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Angst vor RechtsradikalenRückkehr der Glatzen

Nicht erst seit Chemnitz sind Neonazis wieder sichtbarer und gewalttätiger. Das fällt selbst in Berlin auf – und erinnert an meine Kindheit.

Waren sie jemals weg? Foto: ap

Berlin taz | Etwa 1996, Erfurt: Wir sind in ein Neubaugebiet gezogen. Ein Ensemble beiger Hässlichkeit und türkiser Balkons. Wir Kinder finden es super. Es gibt einen Spielplatz, Bänke, Rasen, im Sommer spielen wir alle im gemeinsamen Hof. Bis auf diesen einen Abend: Auf einer Bank in der Mitte des Hofs sitzen drei Neonazis. Kurze Haare, grüne Bomberjacken. Sie grölen, zeigen den Hitlergruß.

Niemand sonst ist auf der Straße, im Hof oder auf einem Balkon. Ich bin zu Besuch bei meiner Freundin, gegenüber unserer Wohnung. Um nach Hause zu kommen, muss ich an den Nazis vorbei. Ich traue mich nicht, deswegen begleitet mich der Vater der Freundin. Wir laufen schweigend an den Nazis vorbei. Ich starre auf den Boden, laufe schnell. Einer von ihnen hat einen Gürtel in der Hand, lässt ihn durch die Luft schwingen wie ein Peitsche, schlägt mit ihm in unsere Richtung. Dann steht er auf, kommt uns hinterher. Wir klingeln an unserer Haustür. Es dauert etwas, bis meine Eltern aufmachen. Der Nazi steht hinter uns, atmet uns in den Nacken. Keiner sagt etwas. Endlich geht die Tür auf. Ich schlüpfe durch, fange an zu weinen. Oben macht mein Vater Fotos, versteckt, durch die Pflanzen auf der Fensterbank hindurch. Auf einem schaut einer der Nazis direkt in die Kamera, er macht einen Hitlergruß.

11. September 2018, Halle: 450 Menschen ziehen zu einer sogenannten Montagsdemo durch die Straßen. Mehrere zeigen den Hitlergruß, rufen „Sieg Heil“, bespucken Polizisten.

11. September 2018, Berlin: Bei einem Konzert der Schlagersängerin Helene Fischer werden zwei Männer aus der Mercedes-Benz-Arena geworfen. Einer der beiden zeigt anschließend den Hitlergruß.

11. September 2018, München-Schwabing: Bei einer Versammlung unter dem Motto „Keine Abschiebung nach Afghanistan“ zeigt ein am Rand stehender Besucher seinen Begleitern den Hitlergruß.

12. September 2018, Nordrhein-Westfalen: Der Staatsschutz übernimmt die Ermittlungen, nachdem auf einem bei Facebook veröffentlichtem Foto der Fußballmannschaft SC 1920 Myhl sieben Spieler den Hitlergruß zeigen.

Etwa 1994, Erfurt: Wir sitzen in der Straßenbahn, mein Bruder und meine Mutter auf einem Zweiersitz nebeneinander, ich dahinter. Ich bin etwa 8 Jahre alt. Am Fußballstadion steigt eine Gruppe Neonazis ein, kahlrasiert, Bomberjacke, in der Luft liegt Alkohol. Einer trägt eine große Trommel vor dem Bauch. Die Bahn fährt los, die Nazis fangen an zu grölen und zu trommeln. Es ist sehr laut. Was sie grölen, weiß ich nicht mehr, es ist bedrohlich. Kein anderer Mitfahrer spricht, alle schauen aus dem Fenster. An der nächsten Haltestelle steigen wir aus.

8. September 2018, Torgau bei Leipzig: Zehn kräftig gebaute, dunkel gekleidete junge Männer wühlen sich aggressiv durch eine volle S-Bahn, beschimpfen Mitreisende als „Zecken“, demolieren Sitze und verletzen Unbeteiligte. Augenzeugen berichten, man habe gemerkt, dass es für diese Leute „keine Hemmschwelle“ mehr gibt. Die Polizei wird gerufen, kommt aber erst nach 75 Minuten.

