Angriff auf Golanhöhen: Die Region hält die Luft an
Nach dem Raketeneinschlag auf dem Golan droht Israel, seinen Krieg gegen die Hisbollah auszuweiten. Libanons Regierung ruft zur Zurückhaltung auf.
Bei dem Einschlag einer Rakete auf dem Fußballplatz der Kleinstadt Madschdal Schams waren am Samstagnachmittag 12 Menschen ums Leben gekommen, darunter mehrere Kinder, mindestens elf wurden zum Teil schwer verletzt. Madschdal Schams liegt auf den Golan-Höhen, die im Jahr 1981 von Israel annektiert wurden und von der Minderheit der Drusen bewohnt werden; die meisten von ihnen besitzen die syrische Staatsbürgerschaft.
Nach internationalem Recht gehört die Gegend zu Syrien. Dort, wie entlang des gesamten Grenzverlaufs zum Libanon, schlagen seit dem 7. Oktober immer wieder Raketen der libanesischen Hisbollah-Miliz und ihrer Verbündeten ein. Die israelische Armee überwacht mithilfe ihrer sieben Kilometer vom Einschlagsort entfernten Militärbasis auf dem Berg Hermon die vom Iran unterstützten Milizen in Syrien und Libanon. Ob Madschdal Schams durch eine fehlgeleitete Hisbollah-Katjuscha oder eine Falak 1-Rakete iranischer Produktion getroffen oder absichtlich beschossen wurde, ist noch unklar. Viele fürchten jedoch, der Angriff könnte einen direkten Krieg zwischen Israel und dem Libanon auslösen.
Israel schlägt zurück
In der Nacht griff Israels Armee verschiedene Dörfer im Libanon an, hauptsächlich im Süden, rund 25 Kilometer von der gemeinsamen Grenze entfernt, in der Nähe der Küstenstadt Tyros. Israels Luftwaffe teilte mit, sie habe unter anderem Waffenlager und Infrastruktur der Hisbollah getroffen. Dabei sollen mehrere Bewohnende verletzt worden sein. Die libanesische Zeitung L’Orient-Le Jour berichtet, bei Angriffen der israelischen Luftwaffe auf das Dorf Kfar Kila seien vier Menschen getötet worden.
Ein weiterer Angriff ging tiefer ins Landesinnere, auf ein Dorf nahe Baalbek, etwa 90 Kilometer von der Grenze entfernt. Die Reaktion ist nicht der lange erwartete Großangriff gegen den Libanon, sondern bleibt bisher im Rahmen der tagtäglichen gegenseitigen Angriffe der vergangenen Monate. Das israelische Militär hat bereits mehrfach in der östlichen Bekaa-Ebene und damit weit von der Grenze entfernt angegriffen. Im Januar tötete das israelische Militär mit einem gezielten Angriff den Hamas-Anführer Saleh al-Aruri in Beirut.
Vor dem 7. Oktober galten die sogenannten „Rules of Engagement“, gemeinsame Absprachen über rote Linien im Konflikt. Diese wurden seitdem militärisch ausgehandelt, kalkuliert und ausgeweitet. Der Raketenangriff auf die drusische Ortschaft Madschdal Schams bricht mit diesen Verhaltensregeln.
Hisbollah bestreitet Verantwortung
Die Hisbollah bestreitet jedoch, für den tödlichen Angriff auf Madschdal Schams verantwortlich zu sein und dadurch eine weitere Eskalation in Kauf genommen zu haben. Hisbollah-Anhänger hatten auf sozialen Medien am Nachmittag zunächst den „erfolgreichen Beschuss“ von Einrichtungen des israelischen Raketenschutzschirms „Iron Dome“ gefeiert. Als bekannt wurde, dass die meisten Opfer in Madschdal Schams fußballspielende Jugendliche sind, machten sie israelische Luftabwehrraketen für den Einschlag verantwortlich.
„Die Hisbollah bekräftigt, dass sie in keiner Weise mit dem Vorfall in Verbindung steht und weist alle falschen Behauptungen in diesem Zusammenhang nachdrücklich zurück“, heißt es in einer Pressemitteilung. Sie verweist auf Ghaleb Seif, Leiter einer drusischen Organisation in den annektierten Golanhöhen, der erklärt habe, dass es sich bei „den Raketen, die auf dem syrischen Golan und in Galiläa einschlugen, um israelische Abfangraketen handelte“. „Jeden Tag sehen wir, wie Iron-Dome-Raketen ihre Ziele verfehlen und schließlich auf uns fallen.“
Videos zeigen tatsächlich den Einschlag von sogenannten Tamir-Flugkörpern in den Hügeln rund um den 11.000 Einwohner-Ort. Diese hatten aus dem Libanon kommende Geschosse verfehlt. Doch drusische Augenzeugen des Massakers berichten von einem zischenden Geräusch des Geschosses, ähnlich wie bei anderen Angriffen aus dem Libanon.
Israel droht mit Ausweitung
Der Sprecher der israelischen Armee, Daniel Hagari, machte am Samstagabend die Hisbollah für das Massaker verantwortlich und nannte den südlibanesischen Ort Chebaa als Abschussort der Rakete. Es sei der blutigste Angriff auf Israel seit dem 7. Oktober, so Hagari. Israels Außenministerium erklärte, die Hisbollah habe mit tödlichem Angriff „alle roten Linien überschritten“.
