Antisemitismus-NGO Rias über Vorwürfe: „Unsere Ergebnisse sollen abgewertet werden“
Ein Bericht der Diaspora Alliance kritisiert die Arbeit der Antisemitismusmeldestelle Rias. Ein Sprecher weist die Vorwürfe als „bizarr“ zurück.
taz: Herr Poensgen, ein Bericht der Diaspora Alliance, verfasst von dem israelischen Journalisten Itay Mashiach, kritisiert, Rias blase die Zahl antisemitischer Vorfälle in Deutschland künstlich auf, überdramatisiere viele Fälle. Ist da nicht was dran, wenn etwa eine Rede im Magdeburger Landtag aus dem Jahr 2020 mitgezählt wird, in der Moshe Zimmermann anmahnt, „Nie wieder“ gelte auch für Israelis?
Daniel Poensgen: Erst mal ist festzuhalten, dass der Bericht ganz wesentlich auf fundamentalen Auslassungen basiert. Er berücksichtigt zahlreiche Rias-Publikationen nicht – nämlich immer dann, wenn sie die Argumentation des Autors explizit widerlegen. An vielen Stellen gibt er die Arbeit von Rias faktisch falsch wieder. Die Rede im Magdeburger Landtag ist ein gutes Beispiel: Auch da werden unsere Einschätzungen verzerrt wiedergegeben und dann wird falsch generalisiert.
ist wissenschaftlicher Referent beim Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e.V., kurz RIAS. Seit 2018 dokumentiert die zivilgesellschaftliche Organisation mithilfe eines Meldeportals deutschlandweit antisemitische Vorfälle. Regionale Verbände gibt es mittlerweile in elf Bundesländern. Der Jahresbericht für 2025 erscheint am 4. Juni.
taz: Inwiefern?
Poensgen: Bei einer Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus wurde damals eben gesagt, dass die Mahnung „Nie wieder“ auch für Israelis gelte, und zwar nicht nur aus der Opferperspektive. Hier werden in einem deutschen Parlament ausschließlich Israelis als Gruppe erwähnt, die aufpassen müssen, die deutschen Verbrechen nicht zu wiederholen. Dabei haben wir den Kontext der Aussage ganz besonders gewichtet und diese Situation als Vorfall in die Statistik aufgenommen.
taz: Ist die Tatsache, dass Moshe Zimmermann selbst jüdischer Israeli ist, nicht auch wichtig für den Kontext?
Poensgen: Das berücksichtigen wir auch. Aber grundsätzlich spielt die Intention bei antisemitischen Aussagen für unsere Einschätzung keine große Rolle. Unmittelbar vor der Passage positionierte sich der Redner zudem als Historiker und allgemein als Beobachter. Wir haben es uns in diesem Fall nicht leicht gemacht, aber der Kontext der Gedenkfeier in einem deutschen Parlament wog aus unserer Sicht schwerer. Man mag in diesem Fall auch zu einer anderen Einschätzung kommen, daraus aber ein generelles Problem der Rias-Daten zu machen, das gibt auch der Bericht nicht her.
taz: Der Bericht kritisiert auch, für Rias sei es schon antisemitisch, wenn auf einer Theaterbühne eine Figur antisemitisches äußert.
Poensgen: Auch das ist faktisch falsch. Der Bericht zitiert aus sehr umfassenden Einschätzungen, die die Meldestelle aus Bayern hinsichtlich des Theaterstücks Vögel vorgenommen hat. Natürlich wird zwischen den Aussagen fiktiver Personen innerhalb eines Stückes und der gesamten Figurenkonstellation und Dramaturgie unterschieden. Das Stück, um das es hier geht, ist voller antisemitischer Tropen, die sich eben nicht nur aus einzelnen Aussagen ergeben. Das sehen auch Theaterwissenschaftler so, auch die taz kam damals zu einer ganz ähnlichen Einschätzung, als sie nämlich geschrieben hat, das Stück würde sich „simpelster antijüdischen und antiisraelischen Stereotype“ bedienen.
taz: Ein anderer Vorwurf der Diaspora Alliance lautet, Rias mache nicht transparent, um welche Fälle es überhaupt geht. Warum machen Sie die Datenbank nicht öffentlich?
