Angela Merkel an Harvard-Universität: Für humanistische Haltung geehrt
Harvard hat Merkel die Ehrendoktorwürde verliehen. Die Kanzlerin kritisierte in ihrer Rede Mauern und Protektionismus und erhielt tosenden Beifall.
Merkel rief dazu auf, Mauern in den Köpfen einzureißen, Ignoranz und Engstirnigkeit zu bekämpfen, Demokratie und Freiheit zu verteidigen und sorgsam mit der Wahrheit umzugehen. Dann sei alles möglich. Auch wenn Merkel Trump kein einziges Mal erwähnte, wirkte ihre Rede wie eine Abrechnung mit der Politik des US-Präsidenten.
„Mehr denn je müssen wir multilateral statt unilateral denken und handeln“, sagte Merkel unter dem Jubel von rund 20.000 Absolventen, Angehörigen und Professoren. Gehandelt werden müsse global statt national, weltoffen statt isolationistisch, „gemeinsam statt alleine“. Protektionismus und Handelskonflikte gefährdeten den freien Welthandel und damit die Grundlage des Wohlstands. Und der Klimawandel bedrohe die natürlichen Lebensgrundlagen. Man müsse alles Menschenmögliche tun, um dieses Problem in den Griff zu bekommen. „Noch ist das möglich, doch dazu muss jeder seinen Beitrag leisten.“
Trump verfolgt seit seinem Amtsantritt 2017 den strengen Kurs „Amerika zuerst“. Für ihn haben nationale Interessen Vorrang vor einer globalen Weltordnung. Trump verkündete den Ausstieg der USA aus diversen internationalen Abkommen, darunter das Pariser Klimaabkommen. Der US-Präsidente startete diverse erbitterte Handelskonflikte, unter anderem mit China. Den Klimawandel sieht er nicht als Problem. Mit vielen internationalen Partnern liegt er im Clinch. Auch und gerade die Beziehung zwischen Deutschland und den USA hat seit Trumps Amtsantritt sehr gelitten.
Seine Kritiker werfen Trump außerdem vor, Zwietracht zu säen, die gesellschaftliche Spaltung in den USA zu vertiefen und impulsgetrieben Weltpolitik zu betreiben. Berüchtigt ist er für ein besonderes Verhältnis zur Wahrheit: Die Faktenchecker der Washington Post haben seit seinem Amtsantritt Anfang 2017 mehr als 10.000 falsche oder irreführende Behauptungen des US-Präsidenten gezählt. Den Medien wirft er systematisch lügnerische Berichterstattung vor.
Merkel mahnte, es sei möglich, Antworten auf die schwierigen Fragen der heutigen Zeit zu finden, „wenn wir Respekt vor der Geschichte, der Tradition, der Religion und der Identität anderer haben, wenn wir fest zu unseren unveräußerlichen Werten stehen und danach handeln und wenn wir bei allem Entscheidungsdruck nicht immer unseren ersten Impulsen folgen, sondern zwischendurch einen Moment innehalten, schweigen, nachdenken, Pause machen.“ Dafür brauche es Mut und Wahrhaftigkeit gegenüber anderen und sich selbst, mahnte sie und betonte auch: „Dazu gehört, dass wir Lügen nicht Wahrheiten nennen und Wahrheiten nicht Lügen.“
Merkel rief zu Zuversicht auf: „Mauern können einstürzen.“ Es sei möglich, Diktaturen zu beseitigen, die Erderwärmung zu stoppen, den Hunger auf der Welt zu besiegen, Krankheiten auszurotten, Fluchtursachen zu bekämpfen und den Menschen – insbesondere Mädchen – Zugang zu Bildung zu geben. „Das alles können wir schaffen“, sagte sie und mahnte: „Überraschen wir uns damit, was möglich ist. Überraschen wir uns damit, was wir können.“
Der Fall der Mauer
Vor Tausenden Zuhörern erzählte Merkel auch von ihrer Vergangenheit in der DDR. Die Berliner Mauer habe ihr Leben als junge Frau damals sehr eingeschränkt, ihr aber nie ihre Träume und Sehnsüchte nehmen können. Mit dem Fall der Mauer habe sich damals auch für sie eine Tür in eine neue Zukunft geöffnet. „Was festgefügt und unveränderlich scheint, das kann sich ändern“, betonte sie.
Nichts sei aber selbstverständlich, sagte die Kanzlerin: Demokratie nicht, Frieden nicht, Wohlstand nicht. „Aber wenn wir die Mauern, die uns einengen, einreißen, wenn wir ins Offene gehen und Neuanfänge wagen, dann ist alles möglich.“ Sie appellierte – zum Schluss auf Englisch – an die Absolventen: „Reißen Sie die Mauern von Ignoranz und Engstirnigkeit ein, denn nichts muss so bleiben, wie es ist.“
Mauern haben mit Blick auf Trump eine besondere Bedeutung. Der Bau einer Mauer an der Grenze zu Mexiko ist eines seiner Kernanliegen. Er hatte dies schon im Wahlkampf versprochen und das Vorhaben in den Mittelpunkt seiner Politik gestellt, um illegale Einwanderer aufzuhalten und Drogenschmuggel einzudämmen. Merkel wiederum kritisierte er mehrfach für deren Migrationspolitik.
Die Harvard-Universität verlieh der promovierten Physikerin Merkel bei ihrem Besuch auch die Ehrendoktorwürde. Explizit lobte die Hochschule unter anderem Merkels Slogan „Wir schaffen das“ in der Flüchtlingskrise, der ihr in Deutschland viel Kritik eingebracht hatte. Merkels Entscheidung, in großer Zahl Migranten und Flüchtlinge ins Land zu lassen, habe ihren Willen gezeigt, für das einzustehen, was sie für richtig halte – auch wenn dies unpopulär sei.
Zu einem Treffen mit Trump kam es bei Merkels Kurzbesuch in den USA nicht. Nach Angaben eines deutschen Regierungssprechers hatte die US-Seite frühzeitig mitgeteilt, dass der Präsident an diesem Tag nicht in Washington sein werde. Trump sprach am Donnerstag ebenfalls vor Absolventen, allerdings etwa 3.000 Kilometer von der Universität Harvard entfernt, an der US Air Force Academy im US-Bundesstaat Colorado. Auch dort gab er seine zentrale Losung aus: Amerika komme in seiner Administration immer zuerst.
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