Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte: Sprengstoff, Brände, Mordversuche
Die Gewalt gegen Flüchtlinge eskaliert. Ermittler zählen immer mehr Angriffe mit Sprengstoff auf Unterkünfte – allein neun im letzten Quartal 2015.
Vier Tage zuvor war eine Handgranate auf eine Flüchtlingsunterkunft in Villingen-Schwenningen (Baden-Württemberg) geworfen worden. Die Granate enthielt Sprengstoff, zündete aber nicht. Sie blieb neben einem Container des Sicherheitsdienstes liegen. Der Anschlagsversuch markierte eine neue Eskalationsstufe der Angriffe gegen Flüchtlingsheime. Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) sprach von einem inzwischen „erschreckenden Ausmaß an Gewalt“: „Wir dürfen nicht abwarten, bis es die ersten Toten gibt.“
1.027 Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte zählt das BKA im vergangenen Jahr – 2014 waren es noch 199. Die Ermittler besorgt nicht nur der enorme Anstieg der Gewalt, sondern auch die immer weiter zunehmende Brutalität. Denn Villingen-Schwenningen ist kein Einzelfall mehr: Allein 13 Delikte führt das BKA im vergangenen Jahr, bei denen wegen Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion oder Vergehen gegen das Sprengstoffgesetz ermittelt wird. Neun der Angriffe erfolgten allein im letzten Quartal 2015. Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Linken-Anfrage hervor, die der taz exklusiv vorliegt.
Viele Explosionen in Sachsen und Brandenburg
Fünf der Sprengstoff-Attacken gab es in Sachsen, vier in Brandenburg, zwei in Mecklenburg-Vorpommern und jeweils eine in Thüringen und Nordrhein-Westfalen. So verursachten im Brandenburgischen Guben Angreifer kurz vor Weihnachten in gleich zwei aufeinanderfolgenden Tagen Explosionen vor einer Unterkunft. Auch im sächsischen Freital explodierte zweimal ein Sprengsatz an einem Fenster einer Asylunterkunft, im September und November. In einem Fall erlitt ein Flüchtling Schnittwunden.
Bernd Merbitz, Polizei Sachsen
In Freital wurden inzwischen Verdächtige gefasst: zwei junge Männer, die bereits mit Anti-Asyl-Aktivitäten auffielen. In Villingen-Schwenningen wird laut der zuständigen Staatsanwaltschaft Koblenz noch „in alle Richtungen ermittelt“, auch in die rechtsextreme. Nur zwei Tage vor dem Anschlag war ein lokaler Neonazi-Kader festgenommen worden: Er soll Betreiber der rechtsextremen Internetplattform „Altermedia“ gewesen sein. Noch am Abend zog eine kleine Gruppe von Neonazis auf dem Marktplatz in Villingen auf.
Bereits seit Längerem ist die rechte Szene in der Region aktiv. Im Stadtrat sitzt ein NPD-Mann, es bildete sich ein Pegida-Ableger, die radikale Neonazi-Partei „Der III. Weg“ gründete unlängst einen Verband. Nach taz-Informationen wurden örtliche Neonazis inzwischen von der Polizei zu dem Anschlag in Villingen-Schwenningen befragt. Der Verfassungsschutz wurde in die Ermittlungen einbezogen.
Rechte organisieren sich klandestin
„Der rechtsextremen Szene vor Ort wäre solch eine Tat durchaus zuzutrauen“, sagte Robert Hertkamp vom Offenen Antifaschistischen Treffen Villingen-Schwenningen. Viele regionale Neonazis würden ihre Aktionen inzwischen „untergrundmäßig organisieren“. „Das hat sich merklich radikalisiert.“ Hertkamp verweist auch auf eine Parallele zum Oktober 2015: Damals gab es einen Brandanschlag auf eine Asylunterkunft in Villingen – kurz nach einer Hausdurchsuchung bei einem Neonazi.
Die Ermittler prüfen aber auch ein anderes Motiv: Möglicherweise habe die Tat auch dem Sicherheitspersonal gegolten. Geprüft werde auch noch, ob an der Handgranate ein Zünder vorhanden und dieser tatsächlich explosionsfähig war.
„Kreuzgefährliche Pogromstimmung“
Die Behörden alarmiert der Fall dennoch. So erfolgten am gleichen Wochenende auch in Sachsen gleich auf fünf Asylunterkünfte Anschläge. In einem Fall, im Leipziger Stadtteil Meusdorf, verwendeten die Täter einen selbstgebauten Sprengsatz aus Spraydosen, Grillanzünder und Papier. Bernd Merbitz, Leiter des sächsischen Operativen Abwehrzentrums der Polizei, sprach von einer „Pogromstimmung, die eine kreuzgefährliche Intensität bekommt“.
Auch das BKA sieht kein Ende der Gewalt, im Gegenteil: Dort zählt man in diesem Jahr bereits wieder 57 Straftaten gegen Unterkünfte, 14 davon Gewaltdelikte. Und unter den Straftaten vom vergangenen Jahr gibt es neben den Sprengstoffdelikten weitere schwerste Straftaten. Das BKA notiert auch 95 Brandstiftungen, in drei Fällen wird gar wegen versuchten Mordes ermittelt. Insgesamt 39 Personen wurden bei den Angriffen auf die Unterkünfte im vergangenen Jahr verletzt.
Die Linken-Innenexpertin Jelpke sprach von einer Situation, in der rechte Gewalttäter vor nichts mehr zurückschreckten. „Die Ermittlung und Bestrafung der Täter muss höchste Priorität haben.“ Auch müsse die Bundesregierung, „endlich einen umfassenden Maßnahmenkatalog“ der Gewaltwelle entgegenzusetzen und diese nicht mit „Hysterie in der Flüchtlingsdebatte befeuern“, so Ulla Jelpke.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen