Arbeitskampf an der Charité: Krankes System
Beim ersten Ärzte-Streik an der Charité seit 15 Jahren fordern Mediziner*innen bessere Arbeitsbedingungen. Dabei geht es um mehr als höhere Löhne.

„Wir können einfach nicht mehr. Wir sind müde und überarbeitet“, sagt Assistenzärztin Jana Reichardt. Sie ist nicht die Einzige. Viele Ärzt*innen berichten auf der Streikkundgebung von 80-Stunden-Wochen, zahllosen Bereitschaftsdiensten, kaum freien Wochenenden, zu wenig Zeit für die Patient*innen sowie das eigene Privatleben und immer wieder: mangelnde Wertschätzung.
„Ich bin an der Grenze meiner Belastbarkeit angekommen“, sagt ein Intensivmediziner, der gerade eine 17-Stunden-Schicht hinter sich hat. „Ich liebe meinen Beruf. Aber nicht mit diesen Arbeitsbedingungen.“ Noch wichtiger als mehr Lohn ist für ihn daher eine Arbeitszeitbegrenzung, wie es sie auch für Pilot*innen oder Kraftfahrer*innen gibt. Immerhin stehe auch bei übermüdeten Ärzt*innen das Leben von Menschen auf dem Spiel: sowohl das der Patient*innen als auch das der Mediziner*innen, die eine deutlich höhere Suizidrate aufweisen als die Gesamtbevölkerung.
Jana Reichardt, Assistenzärztin
„Ich stand vor der Wahl: kaputtzugehen oder laut zu werden“, sagt Jana Reichardt. Die junge Ärztin hat sich für Letzteres entschieden und kämpft nun in der Tarifkommission für bessere Arbeitsbedingungen. Seit März verhandelt der Marburger Bund mit der von den Demonstrant*innen spöttisch „Sparité“ genannten landeseigenen Klinik über den Haustarifvertrag. In drei Verhandlungsrunden mit insgesamt sieben Sondierungsgesprächen konnte jedoch bislang keine Einigung erzielt werden.
Gewerkschaft: Angebot der Charité unzureichend
Der Marburger Bund fordert unter anderem verlässliche Dienstpläne, weniger Bereitschaftsdienste, Zuschläge für kurzfristiges Einspringen und 6,9 Prozent mehr Gehalt. Laut Charité sind die Verhandlungen durch die Vielzahl an Themen „sehr komplex, aber konstruktiv“. Man habe ein „differenziertes Paket mit Angeboten zu Arbeitszeit und Entlastung, Fort- und Weiterbildung, Entbürokratisierung und Gleichstellung“ vorgelegt.
Das sieht die Gewerkschaft anders. „Das vorgelegte Angebot ist völlig unzureichend“, sagt Peter Bobbert, Vorstandsvorsitzender des Marburger Bundes Berlin-Brandenburg. Die angebotene Lohnerhöhung von 1,9 Prozent in diesem und 1,6 Prozent im nächsten Jahr sei angesichts der Inflation nicht ausreichend, die belastenden Arbeitsbedingungen würden nicht angetastet. Die Antwort der Ärzt*innen ist klar: „Nicht mit uns!“, tönt es immer wieder über den Robert-Koch-Platz.
Es sind auffällig viele junge Menschen, die sich an dem Ausstand beteiligen. Der Medizin drohe angesichts der „abschreckenden Arbeitsbedingungen“ ein Nachwuchsproblem, sagt eine Studentin im Praktischen Jahr. Auch sie habe schon oft darüber nachgedacht, aufzuhören. Damit ist sie nicht allein: Laut einer aktuellen Befragung von fast 8.500 Charité-Beschäftigten überlegt fast ein Viertel aufzugeben. „Wir brennen für unseren Beruf, aber wir lassen uns nicht verheizen“, ruft die Gewerkschaftsvorsitzende Susanne Johna den applaudierenden Ärzt*innen zu.
Auch die Politik ist gefragt
Unterstützt werden die Mediziner*innen von der Berliner Krankenhausbewegung, die vor einem Jahr nach langem Streik einen Entlastungstarifvertrag für Pflegekräfte an der Charité ausgehandelt hat. Gemeinsam mit den Ärzt*innen wollen sie strukturelle Veränderungen wie ein Ende der umstrittenen Fallpauschalenvergütung durchsetzen. „Krankes System“ und „Diagnose: systemisch-progressive Profitgeilheit“ ist auf Plakaten zu lesen.
Streiken war im Gesundheitssektor lange verpönt, obwohl für den Zeitraum der Arbeitsniederlegung eine Notfallversorgung sichergestellt ist. Angestellte berichten, sie seien von Vorgesetzten unter Druck gesetzt worden, sich nicht an dem Ausstand zu beteiligen.
Abschrecken tut das die wenigsten. „Wir sind zu viele, um uns unter Druck zu setzen“, sagt Julian Gabrysch. Der Arzt in Weiterbildung hat mit Kolleg*innen die Berliner Ärzt*inneninitiative gegründet, um die Forderungen nach mehr Investitionen und Personal auch auf die politische Ebene zu tragen. „Das ist nicht nur ein Charité-Problem, das betrifft alle Krankenhäuser“, ist der junge Arzt überzeugt.
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