Louise Erdrichs Roman „Jahr der Wunder“: Die Kraft der Sätze

Erdrich erzählt in „Jahr der Wunder“ wie eine indigene Buchhändlerin mit Vergangenheit und Gegenwart ringt und Erlösung in der Literatur findet.

Schriftstellerin Louise Erdrich lacht in die Kamera

Die indigene US-Autorin Louise Erdrich Foto: Jenn Ackermann/NYT/Redux/laif

Ich liebe Statistiken, weil sie das, was einem einzigen Bruchteil der Bevölkerung zustößt, zum Beispiel mir, in globale Zusammenhänge stellen“, erklärt die Ich-Erzählerin in Louise Erdrichs neuem Roman. Das ist zwar nur eine Nebensache, erklärt aber, warum der Mittdreißigerin Tookie ein Freundschaftsdienst zum Verhängnis wurde. Vor Jahren bat ihre beste Freundin sie, den plötzlich verstorbenen Ex-Mann der Freundin aus dem Haus seiner Affäre zu holen. Tookie ließ sich breitschlagen, allerdings unterliefen ihr zwei Fehler.

Zum einen ließ sie den Toten im zweckentfremdeten Kühlwagen zurück, zum anderen hatte sie dessen Achselhöhlen nicht kontrolliert. In denen fand die Polizei Drogen, und Tookie musste in den Knast. „Ich stand statistisch auf der falschen Seite. Indigene sind in amerikanischen Gefängnissen die am stärksten überrepräsentierte Bevölkerungsgruppe“, kommentiert sie zu Beginn dieser unterhaltsamen Geistergeschichte lakonisch.

Die 1954 in Minnesota geborene Louise Erdrich ist eine der bekanntesten und erfolgreichsten indigenen US-Autor:innen. Für ihren (damals bereits 14.) Roman „Das Haus des Windes“ erhielt sie 2012 den National Book Award. Es folgten zahlreiche weitere Preise, bevor sie 2021 für „Der Nachtwächter“ den Pulitzerpreis erhielt.

Fulminantes Native-Epos

In diesem fulminanten Native-Epos greift sie die Biografie ihres Großvaters Patrick Gourneau auf, der den Protest gegen die Enteignung der US-amerikanischen Ur­ein­woh­ne­r:in­nen bis nach Washington trug. Ihr gerade erschienener Roman „Jahr der Wunder“ stand 2022 auf der Shortlist für den Women’s Prize for Fiction.

Louise Erdrich: „Jahr der Wunder“. Aus dem Amerikanischen von Gesine Schröder. Aufbau Verlag, Berlin 2023. 464 Seiten, 26 Euro

In ihrem Romane, Gedichte, Kinder- und Sachbücher umfassenden Werk setzt sich die 69-jährige Autorin immer wieder mit der indigenen Wirklichkeit in der geschichtsvergessenen US-amerikanischen Gegenwart auseinander. So auch in dem aktuellen Roman mit dem doppeldeutigen Originaltitel „The Sentence“, was sowohl „Strafe“ als auch „Satz“ bedeuten kann. Mit der Strafe hält sich dieser Roman nur kurz auf, schnell wendet er sich den Sätzen zu, die die Weltliteratur bedeuten.

Denn Tookie fängt, vorzeitig entlassen, mit Mitte Vierzig bei Birchbark Books an, einer Buchhandlung, die im Roman als „schlichter kleiner Laden“ beschrieben wird, in dem eine blaue Tür in den „Verkaufsraum mit Abteilungen für indigene Literatur, Geschichte, Lyrik, Sprachen, Biografien“ führt.

Die kleine Buchhandlung

Diese Buchhandlung gibt es wirklich, Louise Erdrich hat sie vor Jahren in Minneapolis gegründet. Sie werde „von beherzten Menschen betrieben, die an die Kraft guten Schreibens, die Schönheit handgemachter Kunst, die Stärke der indigenen Kultur und die Bedeutung kleiner, intimer Buchhandlungen glauben“, heißt es auf der Website birchbarkbooks.com.

Der Roman liest sich in weiten Teilen wie eine Verneigung vor den beherzten Menschen, die Literatur an die Le­se­r:in­nen bringen. „Ich bin Buchhändlerin – das ist eine Identität, eine Lebensweise“, sagt Tookie bald und spricht nicht nur hier vielen ihrer nicht-fiktiven Kol­le­g:in­nen aus der Seele. Als Erzählerin begibt sie sich auf Bücherpfade und erzählt davon, wie das Lesen ihr Leben prägt.

Ein handgefertigtes Kanu hängt von der Decke der Buchhandlung Birchbark Books & Native Arts

Hier glaubt man an die Kraft des Schreibens und die Stärke indigener Kultur: Birchbark Books Foto: Jenn Ackermann/NYT/Redux/laif

Sie stellt in kleinen, aber höchst unterhaltsamen Vignetten dankbare und herausfordernde Kun­d:in­nen vor, führt eindrucksvolle Leselisten und berichtet von den skurrilen Seiten des Buchhandels. Nichts toppt aber die Ereignisse, die nach dem Tod von Flora, einer der nervigsten Kundinnen, eintreten. Wenn Tookie den Laden morgens betritt, sind „Papier- und Bücherstapel verschoben, als hätte jemand sie durchgeblättert“. Kratzen, Rascheln und Rumoren scheinen Floras geisterhafte Präsenz in der Buchhandlung zu bezeugen.

Hinter dem Spuk steckt die düstere US-amerikanische Geschichte im Umgang mit der indigenen Bevölkerung, die „jahrhundertelang ausgetilgt und dazu verurteilt wurde, in einer Ersatzkultur zu leben“. Erdrich, die diese Geschichte schon so oft erzählt hat, erweitert hier die Handlung um zwei zentrale Ereignisse, die sie im „Jahr der Wunder“ 2020 hautnah erlebt hat: die Pandemie und den Mord an George Floyd.

Pandemie und der Mord an George Floyd

Während der Laden in den Pandemiebetrieb wechselt und Tookies Mann Pollux in einer Coronaklinik um sein Leben ringt, gerät dessen Tochter bei den Protesten gegen die rassistische Polizeigewalt in Gefahr.

Hier wirkt das Buch zuweilen etwas überladen, die Harmonie der magisch-realistischen Erzählung droht unter die Räder der bitteren Realität zu geraten. Das verzeiht man aber diesem Roman, der auf so vielen anderen Ebenen – literarisch, politisch, historisch und kulturell – den Horizont erweitert. Jenen, die es nach der Lektüre nicht in die Buchhandlung des Vertrauens zieht, ist nicht zu helfen.

Erdrichs deutsche Übersetzerin Gesine Schröder beweist einmal mehr das sprachliche Geschick, die Leichtigkeit und Komik, aber auch die Ernsthaftigkeit des Originals sowie seine zahlreichen kulturhistorischen Verweise elegant im Deutschen nachzubilden.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.