Über die Abgründe einer Elite-Uni: Mythos Cambridge
In England bestimmt die Bildungsinstitution den Werdegang der Eliten in Politik und Wirtschaft. Es liegt viel im Argen – und es gibt wenig Veränderung.
M it Herzrasen in meiner Brust und wackligen Beinen schreite ich vor den Altar. Knie mich auf das rote Samtkissen nieder und schiele nach oben. Blicke in das faltige Gesicht des alten Herren, der Latein faselt und mir zum Abschluss seine Hand reicht, damit ich seinen Ring küssen kann. Dann stehe ich auf – vorsichtig und langsam, um bloß nicht auf den Saum meines schwarzen Umhangs zu treten. Ich verbeuge mich, wie ich es am Vorabend bereits mehrfach geübt habe, und verlasse das prächtige Senatsgebäude, ohne mich umzusehen.
Was wie ein mittelalterliches Aufnahmeritual klingt, ist meine Graduierungszeremonie im Jahre 2018. Sie ist der Klimax meiner einjährigen emotionalen Reise an der University of Cambridge, die an diesem Tag Familienangehörigen einen Einblick hinter ihre Kulissen gewährt. Sie alle sind angereist, um sich einen persönlichen Eindruck von einer der renommiertesten Bildungsinstitutionen der Welt zu machen. Die Stimmung einer Universität zu erleben, die über 90 Nobelpreisträger hervorgebracht hat und auf mehrere Jahrhunderte Geschichte zurückblickt. Turing, Darwin, Hawkins. Die Produktionsstätte der Forschungs- und Machtelite Englands.
Dass Studierende und Eltern den Zirkus mitmachen, ist sinnbildlich für die Strahlkraft und soft power von Oxbridge, wie Cambridge und Oxford oft zusammenfassend bezeichnet werden. Es sind Momente wie diese, die den Habitus dieses Ortes in konkrete Handlungen und Praktiken überführen und damit sichtbar machen.
Die University of Cambridge gibt es als Einheit gar nicht, jedenfalls nicht physisch. Es gibt weder das Gebäude, noch die Vorlesungshalle. Stattdessen gibt 31 Colleges, die nach und nach erbaut wurden und von Grund auf verschieden sind. Das College-System darf man sich vorstellen wie bei Harry Potter. Ein kleiner Ausflug in die Welt der Zauberer: Alle besuchen die Schule Hogwarts, sind aber in verschiedene Häuser unterteilt. Diese sind Dreh- und Angelpunkt für ihr Sozialleben. Sie schlafen dort, schließen Freundschaften, essen gemeinsam. Dennoch fühlen sie sich alle dem Überbau Hogwarts verbunden. Im Unterricht treffen sie häuserübergreifend aufeinander, je nach Fach. Die 31 Colleges der University of Cambridge sind quasi das Äquivalent der Häuser von Hogwarts. Und genau wie bei Harry und Co. sitzt man in den Seminaren und Vorlesungen mit Studierenden zusammen, die aus anderen Häusern kommen.
Soziale Codes als Voraussetzung für Eliteunis
Das College-System führt dazu, dass sich die Lebensumstände der Studierenden stark unterscheiden. Traditionelle Colleges haben Macht und Einfluss; sie stärken den Mythos der Universität als Ganzes. Sie haben zahlungskräftige Alumni-Clubs, bieten Führungen für Touristen an und verkaufen Pullover mit ihren Wappen drauf. Die Ungleichheit zwischen den Colleges reproduziert im Kleinen die Ungleichheit im Rest des Landes. Laut einem Bericht der Financial Times rekrutiert Oxbridge vorwiegend Privatschüler. Obwohl es über 2.900 öffentliche Schulen in England gibt, kommt mehr als die Hälfte der Studierendenschaft von sage und schreibe acht Privatschulen.
Immer wieder gibt es in der englischen Presse Berichte über die soziale Ungleichheit und die Rolle, die Eliteuniversitäten dabei einnehmen: Während die besagten acht Privatschulen ihre Schüler ab der Einschulung für die sozialen Codes sensibilisieren, Auswahlgespräche üben und perfekt auf den nahtlosen Übergang an die Eliteuni vorbereiten, haben Schüler aus öffentlichen Schulen erhebliche Nachteile.
In England bestimmt die Wahl der Bildungsinstitution den Werdegang: Von Englands bisherigen 56 Premierministern studierten 42 in Oxford oder Cambridge. Der Großteil drückte zuvor die Schulbank in einer der acht renommiertesten Privatschulen, von denen Eton wohl die im Ausland bekannteste sein dürfte. Obwohl Oxford mehr der prominenten politischen Totalausfälle der letzten Jahre geformt hat, werden auch in Cambridge Entscheidungsträger der Politik und Wirtschaft produziert. Das wirft die Frage nach den Werten auf, die solche Unis propagieren.
In Cambridges Unipolitik werden solche Fragen kontrovers diskutiert: Während die „Decolonise Cambridge“-Bewegung dazu auffordert, imperialistische Strukturen abzubauen und eine inklusive Vision der Uni anstrebt, halten andere an Traditionen fest. Die „Decolonise“-Bewegung plädiert dafür, Lehrpläne zu reformieren, um endlich auch einmal Alternativen zu weiß-männlichen Perspektiven herkömmlicher Soziologen, Historiker und Schriftsteller zu lehren. Andere sehen wiederum gar keinen Grund für Bemühungen um mehr Diversität, weder in den Lehrplänen noch in der Zusammensetzung der Studierenden- und Professorenschaft.
Nicht das vermeintlich hohe Niveau ist einschüchternd
Es liegt viel im Argen, aber wenig ist im Umbruch: Trotz anhaltender Kritik tun sich die englischen Eliteunis schwer mit Veränderungen. Sie sind von konservativen Machtstrukturen durchsetzt – und ansässig in einem politisch tief gespaltenen Land, in dem die einen krampfhaft an imperialistischem Gedankengut festhalten und die anderen für Veränderungen auf die Straße gehen. Um zu verhindern, dass diesem System zukünftig weitere Boris Johnsons entspringen, bräuchte es schon eine entschiedene Haltung vonseiten der Unis.
Man stelle sich vor, in Deutschland käme heraus, dass Merkel, Schröder und Kohl alle an derselben Elite-Uni studiert hätten und in derselben studentischen Verbindung aktiv waren. Absurd? In England wäre das wenig überraschend.
Rea Eldem
hat Cambridge gut überstanden und lebt in Berlin. Sie ist selbstständige Beraterin für gleichberechtigte Arbeitskultur und agile Methoden.
Zwar wachsen das Bewusstsein und damit auch die Bemühungen darum, Studierende mit bildungsfremden Hintergründen besser zu fördern, jedoch hören die Ungleichheiten mit der Zulassung nicht auf. Sowohl Studierende aus dem Ausland als auch einheimische Studierende außerhalb des Elitekontextes haben neben den Anforderungen des regulären Studiums mit dem Stressfaktor Unsicherheit zu tun. Studierende, die sich bereits ihr ganzes Leben lang in kompetitiven, exzellenten und traditionsbewussten Institutionen bewegen durften, sind sich ihrer Fähigkeiten bewusst – andere zweifeln konstant an sich selber.
Auch ich habe mich in diesem System eher wie eine Beobachterin denn als ein aktiver Part gefühlt. Anfänglich überwältigt von Studierenden mit wallenden Umhängen, altertümlichen Gebäuden und sozialen Codes, die sich unter dem Deckmantel „Tradition“ verbargen, fühlte ich mich konstant unsicher. Dieses Gefühl wich das gesamte Jahr nicht von meiner Seite. Und wider Erwarten lag das nicht an dem vermeintlich überdurchschnittlichen Niveau oder Ansprüchen der Lehre – sondern an einer überzogenen Exklusivität, die mit der Geschichte und der Tradition dieses Ortes mitschwang.
