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Analyse des gegenwärtigen KapitalismusDie Rückkehr der Gabe

Neue Gemein­schaftlichkeit oder neue soziale Spaltung? Die Soziologinnen Silke van Dyk und Tine Haubner analysieren einen „Community-Kapitalismus“.

Wenn die Zivilgesellschaft einspringen muss: Essensausgabe beim Verein „Menschen helfen Menschen“ Foto: Sebastian Wells/Ostkreuz

Die Community ist gut. Wo sonst Entfremdung, Bürokratie und Kälte herrschen, ist es in der Community wohlig warm. Das legt zumindest meist der Alltagsgebrauch des Begriffs nahe, sogar dann, wenn die Community nur digital auftritt. Doch Gemeinschaft ist nicht gleich Gemeinschaft. Es gibt antimoderne, nostalgische Bezüge von rechts, nichttraditionale Bezüge von links und immer öfter auch Anrufungen „sorgender Gemeinschaften“ seitens der offiziellen Politik.

Die Gemeinschaftsidee ist en vogue. Und lässt man die Perversion zur Volksgemeinschaft einmal kurz beiseite, gibt es an der Gemeinschaftsidee angeblich wenig zu kritisieren.

Silke van Dyk und Tine Haubner: „Community-Kapitalismus“. Hamburger Edition, Hamburg 2021, 176 S., 15 Euro

Doch, sagen die Soziologinnen Silke van Dyk und Tine Haubner in ihrem klugen Buch „Community-Kapitalismus“ und wollen zeigen, wie die Gemeinschaft(sidee) in der ökonomischen, sozialen und ökologischen Krise des neoliberalen Kapitalismus zur zentralen Ressource und Steuerungstechnologie wird.

Heißt: Der Kapitalismus stellt gerade wieder einmal seine Wandlungsfähigkeit unter Beweis, und damit geht es um die „Erschließung neuer, nicht kommodifizierter Räume und neuer Trägergruppen nicht regulär entlohnter Arbeit“.

Krise des neoliberalen Kapitalismus

Ging es in der Analyse des neoliberalen Kapitalismus nicht gerade noch um das unternehmerische Selbst, das selbstoptimiert und eigenverantwortlich in Konkurrenz zu anderen steht? Ja, im Übergang von der wohlfahrtsstaatlichen Disziplinargesellschaft zur neoliberalen Kontrollgesellschaft ist eine Ökonomisierung des Sozialen beobachtbar. Doch die Rede von der Ökonomisierung des Sozialen greift den Autorinnen zu kurz.

Vielmehr erlebten wir „eine Neuausrichtung der sozialen Reproduktion, in der die Grenzen von Markt, