Anti-Atom-Fußballspiel in Aachen: Tore gegen Tihange
Am Samstag spielen Alemannia Aachen und 1. FC Köln II gemeinsam gegen ein belgisches Atomkraftwerk – in „Stop Tihange“-Trikots.
Tihange ist der marode Meiler nebenan beim belgischen Lüttich mit seinen andauernden Störfällen, abenteuerlichen Schlampereien bei der Baudokumentation und Abertausenden Rissen in der Betonhülle, weshalb er auch „Bröckelreaktor“ heißt. Am Samstag kommt es nun zu einem der seltenen Fußballspiele in Deutschland, die unter einem politischen Motto stehen: Die Erzrivalen Alemannia und die zweite Mannschaft des 1. FC Köln spielen in der Regionalliga West gemeinsam gegen den Schrottmeiler an, beide Teams mit der Trikotaufschrift „Stop Tihange“. Die Textilsponsoren treten zurück, Eintrittskarten kosten einheitlich fünf Euro, und alle Einnahmen gehen an grenzüberschreitende Bürgerinitiativen. Das Tivoli-Stadion wird so voll sein, als sei Bayern München zu Gast.
Tihange liegt in Hauptwindrichtung 57 Kilometer von der Stadtgrenze entfernt. Aachen steht, Bürger wie Politiker, geschlossen gegen die belgischen Atomspalter. „Wir sind sehr dankbar, dass der Traditionsverein sich dieser Problematik stellt und einem gesellschaftspolitischen Auftrag nachkommt. Das ist beispiellos“, rühmt Helmut Etschenberg, CDU, der Aachener Städteregionsrat. Sogar eine Liveübertragung im Fernsehen war im Gespräch, der WDR entschied sich dann aber, doch für einen Film.
Die Idee hatte Alemannia-Aufsichtsratschef Christian Steinborn. Auf der Autobahn nach Hannover, berichtet er, unterhielt er sich mit dem Aufsichtsratskollegen Oliver Laven: Man müsste doch mal … könnte man nicht? … Fußball habe doch auch „eine soziale Verantwortung“ für die Heimat, meint der Technologiemanager … gerade Alemannia als größter Sportverein der Region. Die Vorstandskollegen waren sofort angetan. „Die einzige Strahlung, die wir uns für diesen Spieltag wünschen, sind strahlende Gesichter für ein gutes, wichtiges Projekt“, sagt Steinborn. Aufsichtsratskollege Tim Hammer wundert sich derweil, wie wenig das Thema Tihange in Belgien selbst jemanden kümmert. „Wir werden laut genug auf das Thema hinweisen.“ Nur Trainer Fuat Kılıç ist ein wenig traurig, er hätte sich „gewünscht, dass wir auch sportlich so viele Zuschauer an den Tivoli locken können“.
Kommunen klagen gegen Belgien
Aachen hat Angst. Die Stadt ist seit Monaten voller gelber Anti-Tihange-Plakate, auch türkische Imbissbesitzer machen mit. Am Verwaltungsgebäude der Städteregion prangt weithin sichtbar in jedem Fenster ein Buchstabe zum riesigen Spruch „S-t-o-p T-i-h-a-n-g-e“. Eben hat die Universität Wien ein Gutachten für den Fall einer Nuklearkatastrophe vorgelegt, das, mindestens, alle Befürchtungen bestätigt.
„Die Ergebnisse sind erschreckend“, sagt CDU-Mann Etschenberg: Bei ungünstigen Wetterbedingungen werde Aachen der gleichen Strahlenbelastung ausgesetzt sein wie Tschernobyl und Fukushima. Weite Teile der Region bis in den Köln–Düsseldorfer Raum würden langfristig unbewohnbar. Längst versuchen Stadt und Kreis Aachen auch juristisch gegen Tihange vorzugehen, zusammen mit Maastricht, Köln und einer luxemburgischen Grenzstadt, insgesamt 80 Gemeinden – plus der Fraktionsvorsitzenden aller Parteien als natürliche Personen. Erstmals in Europa klagen Kommunen gegen einen Nachbarstaat.