Wie ernst die Hisbollah die Gefahr eines massiven israelischen Gegenschlages nimmt, lässt sich aus den vielen Dementis ablesen, die seit Samstag auf verschiedenen Kanälen verbreitet werden. Der Beschuss mit Katjuscha-Raketen auf den Hermon-Berg sei eine Antwort auf die gezielte Tötung von drei ihrer Kommandeure in den Stunden zuvor gewesen, heißt es in einer Erklärung. Israelische Kampfflugzeuge hatten am Samstagmorgen ein Waffenlager in dem libanesischen Weiler Kfar Kila bombardiert.
Israels Verteidigungsminister Gallant kündigte noch am Samstagabend eine entschiedene Antwort der Armee an, die sich „im Ausmaß deutlich von den bisherigen Maßnahmen unterscheiden“ werde. Am Sonntag evakuierte die Hisbollah bereits einige ihrer Stellungen und Einrichtungen in Beirut.
Rufe zur Mäßigung
Die libanesische Regierung verurteilte in einer Pressemitteilung „alle Gewaltakte und Aggressionen gegen die Zivilbevölkerung“ und rief zur sofortigen Einstellung der Feindseligkeiten an allen Fronten auf. Auch die Bundesregierung und Frankreich riefen zur Mäßigung auf. Der Iran warnte Israel vor den „Konsequenzen“ eines neuen militärischen „Abenteuers“ im Libanon. Israel werde für „die unvorhergesehenen Konsequenzen und Reaktionen auf solch dummes Verhalten“ verantwortlich sein, sagte Außenministeriumssprecher Nasser Kanani am Sonntag.
Der einflussreiche drusische Politiker und ehemalige Vorsitzende der drusischen Partei im Libanon, Walid Jumblatt, mahnte die drusischen Gemeinschaften dazu, „gegenüber den israelischen Bemühungen, Konflikte zu schüren, wachsam zu sein“. Er sprach von „Versuchen der israelischen Besatzer, Zwietracht zu säen“ und rief die Menschen im Libanon und auf den besetzten Golanhöhen auf, sich vor „jeder Provokation oder Aufwiegelung in Acht zu nehmen“. Bei einem Treffen mit dem US-Gesandten Amos Hochstein am Sonntag sagte Jumblatt, es sei notwendig, dass Israel seine Angriffe im Libanon wie auch im Gazastreifen umgehend einstelle.
Israel könnte nun versuchen, die mit der UN-Resolution 1701 definierte „Pufferzone“ durchzusetzen, in der sich die dort stationierten 10.000 Hisbollah-Kämpfer eigentlich nicht aufhalten dürfen. Die Resolution sieht auch den Rückzug von Israel vor, und im Südlibanon stationierte UN-Truppen konnten das Gebiet zwischen der israelisch-libanesischen Grenze und dem 30 Kilometer entfernten Litani-Fluss nie vollständig überwachen. Aroldo Lazaro Saenz, der Kommandeur der sogenannten UNIFIL-Mission, forderte Israel und die Hisbollah am Samstag zur Zurückhaltung auf.
Hisbollah fürchtet Landkrieg
Militärisch sind die Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) der Hisbollah zwar weit überlegen. Doch in dem hügeligen und bewaldeten Grenzgebiet konnte die wie eine Armee organisierte Miliz zahlreiche Verstecke und Hinterhalte anlegen. Im Kriegsfall würde sie versuchen, israelische Soldaten zu entführen, um in israelischen Gefängnissen einsitzende Kampfgefährten freizupressen.
Doch auch für die Hisbollah ist ein Landkrieg gegen die IDF existenzgefährdend. Ihre Machtbasis gründet sich auf schiitische Viertel in Beirut, den Südlibanon und die Infiltrierung staatlicher Institutionen. Die seit 2019 anhaltende massive Wirtschaftskrise, die Explosion von 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat im Hafen von Beirut und ihre enge Kooperation mit dem Regime in Damaskus haben sie bei der Mehrheit der Libanesen die letzten Sympathien gekostet.
Israel könne den Libanon im Kriegsfall „in die Steinzeit zurückbomben“, drohte Israels Verteidungsminister Joav Galant bereits im Juni. Im Libanon zweifeln daher viele, ob es tatsächlich im Interesse der Hisbollah sein könne, drusische Zivilisten auf den israelisch besetzten Golanhöhen anzugreifen.
Madschdal Shams unter Schock
In Madschdal Shams glaubt man ohnehin nicht, dass sich die Lage nun dramatisch ändern wird. Faed Safad, ein geschockter Bewohner, sagte auf dem von Blutlachen überzogenen Fußballplatz einem Reporter des israelischen Fernsehsenders I24 zynisch: „Sie werden keine israelischen Kampflugzeuge über Beirut sehen, denn wir sind hier doch nur die Peripherie und es ist nur drusisches Blut. Anders wäre es, wenn es Tel Aviv getroffen hätte. Netanjahu lässt uns im Stich.“
Während der Premierminister seinen USA-Besuch vorzeitig beendete und zurück nach Tel Aviv flog, gab es am Samstag ein weiteres Massaker, das medial kaum Aufmerksamkeit erhielt. Bei einem israelischen Luftangriff auf eine Schule in Deir al-Balah im Gazastreifen wurden mehr als 30 Menschen getötet. Sie hatten in dem Gebäude Zuflucht gesucht. In dem völlig zerstörten Gebäude suchten Freiwillige auch am Sonntag nach weiteren Opfern.
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