Etwa 1996–1998, Erfurt: Einmal in der Woche gehe ich nachmittags zur Musikschule. Vor der Schule stehen Bänke, auf denen sitzen Neonazis. Mal zwei, mal vier, mal sieben, jede Woche. Sie sitzen auf Bänken, trinken Bier, pöbeln, laufen Leuten hinterher. Manchmal haben sie ein Radio dabei, aus den Boxen scheppert grölender Nazirock. Ich bin zehn, elf, zwölf Jahre alt, Musikunterricht ist am Mittwoch. Jede Woche, spätestens ab Dienstagabend, denke ich: „Hoffentlich sind sie morgen nicht da.“

29. August 2018, Wismar: Drei Männer schlagen einen 20-jährigen Syrer mit einer Eisenkette zusammen und verletzen ihn schwer.

31. August 2018, Sondershausen (Thüringen): Vier Männer aus „dem rechten Spektrum“, wie die Polizei es nennt, greifen einen 33-jährigen Eritreer an und verletzen ihn schwer.

1. September 2018, bei Leipzig: Zwei Vermummte randalieren mit einem Baseballschläger und einem Billardqueue vor dem Haus in dem ein 31-jähriger Asylbewerber mit seiner Frau und den fünf Kindern lebt. Sie schlagen heftig gegen die Haustür, beschädigen sein Auto und rufen „Ausländer raus“. Es ist die zweite Attacke auf den Mann. Im Juli hatte ihm eine Gruppe Zwanzigjähriger beide Hände gebrochen.

6. September 2018, Sebnitz (Sachsen): Ein Mann greift einen 20-jährigen Syrer mit einer Eisenkette an und verletzt ihn am Kopf.

9. September 2018, Wiesloch bei Heidelberg: Sieben betrunkene Männer stürmen „Heil Hitler“ und „Scheiß Ausländer“ rufend auf eine Eisdiele zu und beginnen eine Massenschlägerei. Mehrere Menschen, auch unbeteiligte Frauen und Kinder, werden verletzt.

16. September 2018, Harz: Innerhalb weniger Stunden werden im Harz mehrere Geflüchtete angegriffen. Erst gehen in Hasselfelde zwei Männer auf einen 17-jährigen Afghanen los, schlagen und beleidigten ihn. Die Angreifer sollen Deutsche gewesen sein. Kurz darauf werden in Halberstadt drei Männer aus Somalia auf ihrem Heimweg von fünf Deutschen volksverhetzend beleidigt und geschlagen. Die drei Asylbewerber werden verletzt.

September 2018, Berlin: An einem Samstagabend fahre ich mit dem Rad durch Kreuzberg. Spätsommer, es ist warm, die Straßen sind voll. Am Görlitzer Park kommt mir eine Gruppe entgegen: drei männliche Neonazis, Bomberjacke, Springerstiefel, Thor-Steinar-T-Shirts, Glatzen, zwei Frauen mit kurz rasiertem Schädel und langem Pony. Sie sehen genau aus wie früher, in den 90ern. Wie die, die an jeder Ecke in Erfurt standen.

Seit Jahren habe ich dieses Outfit nicht mehr in der Öffentlichkeit gesehen, jetzt ist es wieder da. Spaziert in Gruppenstärke durch Kreuzberg. Wie eine Provokation. Eine Warnung. Kurz bleibt mir die Luft weg, mein Herz rast. Da ist es wieder, dieses Gefühl aus meiner Kindheit. Auf den Boden gucken, Straßenseite wechseln, ausweichen. Ja nicht provozieren.

Ein paar Stunden später, es ist schon dunkel, laufe ich durch Berlin-Mitte. An der Ampel vor mir erkenne ich zwei Männer: Glatze, Bomberjacke, Springerstiefel, Camouflagehosen.

September 2018: Das Bundesinnenministerium meldet, dass im ersten Halbjahr 2018 704 Angriffe auf Geflüchtete verübt wurden, 120 Menschen seien dabei verletzt worden. Opferberatungsstellen halten diese Zahlen noch für untertrieben. Bundesweit beobachten Opferverbände, dass rechte Übergriffe seit den Aufmärschen in Chemnitz gestiegen sind und brutaler werden. Allein in Chemnitz hat die Opferberatung RAA Sachsen seit dem 26. August 40 Fälle von Körperverletzung und Nötigung durch Rechte registriert. Im ganzen vergangenen Jahr waren es 20.

