Angekündigte Anzeige wegen taz-Kolumne: Seehofer lenkt ab
Innenminister Horst Seehofer will ein_e taz-Autor_in anzeigen. Viele Bundespolitiker*innen finden das unverhältnismäßig.
Nur eine knappe Stunde zuvor hatte in Berlin ein Ministeriumssprecher mehrmals betont, dass noch nichts entschieden sei. In der Bundespressekonferenz fragten JournalistInnen hartnäckig zu Seehofers Beweggründen. Der hatte via Bild-Zeitung angekündigt, am Montag „als Bundesinnenminister Strafanzeige gegen die Kolumnistin wegen des unsäglichen Artikels in der taz über die Polizei“ zu stellen. Zugleich stellte er einen Zusammenhang zwischen Yaghoobifarahs Text und den Gewaltexzessen in Stuttgart her: „Aus Worten folgen immer auch Taten.“
Die Bundeskanzlerin mag das anders bewerten. Regierungssprecher Steffen Seibert sagte in der Regierungspressekonferenz, Angela Merkel (CDU) sei mit Horst Seehofer über den Fall „im Gespräch“. Über den Inhalt oder Merkels Haltung zu der Anzeige wollte Seibert aber keine Auskunft geben.
Viele Bundespolitiker*innen bewerten Seehofers angekündigte Strafanzeige gegen die Autor*in der taz als unverhältnismäßig. Andere, etwa die Koalitionspartnerin SPD, halten sich mit Kritik an Seehofer eher zurück. Man will offenbar nach Stuttgart und der Aufregung um Saskia Eskens Rassismus-Interview keinen Streit über die Rolle der Polizei. Die SPD-Spitze verweist lieber auf die SPD-Fraktion im Bundestag.
Steilvorlage für die AfD?
Am deutlichsten wird dort Uli Grötsch, SPD-Innenexperte und Polizist. „Ich halte den Inhalt der Kolumne für total daneben“, sagt Grötsch der taz. „Trotzdem wäre eine Strafanzeige sicherlich der falsche Weg und kontraproduktiv.“
Die Opposition kritisiert Seehofers Strafanzeige schärfer. Renate Künast, grüne Bundestagsabgeordnete, sagt der taz, dass Seehofer emotionalisiere, um die Stimmung aufzuheizen.
Der FDP-Rechtspolitiker Konstantin Kuhle hält Seehofers Anzeige für „sehr ärgerlich“. „Wir diskutieren nicht mehr über Rassismus oder Gewalt gegen die Polizei, sondern über diese Strafanzeige“, so der Liberale zur taz. Die Verbindung zu den Ausschreitungen in Stuttgart, die der Bundesinnenminister ziehe, sei verquer. „Die Leute haben Polizisten in Stuttgart nicht in den Rücken getreten, weil in der taz eine satirische Kolumne stand.“ Auch dass Merkel möglicherweise noch einmal mit Seehofer über eine Strafanzeige reden könnte, hält Kuhle für fatal. „Jetzt kann die AfD behaupten, dass Merkel die Strafanzeige verhindert hat, die unsere Polizei schützen sollte.“
Dabei, so Künast und Kuhle einmütig, sei es ohnehin unwahrscheinlich, dass eine Strafanzeige gegen die taz wegen der Kolumne je vor Gericht verhandelt werden werde. Diese würde „sich gegen die Pressefreiheit richten und ist deshalb ein Fehler“, so Kuhle. Doch wegen der Pressefreiheit werde kaum „ein Staatsanwalt Anklage erheben.“ Die Strafanzeige „würde wahrscheinlich kein Richter zu Gesicht bekommen“.
Seehofer gibt den starken Mann
Aber gesagt ist gesagt. Wird Seehofer Anzeige erstatten? In Stuttgart versucht der Bundesinnenminister am Montagmittag, eindrückliche Bilder der Stärke herzustellen. Gemeinsam mit Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne), Landesinnenminister Thomas Strobl (CDU) und Oberbürgermeister Fritz Kuhn (Grüne) geht er eng gedrängt durch die Königstraße, wo am Wochenende die Schaufenster klirrten. Es sind nur ein paar Schritte, die die vier Politiker in die Kampfzone wagen.
Da die Stuttgarter Müllbeseitigung offenbar ihren schwäbischen Ruf zu verteidigen hat, sind schon fast alle Schäden beseitigt. Eigens für die Pressefotos hat man deshalb einen Anhänger mit Bruchglas vorgefahren. Dann beziehen die Minister Stellung vor dem wahrscheinlich einzigen Sexshop in dieser Lage und geben ihre Statements ab. Sowohl Seehofer als auch Kretschmann sprechen direkt die anwesenden Polizeibeamten an. Seehofer betont: „Wir stehen hinter unserer Polizei. Wir müssen die schützen, die uns schützen.“ Und er sagt, Verunglimpfungen könnten in so einer Auseinandersetzung genauso verletzen wie Gewalt.
Polizeibeamte, die in der Nacht dabei waren, können die Geschehnisse und die Gewalttäter vom Samstag genauer einordnen. Der stellvertretende Polizeivizepräsident Thomas Berger sagt am Rande, es habe schon an den letzten Wochenenden ein „Knistern am Eckensee gegeben“. Da habe nur ein Funke gefehlt.
Dort, am oberen Ende des Schlossgartens, nahe der Einkaufsmeile, kam es Samstagnacht nach Darstellung der Polizei zu einer Kontrolle wegen Drogenbesitzes. Im Sommer treffen sich hier Hunderte Jugendliche, mischen sich mit Partyvolk und Operngängern. Zurück bleiben nachts jene, die noch zu jung für die Clubs in der Innenstadt sind, und besorgen sich Alkohol aus Läden und Tankstellen in der Nähe. Am Samstag geriet die Situation außer Kontrolle. Ein Mob von etwa 400 fast ausschließlich männlichen Jugendlichen sei dann die Königsstraße hinaufgezogen, habe sich Schlachten mit der Polizei geliefert und Handyläden und Juweliere geplündert.
Die Festgenommenen seien meist zwischen 14 und 16 Jahren alt gewesen, berichtet die Polizei. Auch die mit mutmaßlichem Migrationshintergrund hätten bestens Deutsch gesprochen. „Die meisten von denen waren keine Unbekannten für uns“, sagt ein Beamter, der mehrere Festnahmen durchgeführt hat. Ob es Absprachen unter den Tätern gab, wird noch ermittelt. Insgesamt rechnet die Polizei noch mit weiteren Festnahmen. Bei festgenommenen Randalierern seien Sturmhauben und Farbbeutel gefunden worden. Berger sagt: „Aus dem Nichts gibt es das nicht.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
BGH-Urteil gegen Querdenken-Richter
Richter hat sein Amt für Maskenverbot missbraucht
Sensationsfund Säbelzahntiger-Baby
Tiefkühlkatze aufgetaut