Survival-of-the-fittest-Mentalität
Zwar hatte ich Zugang zu den Außenbereichen aller Colleges und durfte in deren Gärten umherspazieren und die Schönheit bestaunen. Spätestens bei der Bibliothek oder der Mensa (ein komisches Wort, welches den jahrhundertealten, stuck- und goldbesetzen Hallen nicht gerecht wird) war allerdings Schluss. Bis zur Hecke, aber nicht weiter. Members only.
Ich hätte mehr dafür machen können, eine „richtige“ Cambridge-Erfahrung zu haben. Also die Cambridge-Erfahrung, die dem Mythos zugrunde liegt, für den jährlich über fünf Millionen Touristen anreisen. Ich hätte meine Kommilitonen mit dem Taxi zu den feinen Abendessen in anderen Colleges begleiten, auf den exquisiten May Balls tanzen, die Spitzenpolitiker bei der Cambridge Union anhören, rudern lernen und mir einen schwarzen Umhang kaufen können. Vielleicht hätte ich mich dann dazugehörig gefühlt. Letztendlich habe ich die Exklusivität aller Veranstaltungen durch reale Barrieren (Geld), aber auch durch implizierte, wie Kleidungscodes (Umhänge) und den gepflegten Habitus (Riten), als so absurd und teilweise problematisch empfunden, dass ich mich als Konsequenz auch ein Stück selber ausgeschlossen habe.
Ich erlebte, wie Menschen an diesem Ort zerbrochen sind
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Während es teils ernsthafte Bemühungen gibt, eine Kultur der Offenheit zu schaffen, wird Exklusivität in Cambridge auch als strategisches Mittel eingesetzt, um eine Survival-of-the-fittest-Mentalität zu befördern. Professoren betonten regelmäßig, wie glücklich wir uns schätzen sollten, hier zu sein – und wie hoch die Ansprüche sein würden. Was woanders dafür sorgen könnte, faule Studierende zu motivieren, führte für mich zu einer ständigen Angst, nicht gut genug zu sein. Präsentationen fühlten sich an wie Lebensprüfungen und Gespräche mit meiner Betreuerin wurden zur ständigen Probe meines Selbstwertgefühls. Dazu die anfängliche Ungewissheit über die lokalen Bewertungsrichtlinien und Maßstäbe: Kann ich hier mithalten?
Für viele meiner Kommilitonen war das Stresslevel noch höher. Für einige war Cambridge der logische nächste Karriereschritt in einem elitären Bildungssystem, welches sie seit ihrer Kindheit auf Exzellenz trimmte, für andere war es die Chance ihres Lebens – und der einzige Weg, sich in ihrem Heimatland von vielen anderen Bildungsaufsteigern abzuheben. Beide Gruppen standen extrem unter Druck.
Über das zweite Semester hinweg beobachtete ich, wie Menschen krank wurden. Sie kapselten sich ab, hörten auf zu essen, rissen sich die Haare aus, bekamen Panikattacken und Prüfungsangst, Schlafstörungen und Hautausschläge. Während einige positive Erfahrungen mit den verfügbaren psychologischen Betreuungsangeboten machten, empfanden andere eine große Barriere, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Besonders für Studierende aus dem nicht europäischen Ausland ist es schwer: Der Druck ist besonders hoch, da sie höhere Studiengebühren zahlen und oft ganze Familien zusammengelegt haben, um das Studium zu finanzieren. Gleichzeitig können die meisten in den Ferien nicht nach Hause fliegen. Sie verbringen das gesamte Jahr in Cambridge und bekommen keinen Abstand.
Ich erlebte, wie Menschen an diesem Ort zerbrochen sind – und das wurde hingenommen. Wieder ein paar weniger im Jahrgang. Wie jedes Jahr. Hauptsache, der Ruf der akademischen Exzellenz bleibt gewahrt. Und Hauptsache, das System produziert immer neue, auf Härte getrimmte und glatt geschliffene Nachfolger für Englands Machtelite.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Scholz stellt Vertrauensfrage
Traut mir nicht
Wahlprogramm der Union
Scharfe Asylpolitik und Steuersenkungen
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Neue israelische Angriffe auf Damaskus
Russlands Nachschub im Ukraine-Krieg
Zu viele Vaterlandshelden