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26 Kommentare

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  • die wölfe sind zurück -rainer opolka-.



    alte revieransprüche werden wieder offen angemeldet.



    wir sollten gewappnet sein und uns dem offen entgegenstellen und für sie den zwinger vorhalten.

  • "8. September 2018, Torgau bei Leipzig: Zehn kräftig gebaute, dunkel gekleidete junge Männer wühlen sich aggressiv durch eine volle S-Bahn, beschimpfen Mitreisende als „Zecken“, demolieren Sitze und verletzen Unbeteiligte. Augenzeugen berichten, man habe gemerkt, dass es für diese Leute „keine Hemmschwelle“ mehr gibt. Die Polizei wird gerufen, kommt aber erst nach 75 Minuten."

    "Die Polizei wird gerufen, kommt aber erst nach 75 Minuten."



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    "Die Polizei wird gerufen, kommt aber erst nach 75 Minuten."



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    "Die Polizei wird gerufen, kommt aber erst nach 75 Minuten."



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    und so weiter…



    --------



    Wir haben doch kein "rechtes Problem" – aber nicht doch…



    Und gefährlich ist das alles auch nicht – iwo…

    Kann das wirklich mit "erlernter Hilfslosigkeit" erklärt werden? Für mich klingt das ein bißchen wie eine Ausrede… besonders als Ausrede für die m. E. hier versagende Staatsmacht.

    Ich kann das Ohnmachtsgefühl verstehen, das da zum Ausdruck kommt|erlebt wird, aber "nur" wegsehen|auf den Boden schauen und das nicht anzeigen, melden, die Polizei rufen (trotz der eventuell "üblichen" Verspätung derselben) ist m. E. eine Kapitulation vor dem rechten Mob.



    Was sollen wir denn tun, außer sagen, was ist?



    Andere (auch Nazis) verprügeln oder sich selbst verprügeln lassen, fällt schließlich aus.

    Die Polizei schaut weg, die Politiker schauen weg, der Verfassungsschutz schützt sich selbst.

    ◊ ◊ ◊ ◊ ◊ ◊ ◊ ◊ ◊ ◊



    Das ist ein unaushaltbarer Skandal!



    ◊ ◊ ◊ ◊ ◊ ◊ ◊ ◊ ◊ ◊

    (Sollte das echt eine Klamotten- und Frisurendiskudssion sein?)

  • Mir völlig unverständlich warum hier Äußerlichkeiten erwähnt werden.



    Ist doch genau das gleiche wie: "Es waren südländischaussehende Männer" oder der gleichen. Macht man eigentlich nur wenn ein Typ Mensch gebranntmarkt werden soll oder?



    Ich, ein Skinhead, wollte mal auf eine antifaschistische Veranstaltung, die die Intention hatte expleziet Lehrer und andere Pädagogen für rechtsextremistische Thematiken zu bilden und zu sensibilisieren.



    Eine große Gruppe von Faschisten wollte diese Veranstaltung verhindern, also stellten wir uns ihnen entgegen und vertrieben sie, wofür wir eine gute Stunde benötigten.



    Als ich danach noch selbst die Veranstaltung besuchte, bekam ich noch die letzte viertel Stunde mit. Dort wurde von den Treffen extrem nationalistischer Familien berichtet, die ihre Kinder von klein auf auf Linie bringen.



    Als spektakulärer Schlußsatz, um den Ernst der Lage zu verdeutlichen vermittelte man: "Ja da waren auch Skinheads darunter!"

    Kann mir mal einer verraten warum die Leute, die diese Veranstaltung mit ermöglicht haben derart diffamiert?

  • Mich stört, dass die TAZ mal wieder das Klischee vom Glatzköpfigen Nazi ausgräbt. Der Blödsinn war schon in den 90ern falsch. Eine repräsentative Studie über die gesamte deutsche Skinheadszene (auch wenn ich persönlich zumindest den braunen Teil nicht als Skinheads akzeptieren würde) ergab einen PDS Wähleranteil von etwa 25%. Die Skinheadszene der damaligen Zeit war mehrheitlich antirassistisch oder zumindest total apolitisch. Dass die braunen Spinner in ihrem ohnehin oft eher militaristischem Outfit (nach Skinheads sahen davon doch eh die wenigsten aus) natürlich in der Öffentlichkeit als Synoym für Rechtsextremismus herhalten musste ist aber klar. So könnte man ein gesellschaftliches Problem auf eine klar erkennbare Minderheit abwälzen. Nazis, Rassisten? Das sind die mit der Glatze. So kann man sich die Welt auch einfach machen. Und anstatt hier wieder Vorurteile zu schüren, sollte man Objektiv berichten. Zumal die Glatzköpfe bei Pegida usw auch vom Style her eher der Hooliganszene zuzuordnen sind.