Poensgen: Das Vertrauen und der Schutz von Betroffenen steht im Zentrum unserer Arbeit. Und häufig lassen sich die Vorfälle auch nicht anonymisieren. Das ist eigentlich völliger Standard bei Organisationen, die eine ähnliche Arbeit in anderen Staaten machen, ebenso in wissenschaftlichen, qualitativen Studien. Wir verifizieren jeden Vorfall ganz ausführlich, bevor wir sie in unserer Datenbank aufnehmen.
taz: Der Bericht wirft Rias vor allem vor, Antisemitismus von rechts nicht angemessen zu berücksichtigen. Nazis seien „am Rand des Monitorings“, heißt es. Ist Rias auf einem Auge blind?
Poensgen: Dieser Vorwurf ist besonders bizarr. Der Bericht kann ihn eigentlich nur erheben, weil er zahlreiche Publikationen von Rias dazu schlichtweg ignoriert. Kritisiert wird ein Bericht von Rias Thüringen. Es war der erste Jahresbericht dieser Meldestelle, der zu keiner Kategorie eine genauere Analyse vornimmt, weil gleichzeitig mit diesem Bericht eine zweite Studie von Rias Thüringen veröffentlicht wurde, in der Rechtsextremismus in unterschiedlichen Bereichen in eigenen Kapiteln ausführlich behandelt wird. Im vergangenen Jahr erschien etwa eine bundesweite Studie nur zum Antisemitismus der extremen Rechten.
taz: In Thüringen verzeichnete die Polizei 2021 64 antisemitische Straftaten, 98 Prozent wurden dem Rechtsextremismus zugeordnet. In der Rias-Zusammenfassung waren nur 37 Prozent der mutmaßlichen Täter rechtsextrem, merkt der Bericht der Diaspora Alliance kritisch an. Wie erklären Sie diesen Unterschied?
Poensgen: Diese Kritik greift auch die taz in ihrem Artikel zum Bericht auf. Dabei wird eine seit Jahren laufende Debatte um die polizeilichen Kriminalstatistiken ignoriert, die einen rechtsextremen Tathintergrund als eine Art Restekategorie verwendet haben. Wenn Straftaten keinem politischen Hintergrund zugeordnet werden konnten, wurden sie jahrelang dem rechtsextremen Spektrum zugeschrieben. Das hat Rias auch ausführlich kritisiert. Deswegen hat die Polizei diese Praxis mittlerweile auch verändert. Im Gegensatz zu dieser Praxis ist die Vorgehensweise von Rias genau und präzise.
taz: Auch das rechtspopulistische Portal Nius wirft Rias vor, ein „verzerrtes Bild von Judenhass“ zu zeichnen, jedoch weil Rias den Eindruck vermittele, der Antisemitismus komme vor allem von rechts, statt von Linken und Islamisten.
Poensgen: Das ist ein guter Beleg dafür, dass in der Debatte um Antisemitismus in Deutschland er immer nur dann kritisiert wird, wenn er nicht aus den eigenen Reihen kommt. Aber Antisemitismus ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Für uns ist es wichtig, ihn in all seinen Formen umfassend darzustellen und dabei die Perspektive von denjenigen zu stärken, die von Antisemitismus unmittelbar betroffen sind – eben Jüdinnen und Juden. Und das passt nicht allen.
taz: Der Bericht der Diaspora Alliance bezieht sich auf die Zeit von 2015 bis September 2023. Er wurde nach dem Hamas-Angriff auf Israel am 7. Oktober zurückgehalten, heißt es. Jetzt erscheint er mehr als anderthalb Jahre später – kurz vor der Veröffentlichung des neuen Rias-Jahresberichts.
Poensgen: Es geht nach meiner Einschätzung gar nicht darum, fundierte Kritik an unserem Bericht oder eine konstruktive Kritik an unserer Arbeit zu leisten. Es soll einfach der Eindruck hängenbleiben, die Arbeitsweise von Rias sei umstritten, und so sollen unsere Ergebnisse insgesamt abgewertet werden.
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