Angeblicher Handyklau: Polizei beschuldigt wild drauflos
Eine Polizistin zeigt eine Anwohnerin der Hafenstraße wegen Diebstahls an. Die Anwohnerin kritisiert rassistische Zustände und bekommt Recht.
Was es auf jeden Fall gab: Einen Polizeieinsatz in der Hafenstraße auf St. Pauli am 22. Juni 2022. Einen Einsatz, von dem man sagen könnte, dass er nach Schema F der „Task Force Drogen“ lief: Mehrere Polizist*innen nehmen unter Gewalt einen aus Westafrika geflüchteten Mann fest, weil sie ihn verdächtigen, mit Drogen zu handeln. Anwohner*innen bekommen die Situation mit, protestieren dagegen und versuchen, das Geschehen zu dokumentieren.
Gegen neun Uhr abends hatten fünf bis sieben Polizist*innen einen Schwarzen Mann auf einer kleinen Treppe vor einem der Hafenstraßenhäuser umringt. So geht es aus der Akte hervor, die in der Verhandlung gegen die Anwohnerin Martina Austen als Grundlage dient. Der Mann wehrte sich und wollte weglaufen. Mehrere Zivilpolizist*innen kamen hinzu, darunter auch die 27-jährige Polizistin R.
Nachdem der Mann fixiert worden sei und sie von ihm abgelassen habe, habe R. gemerkt, dass ihr Handy nicht mehr in ihrer linken Gesäßtasche war. Geschockt habe sie ihre Kollegin gebeten, das Telefon anzurufen. Daraufhin habe sie gesehen, dass eine Anwohnerin, die direkt neben ihr stand und zuvor das Geschehen gefilmt habe, es in der Hand hielte – die Beschuldigte Martina Austen.
An der Jacke gespürt
Auf die Aufforderung, Austen solle das Handy herausrücken, habe diese sich zunächst geweigert. Als R. drohte, sie zu durchsuchen, habe Austen ihr das Handy doch gegeben. R. zeigte Austen wegen Diebstahls an. Die Staatsanwaltschaft stellte einen Strafbefehl über 1.600 Euro aus. Austen wollte nicht zahlen. Sie habe das Handy nicht klauen wollen, gab sie den Ermittler*innen an.
Sie habe das Telefon bei der Festnahme auf dem Boden liegen sehen und gedacht, es gehörte dem Geflüchteten. Sie habe es aufgehoben, um es ihm später wiederzugeben. Als es geklingelt habe, sei sie rangegangen und habe „Hello?“ gesagt – in der Annahme, dass sich eine mit dem Geflüchteten befreundete, wahrscheinlich englischsprachige Person melde.
Daran, dass Austen sich das Telefon ans Ohr gehalten habe, erinnern sich vor dem Gericht weder die Polizistin R. noch ein zweiter als Zeuge geladener Polizist. Auch ob und wie der Festgenommene zu Boden oder gar von der Treppe geworfen wurde, und wie viele Menschen in welcher Entfernung gestanden hätten – das alles wissen sie nicht mehr. „Es herrschte Gewusel“, bekräftigen sie mehrmals.
R. ist sich zwar sicher, etwas an ihrer Jacke gespürt zu haben, bevor sie feststellte, dass das Telefon weg war. Für sie folgt daraus: Das war Austen, die ihr das Telefon klaute. „Wer stand denn noch nah bei Ihnen?“, fragt die Richterin. „Niemand“, antwortet R. „Haben Sie sich denn umgeguckt?“, will die Richterin wissen. „Während der Festnahme nicht“, gibt R. zu. „Aber man kennt sich ja von den Kontrollen auf St. Pauli“, versucht sie ihre Aussage zu retten. Doch so leicht macht es ihr die Richterin nicht. „Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun“, merkt sie an.
Martina Austen, Anwohnerin
Austen will am Dienstag vor dem Gericht nichts zum Sachverhalt sagen. Zu den Zuständen auf St. Pauli allerdings schon: „Unzählige Male musste ich miterleben, wie vor meiner Haustür Polizist*innen auf Schwarzen Männern knieten, während diese vor Schmerzen wimmerten“, sagt die Anwohnerin. „Was ich hier tagtäglich erlebe, ist die Fortführung der rassistischen Migrationspolitik Europas.“
Die Bekämpfung der öffentlich wahrnehmbaren Drogenkriminalität – so lautet der Auftrag der polizeilichen Task Force – habe Ausmaße angenommen, die Austen, die seit 20 Jahren auf St. Pauli wohnt, früher nie für möglich gehalten hätte. „Es ist eine anti-Schwarze, rassistische Polizeiarbeit im Kontext der fortschreitenden Gentrifizierung des Stadtteils“, sagt Austen.
„Sie steht im Zusammenhang mit der autoritären Drogenpolitik und der tödlichen europäischen Abschottungspolitik.“ Auch die Repression der Anwohner*innen, die diese Zustände nicht hinnehmen wollten, sei in diesem Kontext zu verstehen.
Die Richterin signalisiert Zustimmung. Sie habe Verständnis für Austens Engagement gegen eine ungerechte Polizeiarbeit, sagt sie. Ebenso verstehe sie aber auch, dass Polizist*innen ihren Job machen müssen. Das alles sei aber nicht Gegenstand des Verfahrens. Hier gehe es lediglich darum, ob Austen das Handy geklaut habe. Dafür spreche wenig, findet sie.
Anzeige wegen Filmens
„Das Telefon zu klauen und dann am Tatort zu bleiben, und sogar noch ranzugehen, wenn es klingelt, wäre so dumm, dass ich es für sehr unwahrscheinlich halte“, sagt die Richterin. Zudem erschließe sich ihr nicht, wie Austen überhaupt hätte wissen können, wo die Polizistin ihr Telefon aufbewahrt. Die Beschuldigte sei ja damit beschäftigt gewesen, das Geschehen zu filmen.
Apropos filmen – die Anzeige wegen Diebstahls war nicht die einzige, die Polizistin R. gegen Austen stellte. Sie zeigte sie außerdem wegen unerlaubten Filmens an – nach Paragraf 102 des Strafgesetzbuchs, also wegen „Verletzung des vertraulich gesprochenen Wortes“. Obwohl dieser Vorwurf am Dienstag nicht Teil der Anschuldigungen ist, kommt er in der Verhandlung mehrmals zur Sprache – für die Richterin ist das ein Grund, gleich mit darüber zu entscheiden.
Ob das gesprochene Wort, das Austen filmte, denn überhaupt vertraulich gewesen sei, weil doch sehr viele Menschen anwesend waren, möchte sie von der Polizistin R. wissen. R. versteht die Frage nicht.
Selbst die Staatsanwältin plädiert auf Freispruch. Und so entscheidet auch die Richterin: Freispruch in beiden Fällen. Schon nach Aktenlage sei es ihr unwahrscheinlich erschienen, dass Austen das Handy gestohlen habe. Den Strafbefehl habe sie dennoch unterschrieben, weil abzusehen war, dass die Staatsanwaltschaft sonst Widerspruch eingelegt hätte und es ohnehin zum Prozess gekommen wäre.
„Es ist nervig, dass man sich das als Bürger antun muss, obwohl man nichts gemacht hat“, sagt die Richterin. „Aber so funktioniert nun mal unser rechtsstaatliches System. Und ein besseres gibt es bislang nicht.“
„Ich bin froh und erleichtert über den Freispruch“, sagt Austen. Leider ändere er aber nichts an der Gesamtsituation. „Die rassistischen Kontrollen auf St. Pauli werden ja weitergehen.“
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