    • @S.H.A.R.P.:

      Naja, Anne Fromm hat wohl das Wort "Skinhead" mit Absicht vermieden ;) .



      "Die Skinheadszene der damaligen Zeit war mehrheitlich antirassistisch oder zumindest total apolitisch."



      Mehrheitlich apolitisch meinetwegen, aber mehrheitlich antirassistisch auch nach damaligen Kriterien eher nicht.

    • 8G
      88181 (Profil gelöscht)
      @S.H.A.R.P.:

      Ich habe auch immer gemeckert, wenn die taz Berichte über Nazis mit Skinheads die Dr. Martens mit weißen Schnürsenkeln trugen, bebilderte.

      Bei denen gab es ja auch einen Modernisierungsschub und viele von den Jungen könnten auch aus dem Schwarzen Block kommen.

      Und die von der IB könnte man von der Ästhetik her auch bei der Jungen Union verorten. Oder irgendwo.

      Der Mob der da in Chemnitz hitlergrußmäßig unterwegs war, das waren eben Wichser ohne Haare. Aber keine Skinheads.

      Ich finde man kann die guten Skinheads, also Sharp und Redskins ganz gut am Habitus von den Nazis unterscheiden.

      Sie sind nicht aggressiv oder bedrohlich und tragen oft schicke Fred-Perry-Sachen.

      • @88181 (Profil gelöscht):

        Ich kenne Nazis, die in grölenden Gruppen aggressiv auftreten und auch die vielen Bilder von Naziaufmärschen als optisch oft grobschlächtige, tumbe Parolen brüllende Glatzköpfe. Wenn ich das als chic empfinde und ebenfalls so rumlaufen will, ist das mein Problem und nicht das Problem einer äußerlichen Beschreibung von Nazi-Schwachköpfen.

        • @Rolf B.:

          Falsch, man sollte Nazis nicht die vermeintliche Deutungshoheit über Subkulturen überlassen. Erstrecht nicht, wenn diese Subkultur durch ihre Wurzeln an sich schon mal nicht Neonazistisch sein kann. Anstatt diesen Blödsinn noch zu Unterstützen, sollten linke Medien besser Aufklären und den Szenen helfen die Braunen aus ihren Reihenzu entfernen. Ähnliche Versuche wie in der Skinheadszene hat man ja auch im Hardcore und Metal Bereich, aber auch im Punk (Hatepunk als offen neonazistisches Subgenre) und teilweise sogar im Hip Hop.

          Wobei aber nur ein Bruchteil der extremen Rechten tatsächlich eine Glatze haben dürfte. Glatzköpfe wirken aber auf Pressefotos natürlich Aggressiver/Bedrohlicher, weshalb man bei Nazidemos die paar Kahlen fotografiert und nicht die eher normal gekleidete Mehrheit.

          • @S.H.A.R.P.:

            "Falsch, man sollte Nazis nicht die vermeintliche Deutungshoheit über Subkulturen überlassen."

            Ich stimme mehr als zu, dass man Nazis überhaupt keine Deutungshoheit überlassen soll. Die Wahrnehmung von Menschen ist natürlich extrem subjektiv. Wenn ich einen glatzköpfigen Stiernacken sehen mit tumben Gesichtsausdruck, dann denke ich automatisch, dass das ein Nazi ist. So ergeht es mir auch, wenn ich Menschen sehe, die genau so frisiert sind wie der Reichsführer der SS Heinrich Himmler. Da frage ich mich: Warum wollen die Ar......... so aussehen wie Himmler? Das sind nun mal Symbole. Meine Lösung wäre, eben nicht so aussehen zu wollen wie ein SS-Führer. Und wenn Nazis sich Glatzen rasieren lassen, dann würde ich das nicht als Kampf um Deutungshoheit interpretieren.

