Angriffskrieg in der Ukraine: Die Zerstörung in Familien
Der Krieg findet in der Ukraine statt. Aber für viele postsowjetische Migrant:innen wie mich liegt der persönliche Kampf in der eigenen Familie.
![Frauen sitzen an einem Tisch und unterhalten sich Frauen sitzen an einem Tisch und unterhalten sich](https://taz.de/picture/5483545/14/29873284-1.jpeg)
Wie geht es eigentlich deiner Mutter?“ Diese Frage traf mich unvorbereitet. Ich fühlte mich erwischt, wusste nicht, was ich antworten sollte. Ich sagte: Gut, denke ich. Und schob hinterher: ich weiß nicht. Die ehrliche Antwort wäre gewesen, ich kann es nicht wissen, weil ich mich seit Ausbruch des erweiterten Krieges in der Ukraine davor scheue anzurufen. Aus Angst vor unserem Gespräch, einem falschen oder unbeholfenen Satz von ihr, der mich wütend machen könnte. Dabei bin ich mir sicher, dass sie diesen Krieg nicht gutheißen kann. Ich habe sie nicht angerufen: nicht meine Mutter, nicht meine Oma oder meinen Vater. Feige bin ich, denke ich in diesen Tagen über mich selbst, weil ich mögliche Konflikte mit ihnen meide.
Der russische Angriffskrieg, er findet in der Ukraine statt. Aber für viele postsowjetische Migrant:innen wie mich liegt der persönliche Kampf auch hier, mitten in Deutschland, in der eigenen Familie. Rund 3,5 Millionen gibt es von uns, den postsowjetischen Migrant:innen. Bis zum 24. Februar waren wir für viele meist unsichtbar oder pauschal Russen, dabei sind wir viel diverser. Kinder und Enkelkinder derjenigen, die sich einmal auf den Weg aus der Ukraine, aus Russland, Kasachstan oder Moldau hierher gemacht haben, sind seit mehreren Wochen laut. Der Krieg hat uns sichtbar gemacht.
Ich sehe Freund:innen und Bekannte, Kolleg:innen, die Unglaubliches leisten mit ihrem Engagement: Manche empfangen seit Wochen am Hauptbahnhof Flüchtlinge, andere schreiben Artikel oder organisieren Hilfskonvois in die Ukraine. Wer keine direkte Familie in der Ukraine hat, hat oft Freundschaften oder berufliche Beziehungen dorthin. Und eben auch nach Russland.
Man kennt die einen, die vom Krieg, und die anderen, die durch ein autoritäres Regime bedroht sind. Dazwischen stehen manchmal Familienangehörige in Deutschland, die jede Möglichkeit hätten, ihre Freiheit zu nutzen und sich doch dagegen entscheiden. Wo hört Verständnis auf? Wie geht man mit dieser Zerrissenheit um?
Seit 2014 schreien wir uns an
Diese Konfliktlinien, diese Risse, sie existieren schon länger. In meiner Familie schrie man sich seit dem Krieg in der Ostukraine 2014 an. Regelmäßig, im Sommer, bei unseren Besuchen in Transnistrien, meinem Geburtsort, einer prorussischen Provinz, eingequetscht zwischen Moldau und der Ukraine. Zwei Welten prallten da aufeinander. Ich, die Enkelin, die Nichte und Cousine, die das Glück hatte, in Deutschland aufzuwachsen, und dort die Großeltern, Onkel und Tanten, Cousinen und Cousins. Jeder Streit endete mit meinen Tränen und dem wütenden Entschluss, mich von diesem Teil der Familie abzuwenden. Zu groß war für mich der Meinungsgraben. Aber jedes Mal brachte ich es nicht übers Herz.
Und heute? Hat man das Recht, weiter Kontakt zu halten? Hat man das Recht, den Konflikt nicht zu suchen, weil man keine Lust hat auf die Verletzung durch die eigene Familie?
Der Krieg löst eine Kette von Zerstörungen aus. Da ist die sichtbare: zerbombte Städte und Straßen, Tote und Verletzte. Das psychische Trauma. Von Überlebenden, ihren Angehörigen und Freund:innen, die um ihr Leben bangten. Da ist eben auch die Zerstörung in Familien hier in Deutschland. Bruchlinien, Risse, die sich spätestens seit 2014 angedeutet haben und nun nicht mehr zu kaschieren sind.
Es ist nicht nur Putins Krieg, sagte mir eine ukrainische Aktivistin kürzlich. Verantwortung tragen auch die, die auf Zivilisten schießen. Und die bewusst nichts gegen Putin unternommen haben. Beginnt Mittäterschaft dort, wo wir uns entscheiden, nicht zu kämpfen, nichts zu sagen? Also auch in der Familie?
Ich habe noch keine Antwort auf diese Fragen. Aber ich glaube, dass wir sie uns stellen müssen.
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