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Anklage wegen Beihilfe zum MordEhemalige KZ-Sekretärin vor Gericht

Der Prozess gegen die 96-Jährige Irmgard F. kann stattfinden. Die ehemalige Sekretärin im KZ Stutthof wurde für verhandlungsfähig befunden.

Erinnerung an das systematische Töten: Der Eingang des Stutthof Museums in Sztutowo im Jahr 2015 Foto: dpa / Piotr Wittman

Hamburg taz | Das hohe Alter schützt Irmgard F. nicht vor der strafrechtlichen Verfolgung. Die ehemalige Stenotypistin und Sekretärin des Lagerkommandanten Paul Werner Hoppe im Konzentrationslager Stutthof muss sich vor dem Landgericht Itzehoe wegen Beihilfe in 11.387 Fällen zum Mord verantworten. Die letzte Voraussetzung dafür ist nun erfüllt: Ein medizinisches Gutachten attestierte der 96-Jährigen Verhandlungsfähigkeit. Am 30. September soll die Hauptverhandlung vor der 3. Großen Jugendkammer beginnen, da die Beschuldigte zur Tatzeit mit 18 oder 19 Jahren noch als Heranwachsende eingestuft wird.

Das Verfahren dürfte mehr als 76 Jahre nach den Morden in dem KZ nahe Danzig auch wegen der hochbetagten Zeu­g:in­nen schwierig werden. Denn die letzten überlebenden Zeug:in­nen aus den USA und Israel können kaum noch vor Ort im Gerichtssaal aussagen, wenige dürften überhaupt anreisen können. Der Weg der Angeklagten ist kürzer. Sie soll – nach Planung – von ihrer Seniorenresidenz im Kreis Pinneberg zu jedem Verhandlungstag kommen.

Der Zivilangestellten in dem KZ Stutthof wird in der Anklage, so Gerichtssprecherin Friederike Milhoffer, vorgehalten, „in ihrer Funktion als Stenotypistin und Schreibkraft in der Lagerkommandantur des ehemaligen Konzentrationslagers Stutthof zwischen Juni 1943 und April 1945 den Verantwortlichen des Lagers bei der systematischen Tötung von dort Inhaftierten Hilfe geleistet zu haben“.

Die Angeklagte war bereits mehrfach als Zeugin befragt worden. Bereits 1954 sagte sie, dass der gesamte Schriftverkehr mit dem SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamt über ihren Schreibtisch gelaufen sei. Hoppe, den sie als „pflichtbewusst“ bezeichnete, hätte ihr täglich Schreiben diktiert und auch Funksprüche verfügt. Von der Tötungsmaschinerie in unmittelbarer Nähe ihres Arbeitsplatzes will sie dennoch nichts gewusst haben.

Tägliche Kontakte zur Lagerleitung

Das ist schon wegen ihrer täglichen Kontakte zur Lagerleitung und Einblicke in die Abläufe kaum vorstellbar. Wie der Kenntnisstand der Internierten aussah, ist dank eines älteren Prozesses aktenkundig: Vor dem Landgericht Hamburg schilderte der Überlebende Marek Dunin-Wasowicz, dass die Inhaftierten im KZ Stutthof wussten, sie seien im dem KZ, um zu sterben. „Der Weg zur Freiheit führt durch den Schornstein“, sagte er 2019 im Verfahren gegen dem SS-Wachmann Bruno D. Von den etwa 110.000 Menschen im Lager starben rund 65.000. Sie wurden vergast, erschossen oder durch vorsätzlich katastrophale Lebensbedingungen getötet.

Dass das Lager als ein Vernichtungslager eingestuft wird, ist auch ein Grund, warum das Gericht den 94-jährigen Wachmann 2020 wegen der Beihilfe zum Mord in 5.232 Fällen und wegen Beihilfe zu einem versuchten Mord schuldig sprach.

Dieser Verurteilung war eine Änderung der Rechtspraxis vorausgegangen. Bis 2011 musste ein direkter Tatnachweis der Verdächtigen bei konkreten Verbrechen im Nationalsozialismus erbracht werden. Im Verfahren gegen den Wachmann John Demjanjuk wertete das Landgericht München II erstmals allein den Dienst in einem Vernichtungslager als Beihilfe zum Mord.

Die zuvor gültige Rechts­praxis schützte viele Tä­te­r:in­nen aus der Wehrmacht- und SS-Einheiten vor einer Strafverfolgung. Die deutsche Justiz trägt somit selbst große Verantwortung für die spät erfolgenden Anklagen.

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1 Kommentar

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  • Was'n eigendlich mit denen die geholfen haben die Opfer zu deportieren - sie in die Züge luden, die Züge auf die Reise schickten, die Loks fuhren ?