Analyse zur Lage in Ägypten: Mursi kann nicht gewinnen
Der ägyptische Präsident hat keine Basis, um jetzt einen Machtkampf mit allen anderen politischen Strömungen durchzuhalten. Ägypten wird keinen neuen Pharao mehr zulassen.
KAIRO taz | Der ägyptische Präsident Muhammad Mursi hat sich mit seinem Verfassungs-Dekret in eine Situation manövriert, aus der er und seine Muslimbrüder nicht ungeschoren davonkommen werden. Er kann dabei nicht gewinnen.
Nimmt er das Dekret zurück, in dem er seine Entscheidungen über das Gesetz stellt, dann ist das für ihn eine Niederlage, die dem öffentlichen Druck geschuldet ist. Zieht es das Ganze durch, dann droht er damit, die Lage in Ägypten zu eskalieren.
Mit einer Opposition, die gerade ihre Ränge gegen ihn schließt, und die Rücknahme des Dekrets zu ihrem gemeinsamen Nenner macht, können die Muslimbrüder dieser Eskalation nicht gewinnen.
Bei den Parlamentswahlen Anfang des Jahres hatten sie noch die Hälfte der Stimmen der Ägypter erhalten. In den Präsidentschaftswahlen im Sommer war Mursi gerade einmal von einem Viertel der Wahlberechtigten gewählt worden und hatte damit sehr knapp die Wahl gegen Ahmad Schafik, den Vertreter des alten Regimes gewonnen. Mit vielen Stimmen für ihn, die eigentlich gegen Schafik gedacht waren, gewann Mursi damals gerade mit einem Prozent Unterschied.
Keine solide Basis, um jetzt einen Machtkampf mit allen anderen politischen Strömungen durchzuhalten. Zumal die Zustimmung für die Muslimbrüder seitdem wahrscheinlich noch zurückgegangen ist. Mit einem von den Muslimbrüdern dominierten Parlament, das dann aufgelöst wurde und einem halben Jahr einem Muslimbruder als Präsident, ohne dass es mit dem Land am Nil politisch und wirtschaftlich wirklich entscheidend vorwärts gegangen wäre, ist der Stern der Muslimbrüden mit der wachsenden Ungeduld der Ägypter gesunken.
Innenpolitisch verkalkuliert
Also dachten sich Mursi und die Brüder, wir treten die Flucht nach vorne an. Der Zeitpunkt, glaubten sie, war günstig, hatte Mursis internationales Ansehen doch gerade durch die Vermittlung für einen Waffenstillstands-Deal zwischen der palästinensischen Hamas und Israel einen ungeahnten Höhepunkt erreicht. International rechneten sie nicht mit all zu viel Kritik. Dabei haben sich die Muslimbrüder aber offensichtlich innenpolitisch verkalkuliert.
Mit streikenden Richtern und einer Opposition, die sich seit ihrem gemeinsamen erfolgreichen Kampf gegen den obersten Militärrat noch nie so einig war, sind die nächsten 48 Stunden entscheidend, bevor Anhänger und Gegner am Dienstag nicht weit voneinander entfernt, alle ihre Kräfte auf der Straße mobilisieren werden.
Für die Muslimbrüder besonders erschreckend, selbst in der Provinz und in ihren Hochburgen im Nildelta kommt es inzwischen zu gewalttätigen Auseinandersetzungen vor ihren Parteizentralen.
Ginge es Mursi tatsächlich darum, wie er sagt, „die Revolution voranzubringen“ und endlich die Institutionen wie die Staatsanwaltschaft und Justiz von den Restposten des Mubarak-Regimes zu säubern und alle Prozesse neu aufzurollen, in dem Vertreter des alten Regimes und der Sicherheitskräfte nach dem Tod von Demonstranten ungeschoren davon kamen, dann wäre es für ihn ein leichtes gewesen ein breites politisches Bündnis aufzustellen, um das zu erreichen. Stattdessen argumentiert er, er müsse das nun im Alleingang durchziehen, indem er sich diktatorische Rechte zugesteht, von denen niemand weiß, ob die Muslimbrüder diese jemals wieder abgeben würden. Das weckt das Misstrauen aller anderen politischen Strömungen.
Jetzt ist alles möglich
Jetzt ist alles offen und möglich: Die Muslimbrüder könnten es auf eine Konfrontation ankommen lassen, von der sie sich aber ausrechnen können, dass sie sie nicht gewinnen können. Es wäre aber mit Sicherheit eine blutige Option für das Land.
Oder Mursi nimmt seinen Entschluss zurück. Um sein Gesicht zu wahren, könnte er auch einen Kompromiss anbieten. Er könnte weiter zusichern, dass den Opfern von Polizeigewalt Gerechtigkeit wiederfährt und dem Schreiben der Verfassung mehr Zeit geben, um einen gesellschaftlichen Konsens zu finden. Gleichzeitig müsste er aber seine neuen „Pharao“-Allüren und die gesetzliche Immunität seiner Entscheidungen wieder zurücknehmen. Das könnte er politisch überleben.
Wenn die letzten Tage in Ägypten etwas bewiesen haben, dann dass die Mehrheit der politischen Kräfte keinen neue Pharao mehr zulassen werden. Egal ob der Mubarak, oberster Militärrat oder Mursi heißt. Für die heiß umkämpfte demokratische Entwicklung des bevölkerungsreichsten arabischen Landes ist das eine gute Nachricht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Landesparteitag
Grünen-Spitze will „Vermieterführerschein“
Die Wahrheit
Herbst des Gerichtsvollziehers