Angeline Boulley über Bestseller-Jugendroman: „Es kommt auf die Nuancen an“
Autorin Angeline Boulley spricht über ihren preisgekröntes Buch „Firekeeper’s Daughter“. Sowie Kultur und Gegenwart der First Nations in den USA.
taz: Frau Boulley, Ihr Romandebüt wurde vielfach ausgezeichnet, eine Netflixserie ist geplant und das Time Magazin hat es in die Liste der 100 besten Jugendbücher aller Zeiten aufgenommen. „Firekeeper’s Daughter“ steht dort neben Büchern wie dem „Tagebuch der Anne Frank“ oder „Little Women“ von Louise May Alcott. Wie fühlt sich das an?
Angeline Boulley: Ich habe es noch nicht ganz realisiert, fühle mich aber sehr geehrt.
In Ihrem Buch hilft die 18-jährige Highschoolschülerin Daunis dem FBI bei einer verdeckten Ermittlung. Gleichzeitig sucht sie nach ihrem Platz in der Gesellschaft, insbesondere innerhalb einer indigenen Community. Wie entstand die Idee dafür?
Angeline Boulley: „Firekeeper's Daughter“. Übersetzung aus dem Amerikanischen von Claudia Max. cbj, München 2022, 560 Seiten, 20 Euro (ist auch als E-Book und Hörbuch erhältlich)
Die Initialidee hatte ich bereits, als ich selbst noch zur Highschool ging, also vor fast vierzig Jahren. Ich war 17 oder 18 Jahre alt, als ich zum ersten Mal ein Buch las, indem überhaupt ein indigener Protagonist auftauchte. Dessen Darstellung beruhte auf sehr seltsamen Stereotypen, sodass ich anfing, mich mehr mit meiner Herkunft auseinanderzusetzen und Informationen zur Geschichte von Native Americans zu sammeln.
Ist Ihr Roman also das Buch, das Sie selbst gern als Jugendliche gelesen hätten?
Genau das ist es. Ich wollte eine wahre Geschichte erzählen und den Menschen zeigen, wer wir sind und wie das Erwachsenwerden einer jungen Ojibwe-Frau aussehen kann.
Ojibwe ist Ihre Native Nation, ihr Stamm ist der der Sault Sainte Marie Chippewa, der auf Sugar Island in Michigan lebt. Wie bei Ihrer Hauptfigur ist Ihr Vater Native American, Ihre Mutter nicht. Inwiefern hat Sie das geprägt?
Wie Daunis bin ich eher hellhäutig. Ich habe oft zu hören bekommen, ich sähe gar nicht aus wie eine Native American, was an einer von Stereotypen durchzogenen Vorstellung liegt, wie wir auszusehen haben. Ich selbst bin nicht in meiner Native Community aufgewachsen. Mein Vater zog uns mehrere Stunden entfernt auf. Wir besuchten häufig unsere Verwandten auf Sugar Island. Als ich jünger war, fühlte ich mich als Außenseiterin. In der Stadt, wo meine Geschwister und ich aufwuchsen, waren wir die einzigen indigenen Menschen. Wir waren gut in der Schule, waren in Sportvereinen und auch sonst aktiv in der Gemeinde, – wir kamen gut mit allen klar.
Und wie war es, wenn Sie zu Besuch bei Ihren Verwandten waren?
Dort sah ich, wie schwer es für Native Americans sein kann. In Sault Saint Marie werden Indigene sehr schlecht behandelt. Meine Cousins wurden ständig überwacht, sobald sie ein Geschäft betraten. Diskriminierung spielt eine große Rolle, weshalb uns mein Vater dort nicht großziehen wollte.
Irgendwann zogen Sie zurück, begannen im Bildungssektor innerhalb Ihrer Community zu arbeiten. Später leiteten Sie das Bureau of Indian Education im Bildungsministerium in Washington, D. C. Die Idee, ein Buch zu schreiben, hat Sie aber nie losgelassen, und so ist ihr Debüt eine Mischung aus Coming-of-Age-, Kriminalroman und Liebesgeschichte geworden.
Ich hatte eigentlich nie ernsthaft vor, Schriftstellerin zu werden. Aber die Idee für die Geschichte blieb bei mir. Ich behandelte sie wie ein Puzzle und versuchte herauszufinden, wie die Teile zusammenpassen. Als ich wusste, wohin es gehen könnte, war ich bereits 44 Jahre alt. Es zu versuchen und zu scheitern, wäre in Ordnung gewesen. Es aber nie versucht zu haben, war etwas, das ich nicht bereuen wollte.
Hierzulande kochte unlängst eine Debatte über eine historische Buchreihe und deren Weitervermarktung rund um einen fiktiven Native American auf. Die Diskussionen zeigten, dass neben Rassismen, die bei der Darstellung von Native Americans immer wieder reproduziert werden, auch immer die Romantisierung indigener Kulturen eine Rolle spielt. Sie setzen dem etwas entgegen, in dem Sie Drogenkonsum, Armut und Gewalt gegen Natives ansprechen.
