Angriff bei Chan Junis: Ist Hamas-Chef Deif tot?
Bei Israels Angriff auf ein Flüchtlingslager in Südgaza stirbt ein Drahtzieher vom 7. Oktober. Ob auch der Militärchef der Hamas umkam: unklar.
Al-Mawasi ist eine von der israelischen Armee (IDF) ausgewiesene humanitäre Schutzzone, in die Palästinenser aus anderen Teilen des Gazastreifens Zuflucht gefunden haben. Mit fünf 1.000-Kilo-Bomben hatte die IDF in dem 12 Kilometer langen Küstenstreifen zwischen Rafah und Chan Junis ein Ziel ins Visier genommen, das ihr offensichtlich wichtiger erschien als der selbst ausgerufene Schutzstatus: Mohammed Deif.
Der Militärchef der Hamas soll sich mitsamt seiner Entourage zum Zeitpunkt des Angriffs inmitten der Zelte von al-Mawasi befunden haben. „Der Angriff hat in einem eingezäunten Gebiet stattgefunden, das von der Hamas kontrolliert wird“, so eine israelische Armeeerklärung am Samstag. „Keines der Opfer waren Zivilisten.“ Das israelische Militär meldete am Sonntag den Tod des Kommandeurs der Hamas-Brigade in der Stadt Chan Junis, Rafa Salama.
Israels Premierminister Benjamin Netanjahu sagte am Samstag bei einer Pressekonferenz in Tel Aviv, das Schicksal von Deif sei hingegen ungewiss. Die weiterhin zahlreichen Vermissten und der metertiefe Einschlagskrater in al-Mawasi lassen jedoch vermuten, dass Deif keine Überlebenschance hatte – sollte er sich tatsächlich in der Nähe befunden haben.
In Gaza eine Art Superheld
Mohammed Deif hat nach israelischen Angaben bisher vom Tunnelsystem unter dem Gazastreifen aus die Hamas-Operationen organisiert und war offenbar kurz vor dem Einsatz auf das Radar des Geheimdienstes Schin Bet gekommen. Er gilt wie Salama als strategischer Planer des Hamas-Angriffs auf Israel am 7. Oktober 2023.
Die Hamas verkündete am Samstag über ihre sozialen Kanäle, dass Mohammed Deif noch lebe. „Das Massaker von al-Mawasi geschah in einem Gebiet mit 80.000 Vertriebenen“, hießt es in einer Hamas-Erklärung. Und: „Der Angriff ist ein klarer Beweis dafür, dass die zionistische Regierung ihre Auslöschungskampagne gegen die palästinensische Bevölkerung fortsetzt.“
Doch wer ist Deif überhaupt? Als Sohn palästinensischer Flüchtlinge 1965 in Chan Junis geboren, steht Mohammed Deif, Chef der Kassam-Brigade, seit mehr als 30 Jahren auf Israels Liste der meistgesuchten Terroristen. Siebenmal soll er seinen Verfolgern lebend entkommen sein, und auch diesmal hat er, Hamas-Verlautbarungen zufolge, den Versuch der israelischen Luftwaffe, den gefährlichen Erzfeind auszuschalten, überlebt.
Dass Israels Armee und Nachrichtendienste nicht aufgeben bei der Jagd auf den Mann, dem neun Leben nachgesagt werden, hat gute Gründe. Der Tod von einigen Dutzend Terroropfern soll auf sein Konto gehen. Bei Entführungen, Messer- und Schussüberfällen, zig Bombenattentaten, bei der Planung des Tunnelsystems im Gazastreifen und der Entwicklung der Kurzstreckenraketen – bei allem hatte Deif seine Finger im Spiel. In Gaza gilt Deif als eine Art Superheld. Sein Tod wäre ein schwerer moralischer Rückschlag für die islamistische Terrororganisation.
Auf der Armee-Pressekonferenz in Tel Aviv trat Netanjahu erstmals ohne Verteidungsminister Joav Galant oder andere Minister seines Kabinetts auf. Galant hatte in den letzten Wochen mehrmals eine politische Alternative zu der Herrschaft der Hamas in Gaza gefordert.
Hamas will weiter verhandeln
Beobachter sehen darin einen Affront gegenüber Netanjahu, der schon im Frühjahr versprach, man sei nur noch einen „Schritt von einem militärischen Sieg entfernt“. Den Angriffsbefehl auf al-Mawasi habe er erst gegeben, als es ausreichend Geheimdienstinformationen über Deifs Aufenthaltsort gegeben habe und die Gefahr für die Zivilbevölkerung gering gewesen sei, so Netanjahu.
Derweil gingen auch am Samstagabend wieder Tausende Israelis in Tel Aviv auf die Straße. Sie forderten das Ende des Gazakriegs und ein Abkommen zur Rückkehr der noch bis zu 120 entführten israelischen Geiseln. „Stoppt den Wahnsinn“ oder „Bibi (Netanhaju), der Feind Israels“, stand auf Plakaten der Demonstranten.
Offenbar will die Terrororganisation trotz des Angriffs von al-Mawasi die laufenden Waffenstillstandsverhandlungen fortsetzen. Bei diesen hatte es zuletzt nach einem Durchbruch ausgesehen. Zunächst gab es vonseiten der Hamas widersprüchliche Signale, wie es nun weitergeht. Ein Mitglied des Politbüros der Hamas stellte am Sonntag jedoch klar, man werde die erstmals erfolgversprechenden Verhandlungen fortsetzen, „trotz der israelischen Versuche, diese mit Massakern zu behindern“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Sport in Zeiten des Nahost-Kriegs
Die unheimliche Reise eines Basketballklubs