  • Anne Fromm ist vermutlich zu jung, um sich noch an die Zeit direkt nach der „Wende“ zu erinnern. Ich bin schon alt genug dafür.

    Psychologen kennen das Phänomen der erlernten Hilflosigkeit. Es ist mit der Depression verwandt und beschreibt die Erwartung von Individuen, bestimmte Situationen oder Sachverhalte nicht kontrollieren oder beeinflussen zu können. Diese Erwartung hat zur Folge, dass die als unbefriedigend empfundenen Zustände nicht abgestellt werden, obwohl sie – von außen betrachtet – abgestellt werden könnten.

    Diese Passivität ist auf frühere Erfahrungen der Hilf- und Machtlosigkeit zurückzuführen. Das Individuum hat einen sogenannten „Kontrollverlust“ erfahren, der sich „in motivationalen, kognitiven und emotionalen Defiziten manifestier[t]“. (Seligman, 1975). Die Ergebnisse tierexperimenteller Untersuchungen wurden am Menschen bestätigt. (Wikipedia)

    Herbst 1989: Eine Welle der Euphorie schwappt durch das Gebiet der noch real existierenden DDR. Alles scheint möglich.

    November 1998: Kohl hat das Zwei-Staaten-Konzept Lafontains geschreddert und sein eigenes „10-Punkte-Programm für die Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas“ durchgeboxt. Als Umtauschkurs hat er 1:1 festgelegt. Von Konsequenzen hat er nichts gesagt. Die Marktneulinge im Osten haben auch nicht gefragt.

    März 1990: Bei der letzten Volkskammerwahl haben 93,4% aller Wahlberechtigten die AfD – die damals noch Allianz für Deutschland heißt – mit 48% zur stärksten „Fraktion“ gemacht. Die eilig gebildete Groko scheitert wenig später.

    Oktober 1990: Die DDR ist der BRD „beigetreten“. Im Dezember 1990 wird schon wieder gewählt. Die Union kann anschließend (beinah) allein regieren. Die Landschaften blühen trotzdem nicht. Es wird zwar viel gebaut (und es gibt deswegen viel Neid i Westen), der Wohlstand allerdings lässt auf sich warten. Erst mal wird zügig abgewickelt. Und gegen die Nazis, die aus ihren Löchern kriechen, geht auch kein Staat irgendwie vor...

    • 9G
      99663 (Profil gelöscht)
      @mowgli:

      danke für den hinweis auf das phänomen der erlernten hilflosigkeit. es liegt nahe, dass sich dieses in gewisser weise auch auf großgruppen übertragen lässt. so würde sich z. b. auch die politische teilnahmslosigkeit weiter teile der wahlbevölkerung in ost und west erklären lassen.

  • 9G
    970 (Profil gelöscht)

    Meine Erfahrung auf der schwäbischen Alb:



    - Lonsdale trugen nur diejenigen, die auch wollten, dass hinter N, S, D und A bald wieder ein P stünde.



    - Böhse Onkelz hörten nur diejenigen, die auch Lonsdale trugen.



    - Auf Partys war eine CD der "Zillertaler Türkenjäger" der Hit auch bei einigen "Normalos", die das irgendwie "lustig" fanden. Daran zerbrachen einige Bekanntschaften und mit einigen Klassenkameraden habe ich nach diesen Erfahrungen nie mehr gesprochen.



    - Die Väter der Neonazis waren im Dorf etabliert. In der Feuerwehr, etc. pp. Sie hatten dieselbe Einstellung, konnten diese aber besser verstecken.



    - Im Nachbardorf erreichte die NPD erstaunliche Wahlergebnisse.

    Sie waren noch nie weg, sie sind nur wieder deutlich aggressiver geworden und trauen sich wieder mehr zu, da sie einen Fuß im Parlament haben. Sie träumen von der "Machtergreifung 2.0".

