Arbeiterkind mit Arbeiterkinder-Budget: Lernen, sich einen Raum zu nehmen
Wer mit wenig Geld aufwuchs, kriegt es kaum auf die Reihe: Forderungen zu stellen. Für Bürgerkinder ganz selbstverständlich.
E s ist kurz vor Mitternacht. Es regnet – mein Schirm ist vom Wind zerstört worden. Die Straßenbahn kommt erst in 15 Minuten, von der Station sind es dann noch immer 10 Minuten zu Fuß. Nach einem unglaublich langen Tag komme ich völlig durchnässt und kaputt zu Hause an. Als ich am nächsten Tag einer Freundin von meiner Odyssee berichte, fragt sie mich, wieso ich kein Taxi genommen habe? Das war nicht einmal auf meinem Radar. Geld auszugeben, damit mich wer fährt, die Idee kommt mir erst gar nicht.
Irgendwie kriege ich mein Arbeiterkind-mit-Arbeiterkinder-Budget-Denken nicht aus dem Kopf und es prallt immer öfter mit meinem jetzigen Akademikerin-mit-Akademikerinnen-Budget-Leben aufeinander. Zum Beispiel wenn ich mich mit Kolleginnen treffe und ich als Einzige nie etwas zu essen, immer nur zu trinken bestelle.
Ich esse schließlich immer daheim vorm Rausgehen, so wie früher eben, damit ich dafür draußen kein Geld ausgeben muss. Massagen, Pediküre, Kosmetikerinnenbesuche erlebe ich nur durch Geburtstagsgutscheine. Friseurbesuche handhabe ich wie gynäkologische Untersuchungen – zweimal im Jahr, weil es sein muss, nicht, weil ich mir was gönne.
Mir war gar nicht bewusst, wie sehr sich meine finanzielle Sozialisation aus der Kindheit auf meine heutige auswirkt. Bis ich vor Kurzem das Buch „Die Elenden“ von Anna Mayr gelesen habe. Sie erzählt aus ihrem Leben als Kind zweier Arbeitsloser, und auch wenn – wie sie selbst anmerkt – es einen Unterschied macht, ob du Arbeiter- oder Arbeitslosenkind bist: Es gibt da eine Stelle im Buch, die bei mir für ein Aha-Erlebnis gesorgt hat.
Zu viel Platz wegnehmen
Darin beschreibt sie, wie sie Menschen im Yoga-Studio bewundert, die geübt darin sind, den Raum einzunehmen. Die der Yoga-Lehrerin sagen, dass der Tee leer ist und ihr Knie schmerzt. Und dann beschreibt sie ihre Gedanken vor der Yoga-Stunde, und es ist, als hätte sie in meinen Kopf geschaut. „Eingangstür – hoffentlich habe ich mich nicht mit der Zeit vertan (...), wo zieht man die Schuhe aus (...), es tut mir leid, darf ich fragen, in welchem Raum die Stunde stattfindet, ach egal, ich finde es schon heraus, will jetzt auch nicht nerven (...), auf zur Stunde, Mist, falscher Raum, oder bin ich nur blöd, ist das jetzt der Anfängerkurs, lieber noch mal googeln, vielleicht steht es ja online (...), okay, wohin jetzt mit mir und der Matte, am besten hier, dann denkt die Lehrerin nicht, ich würde absichtlich die letzte Reihe wählen, nimmt die Matte auch nicht zu viel Platz weg (...)“
Mein ganzes Leben lang dachte ich, dieses Verhalten wären einfach Teil meiner seltsamen individuellen Persönlichkeit, aber Harvard-Professor Anthony Abraham nennt uns die „privilegierten Armen“, die in ihrer Kindheit eben nicht gelernt haben, einen Raum in der Welt einzunehmen. Die sich auch später nicht trauen, die Zeit von Professor:innen oder eben Yoga-Lehrer:innen in Anspruch zu nehmen, auch wenn sie jetzt mit ihnen dieselben Räume teilen.
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