Stadt seiner Meinung nach entwickelt habe. Viele Arbeitslose gibt es hier heute noch, sagt Diebetz. Am Altstadtkern machen sie was, aber im Brandenburgischen Viertel ist noch alles ziemlich DDR-mäßig.

„Die Stimmung ist durch die ganzen Ausländer ein bisschen gekippt“, sagt Diebetz. Dann bricht er aber ab. Er sagt, er wolle nicht politisch werden.

Ist ihm jemals in den Sinn gekommen, die Stadt zu verlassen?

„Nö.“

Und Urlaub?

„Nö“, sagt Diebetz. „Ich habe doch den Finowkanal. Der reicht mir.“

Dann fällt ihm ein, dass er vielleicht schon mal auf Rügen war. Daran kann er sich aber nicht mehr so genau er­innern.

Diebetz zeigt sein Bewerbungsfoto. Er ist fast nicht zu erkennen. Ein Mann mit Glatze und Brille. Einer wie viele. Erst als Diebetz den Job als Schleusenwärter bekam, entschied er, sich einen richtigen Seemannsbart wachsen zu lassen. Beim Einstellungsgespräch, damals 2017, sagt sein späterer Chef zu ihm: „Ah, der Käpt’n!“ Dieser Satz, vielleicht einfach nur so rausgerutscht, ging Diebetz nicht mehr aus dem Kopf. Die Rolle des Kapitäns, das machte mehr her als all die bisherigen Rollen in seinem Leben. Doch ein Käpt’n braucht etwas, damit man ihn erkennt. Diebetz bestellte eine Kapitänsmütze bei Amazon. Irgendwann schenkt ihm seine Schwägerin noch Ringe für den Bart.

Diese Boote haben gerade Marko Panzers Kupferhammer Schleuse durchquert Foto: Piotr Pietrus

Er denkt sich witzige Sprüche aus, wie den mit dem „Schiffe versenken“, den er erzählt hat, als die drei Ruderboote in seiner Schleuse waren. Und wegen der Sprüche hat er sich auch mal fast mit seinem Lieblingskollegen Marko Panzer gestritten, der ihm einen seiner Sätze geklaut hatte. Ein Anruf, dann war das geklärt.

Der Rundfunk Berlin-Brandenburg sei schon hier gewesen und Kabel 1 hat ihn für die Dokureihe „Achtung Kontrolle!“ begleitet, sagt Diebetz. Manche Leute würden extra seinetwegen in den Kanal fahren. Und Diebetz erzählt, wie sich sein möglicher neuer Chef immer freut, wenn er ihn sieht: „Weil ich sein Lieblingsschleusenwärter geworden bin, sein Maskottchen.“

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Man könnte auch sagen, dass Stefan Diebetz nach seiner zweiten oder dritten Chance den Kapitalismus verstanden hat. Er hat eine Marke aus sich gemacht. Er ist der Kapitän an Land. Er glaubt: Wenn einer bleibt, seinen Job behält, dann er. Um seinen Kollegen Panzer macht er sich da schon mehr Sorgen, sagt Diebetz. Auch weil der keine Fahrerlaubnis hat, und die sei beim Zweckverband zwar nicht erforderlich, aber erwünscht.

Kurz vor Feierabend kommt Panzer dann mit dem Fahrrad angefahren, wie eigentlich jeden Abend. Das geht, weil er von seinem Kollegen eine Schleuse weiter oben weiß, dass keine Boote mehr kommen. Das einzige Risiko sind die Studenten von der nahegelegenen Öko-Uni. Die haben ihren Kanusteg genau zwischen Diebetz’ und Panzers Schleusen. Deshalb wissen die beiden auch nie, wann sie vorbeikommen.

Panzer ist ein 49-jähriger Mann mit vielen Tatoos und traurigen Augen. Die beiden Männer sitzen in Diebetz’ Büro und rauchen. Im Hintergrund läuft Miley Cyrus. Ihre Stimme schallt grell in den Raum. Diebetz und Panzer quatschen über Frauen und Hunde.

„Ich wollte das eigentlich schon immer machen“, sagt Panzer, als man ihn fragt, wie ihm der Job gefällt. Auch er hangelte sich nach der Wende von Umschulung zu Umschulung und strandete bei Ein-Euro-Jobs.

Würde er gerne bleiben?

„Ja, wäre schön“, sagt Panzer. „Aber es ist schwierig.“

„Dann werd ich die Schleuse mal zur Nachtruhe begeben“, sagt Diebetz. „Es sei denn, es kommt noch ein Student …“

„Ne!“, ruft Panzer. „Jetzt musst du doch nicht mehr schleusen.“

„Doch, bis drei viertel“, sagt Diebetz.

Und als hätten die Studenten mitbekommen, dass über sie geredet wird, taucht pünktlich zum Feierabend tatsächlich einer vor Diebetz’ Fenster auf und winkt herüber.

„Können wir durch die Schleuse?“, fragt der junge Mann mit dem Zopf und dem bayerischen Akzent, nachdem ­Diebetz zu ihm an den Zaun gelaufen ist.

„Jetzt nicht mehr“, sagt Diebetz.

„Müssen wir die Kanus jetzt rumtragen?“, fragt der Student.

„Rumtragen, genau“, sagt Diebetz.

„Wollten die jetzt noch runter?“, fragt Panzer, als Diebetz zu ihm ins Büro zurückkehrt.

„Die wollten jetzt noch runter“, sagt Diebetz.

„Um diese Zeit?!“

„Ich sag doch: Studenten.“

Beim zweiten Treffen im Oktober klappt Diebetz seinen Laptop auf, er hat extra die Doku von Kabel 1 über sich herausgesucht. Er sitzt zurückgelehnt und guckt sich mit einem kleinen Grinsen selbst im Fernsehen an.

Bei der Frage, ob er jetzt wisse, wie es für ihn weitergeht, gibt er sich verschlossen.

Er selbst habe sich beworben, Panzer auch. Nun hofften sie beide, dass es gut ausgeht und sie ihre Jobs behalten können. Aber mehr dürfe er nicht sagen, das Bewerbungsverfahren laufe ja noch.

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