    • @970 (Profil gelöscht):

      Der alte LONSDALE-Schmarrn, really, immer noch? Ich war in den 80ern und 90ern in, wie es hier immer so schön heißt, „Punk und Skinhead-Strukturen“. Die Boneheads mit ihren Tarnhöschen und ihren schwarzen Motiv-T-Shirts, die null Bezug zum Skinhead-Kult hatten (und haben. Ska halten die für ne Eintersportart) haben wir anfangs nur verlacht, dann verprügelt- dann wurden es immer mehr, und SHARP hin oder her, in Zusammenarbeit mit den Medien haben die Naziglatzen es geschafft, dass die Gleichung Skinhead=Nazimonster fester Bestandteil der Alltagsalgebra wurde. Schade. Aber mein grüngelbes Lonsdale-Shirt lass ich mir nicht nehmen, gibts auch in Oma-Übergrößen! Nur die Harrington passt nicht mehr, verdammt.

      • 9G
        970 (Profil gelöscht)
        @Heide Gehr:

        Ich weiß, dass Lonsdale als Marke nichts dafür kann und sich sogar dagegen gewehrt hat. Ich weiß das, die Glatzen in meiner Heimat wussten das nicht.

        • @970 (Profil gelöscht):

          Fair enuff. Aber keine Glatze und kein Skin haben JE Lonsdale wegen diesen doofem Buchstabenspiel getragen. Das ist wie die Buchstaben von Marlboro zählen, das mit der PLZ von Oklahoma malnehmen und dann 1933 abziehen, und dann kommt 88 raus und so.



          Wenn die Nazi-Assis das getragen haben, weil sie auch mal aussehen wollten wie die richtigen Skinheads.



          @Hugo Ja, da sollte man sich nix vormachen. "Nazi" und Rassismus kam damals unter Old School Crews gar nicht gut an, man/frau fand ja Laurel Aitken und Selecter gut... –aber grad links waren wir jetzt auch net. In Sachen Hippies und "Grüne" und so waren sich Punx und Skins recht einig... seltsame Zeit, die 80er.

          • 9G
            970 (Profil gelöscht)
            @Heide Gehr:

            @Heide Gehr Na, da wissen Sie aber etwas, das ich ganz anders sehe. Die Glatzen in meiner Heimat haben es wegen der Buchstaben getragen, weil sie oft genug gehört haben, dass Glatzen es wegen der Buchstaben tragen. Das reicht aus, um unter Dorfnazis einen Trend zu erzeugen.

    • 9G
      91690 (Profil gelöscht)
      @970 (Profil gelöscht):

      2005 Jahr sponserte Lonsdale den Christopher Street Day und engagierte sich für die Kampagne „Laut gegen Nazis“. Zudem stoppte der britische Kleidungshersteller die Lieferung an Läden der rechten Szene... Nazis tragen auch Boss wegen SS ?????

  • 9G
    91690 (Profil gelöscht)

    Und immer noch diskutieren die Linken über Semantik und ob man denn die Glatzen ganz links ,oder mittellinks oder bischen links umerziehen sollte oder doch inorieren ??? Müsste, hätte oder könnte..... Realität ist, dass keiner der in den Foren der taz heftigst diskutierenden Kommunarden bereit ist zugustens eines Paktes ALLER Demokraten auf sein schönes linkes Weltbild auch nur 5 Minuten zu verzichten...... Hui wie schlimm !!! mit Frau Merkel und Helene Fischer gegen rechts.. na das geht aber nicht Fraumerkel ist doch eigentlich schuld usw usw .. Die Ereignisse von 1928 spielen sich genauso hier in 2018 wieder ab .. und man wird sich auch dann als Linke damit begnügen zu diskutieren ob Frau Merkel an einem neuen Hitler schuld ist oder doch Otto Schilly und Frau Wagenknecht .. Es ist hohe Zeit was zu tun .. über all gehen die leute GEMEINSAM auf die Strasse und da ist es egal welche Demokraten das sind...

    • @91690 (Profil gelöscht):

      in welcher welt leben sie denn? wer nicht auf der strasse ist, ist eben otto normalverbraucher. nachher haelt ihn noch jemand fuer links, das ist ja noch schlimmer als rechts, autos anzuenden und so...