Ich wollte auch schwierige Seiten beleuchten, habe aber versucht, dabei ein Gleichgewicht beizubehalten. Es war stets eine sorgfältige Abwägung.
Inwiefern?
Es kommt auf die Nuancen an. Und die sind in diesem Fall für eine nichtindigene Person schwerer zu finden als für jemanden, der weiß, welches indigene Wissen geteilt werden darf, wenn es um gelebte Erfahrungen geht. Ich habe ein Mantra: Ich schreibe, um meine Kultur zu bewahren. Ich habe frei geschrieben. Während der Überarbeitung habe ich darüber nachgedacht, ob ich diese Informationen weitergeben sollte. Und welche Verantwortung ich dabei gegenüber meiner Gemeinschaft als Trägerin indigenen Wissens habe.
Wie waren die Reaktionen aus Ihrem Umfeld?
Ich sprach schon während des Schreibprozesses mit vielen und holte mir deren Meinung ein. Ich wollte sichergehen, niemanden vor den Kopf zu stoßen. Das Erfreuliche ist, dass das Buch innerhalb meiner Community durchweg positiv aufgenommen wird.
Besonders die Reaktionen von anderen Native Women seien sehr positiv gewesen, sagten Sie in einem anderen Interview. Woran liegt das?
In meinem Buch spreche ich auch die sexualisierte Gewalt gegenüber indigenen Frauen an, in der Hoffnung, dass das Thema mehr Beachtung findet. Diesbezüglich habe ich viel Zuspruch erhalten. Es ist eine mehr als ungerechte Situation; nicht nur erfahren sehr viele Native Women sexualisierte Gewalt, auch erhalten sie kaum Gerechtigkeit durch die Justiz. (Anm. d. Red.: Laut einem diesjährigen Bericht von Amnesty International erlebt mehr als die Hälfte der Native Women in den USA sexualisierte Gewalt in ihrem Leben)
Warum ist dem so?
Die Zuständigkeiten zwischen US-Behörden und den Tribal Councils ist nicht einwandfrei geklärt. Zudem fehlen Ressourcen, um sexualisierte Übergriffe zu verfolgen. Das nutzen besonders nichtindigene Männer aus, um Native Women Gewalt anzutun.
Ihrer Romanfigur Daunis liegt, obwohl sie nicht von allen akzeptiert wird, viel daran, ihre Community zu beschützen. Besonders zu den älteren Menschen pflegt sie enge Verbindungen. Warum war Ihnen wichtig, das herauszustellen?
Unsere Alten zu ehren und sich um sie zu kümmern, ist sehr wichtig in unserer Community. Ich wollte sie weder vergreist noch als romantisierte weise Älteste darstellen. Sie sollten Schwächen haben, grimmig sein dürfen. Aber auch liebevoll, immer noch neugierig und ein lebendiger Teil unserer Gemeinschaft. Gleichzeitig habe ich versucht, die Auswirkungen der historischen Traumata einzuflechten, die von Generation zu Generation weitergegeben werden.
Diese Auswirkungen sind bis heute spürbar und manifestieren sich unter anderem in den Diskussionen über die Rückgabe von Artefakten, die indigenen Völkern einst geraubt wurden. Dieses Thema greifen Sie in Ihrem nächsten Roman auf, der kommendes Jahr in den USA erscheinen soll. Können Sie schon mehr verraten?
Während die Handlung von „Firekeeper’s Daughter“ in den Jahren 2004 und 2005 stattfindet, spielt „Warrior Girl Unearthed“ zehn Jahre später. Statt Daunis Fontaine folgen wir einer ihrer im ersten Buch noch kleinen Cousinen. Es geht darum, wie Museen die Gebeine unserer Vorfahren und andere Artefakte aufbewahren. Wir haben schreckliche Geschichten über Knochen gehört, die mit Permanentmarkern beschriftet und in braunen Müllsäcken aufbewahrt werden. Würde irgendjemand wollen, dass seine Vorfahren auf diese Weise behandelt werden? Meine Figur beschließt deshalb, die Situation selbst zu korrigieren.
Eine letzte Frage. In „Firekeeper’s Daughter“ schreiben Sie: „Wenn wir für unseren Tribe Entscheidungen fällen, denken wir sieben Generationen voraus und wägen die Auswirkungen auf unsere Nachfahren ab.“ Können Sie das präzisieren?
Wenn man bei uns Entscheidungen trifft, dann nicht nur im eigenen Interesse. Es geht darum, möglichst an die Enkelkinder und deren Enkelkinder zu denken und daran, welche Welt man ihnen durch die Entscheidungen, die man heute trifft, hinterlässt. Das ist ein Grundgedanke in unserer Native Community, der meiner Meinung nach aber auch außerhalb von ihr Anwendung finden sollte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
BGH-Urteil gegen Querdenken-Richter
Richter hat sein Amt für Maskenverbot missbraucht
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Biden genehmigt Lieferung von Antipersonenminen
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Absagen vor Kunstsymposium
Logiken der Vermeidung