Ein Fußballspiel also als Mittel politischer Auseinandersetzung per Großdemo im Stadion mit angegliedertem Spiel. Eigentlich ist so etwas tabu. Schon die Spielkleidung darf, so die Fifa, keinerlei politische, religiöse oder persönliche Botschaft enthalten. Für die erste offizielle Anti-AKW-Begegnung im deutschen Fußball gab es jedoch überraschenderweise keine verbandsjuristischen Probleme. Zu klären war eigentlich nur, so Steinborn, „die Genehmigung des Fußballverbands und das Einverständnis der Trikotsponsoren. Beides verlief schnell und unbürokratisch.“ Entscheidend war die Sprachregelung: „Wir geben mit dieser Aktion kein politisches, sondern ein gesellschaftliches Statement ab“, muss Steinborn sagen. Also wie „Brot für die Welt“ oder Aufrufe zur Rettung des Feldhamsters. Ansonsten? „Wäre das nicht genehmigt worden.“
Unterstützung aus der Politik
Der Verband Mittelrhein bestätigt, man habe nur die Trikotaufschriften abnicken müssen. „Da gibt es in den Statuten ethische und moralische Grenzen“, so der stellvertretende Geschäftsführer Laurenz Neumann. Auch er vermeidet das Reizwort Politik und spricht „lieber von einem gesellschaftlichem Thema“. Bedenken? „Nein, gab es nicht.“ Anders, sagt er, sei das einmal bei Werbung für die Hell’s Angels gewesen und als ein Klub die nazistische „88“ unerlaubt auf die Trikots flocken ließ. Neumann verweist indes auf sanften Druck der Politik. Oberbürgermeister Marcel Philipp (CDU) aus Aachen und seine parteilose Kollegin Henriette Reker in Köln hätten sich „sehr stark gemacht“ für das Spektakel.
Meinungsbekundungen gelten gemeinhin als Missbrauch des Fußballs. Seit Jahren, gerade wieder neu entflammt, gibt es Streit um katalonische Fahnen und Forderungen nach Autonomie im Camp Nou in Barcelona. Selbst Jesus-Statements auf Spielerbrüsten, lange en vogue, sind verboten. Als Bundesligaspieler wie Haris Seferović oder Tony Ujah antirassistische Botschaften auf ihre Unterhemden malten, grätschte der DFB dazwischen: „Diese Dinge“ müssten umgehend aufhören, so der Verband, und drohte Sanktionen an. Oberkörper sind für Werbung legaler Drogen (Alkohol) oder der Wettmafia reserviert. Und der Kampf gegen Rassismus ist exklusiv Verbandssache.
Gerade erst hat die Fifa fünfstellige Geldbußen verteilt an ein Dutzend Länder wegen Politpropaganda und Fremdenfeindlichkeit im Stadion. Im Iran, klagt der Weltverband, sei es sogar zu „mehreren religiösen Manifestationen während eines Spiels“ gekommen: 45.000 Franken. Sogar bei Pfiffen von den Rängen hat die Fifa schon ermittelt – mit dem Verdacht, es handele sich womöglich um eine politische Willensbekundung.
Abschied von Amerika. Unsere Autorin hat die Präsidentschaft Obamas als Korrespondentin begleitet. Jetzt war sie dabei, als sein Nachfolger gewählt wurde. Was sich im Land verändert hat und wie es nun weitergeht, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 12./13. November 2016. Außerdem: Der ARD-„Tatort“ erlebt seine 1.000 Aufführung. Warum ist er so erfolgreich? Und: Wenn der Feminismus „cool“ wird. Unterwegs mit drei Expertinnen. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
In dieser Woche tobte im Großbritannien ein Streit, ob die Spieler von England und Schottland beim WM-Qualifikationsmatch die traditionellen Mohnblüten-Silhouetten auf ihren Ärmeln tragen dürfen, zum Gedenken an die Opfer des 1. Weltkriegs wie immer am 11. 11. Selbst das ist der Fifa zu heikel, zu politisch. Drohung mit Punktabzug, notfalls für beide Kontrahenten. „Absolut empörend“ kommentierte Premierministerin Theresa May. Die Teams wollten standhaft bleiben.
Benefizspiele, Gedenkspiele – alles hundertfach dagewesen, aber eine einvernehmliche Begegnung wider die Atomenergie, das ist neu und sorgt als „tolles Zeichen“ nebenan schon für Neid. „Warum kann Luxemburg das nicht?“, schreibt Lëtzebuerg online über die dortige erste Liga: „Mit Weiswampach, Wiltz, Ettelbrück und Bissen liegen direkt vier Ehrenpromotionler in unmittelbarer Nähe des maroden Atomkraftwerks.“ Im Großraum Aachen haben Schulen, Firmen und Vereine große Mengen an Tickets für das besondere Spiel geordert – so sorgt Fußball für energiepolitische Weiterbildung.
Statt der zuletzt nur noch 5.000 Zuschauer erwartet Aachen an die 25.000. Vor dem Match wird es leidenschaftliche Ansprachen geben aus Politik, Klubführung und der grenzüberschreitenden Bürgerinitiative. Als Zugabe gibt es dann ein wenig Fußball zweier biederer Mittelfeldmannschaften. Nach Abzug der Kosten dürfen sich Anti-Tihange-Aktivisten auf einen erklecklichen fünfstelligen Betrag freuen.
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