      • 9G
        91690 (Profil gelöscht)
        @rughetta:

        ich seh da keinen .... da stehen die ebenselben Leute wie in Wackersdorf Startbahn West usw usw in ihren alten Parkas als sechzigjährige auf der Demo gegen rechts ... die diskutieren nicht in der taz ob das Schlimm ist dass der neben Ihnen ein anderes Parteibuch hat .... und ich muss auch nicht unbedingt ein Auto anzünden um mich unbedingt als links zu outen :-) nur damit ich die " normale omi" die neben mir steht erschrecke weil die ja " normal " ist

        • @91690 (Profil gelöscht):

          Der über Jahrzehnte in Deutschland (und letztlich über Jahrhunderte in der Welt) gewachsene Kapitalismus hat den Nährboden für egozentrische Weltbilder bereitet. Unser Lebensstil erfordert Ausgrenzung, Diskriminierung und Ignoranz. Uns geht's ja gut hier, alles andere ist weit weg, können wir doch nix für.

          Und wenn dann auf einem Spruchband der SPD "Gegen Hass und Hetze!" steht, soll ich mich danebenstellen und so tun, als würde ihre Ideologie ohne Kapitalismus und dem dadurch geförderten Rassismus funktionieren?

  • Die beschriebenen Erlebnisse der Autorin während ihrer Kindheit kann ich nur bestätigen. Obwohl in den alten Bundesländern aufgewachsen, habe ich als Kind (wie die Autorin auch 1986er Jg) anlässlich von Klassenfahrten oder Familienurlauben in die neuen Bundesländer einige Male sehr unangenehme Begegnungen mit Neonazis erleben müssen. Auch ich bin mir bewusst, dass in vielen Regionen der alten Bundesländer genauso rechtsradikale Szenen existieren, aber das in aller Öffentlichkeit umgehemmte zur Schau stellen der rechtsextremen Einstellung, wohl gepaart mit der Gewissheit, weder seitens der Zivilgesellschaft noch seitens der Polizei irgend eine Form von Gegenwehr bzw. strafrechtliche Sanktionen befürchten zu müssen, ist mir besonders häufig in Ostdeutschland aufgefallen.

    • @J_cpl :

      Da hätten Sie mal in Schwaben oder Bayern aufwachsen sollen.

  • Danke für diesen ergreifenden Artikel.



    Mindestens ebenso alarmierend wie die Präsenz der sichtbare "Glatzen" sind die sich ausbreitenden rechten Strukturen in unserer Gesellschaft, die wie wir lernen durften bis in die höchsten Ebenen des Verfassungsschutz reichen. Internationale Politiker (Orban, Strache wie sie alle heißen) sowie think thanks (Banon und Konsorten) für gute Strategien und Vernetzungen.



    Die Glatzen sind wohl ein Indikator für das rechte Selbstbewustsein, das sich aus der Sprachlosigkeit und oft verständlichen Angst vor Gewalt der anders denkenden Mehrheit nährt.

  • Lapsuslinguae: Glatzen im Innenministerium

    Zitat: „September 2018: Das Bundesinnenministerium meldet, dass im ersten Halbjahr 2018 704 Angriffe auf Geflüchtete verübt wurden, 120 Menschen seien dabei verletzt worden. Opferberatungsstellen halten diese Zahlen noch für untertrieben.“

    Es gab mithin in diesem Zeitraum über 700 Hetzjagden. Und da veranstalten die Spitzen der Republik eine nicht enden wollende Deutschlehrer-Konferenz über die Frage, ob die eine von den 700 damit sprachlich politisch korrekt bezeichnet wurde. Die Beförderung Maaßens dürfte diesen bizarren semantischen Streit nicht beendet haben. Ein Kollateralnutzen dieser Personalie dürfte allerdings darin bestehen, die politischen Kampflinien etwas deutlicher zu nachzuzeichnen. Mit Maaßen haben die Deutsch-Nationalisten nunmehr ihren wichtigsten V-Mann direkt in der Regierung. Die AfD-Fraktionsvorsitzende Alice Weidel meinte, mit Maaßen würde der nächste „kritische Kopf rasiert“. Mit diesem Lapsuslinguaehat sie die Causa bis zur Kenntlichkeit entstellt: Jetzt haben die Glatzen schon das Innenministerium erobert...

    • @Reinhardt Gutsche:

      Sehr richtig. Und ich gehe inzwischen davon aus, dass die Union damit bewusst von einer Diskussion ablenkt, was gegen die rechten Umtriebe innerhalb und außerhalb der AfD zu tun sei. Die fühlen sich dieser Denkweise zu sehr verbunden - und da nicht nur in Sachsen oder Bayern.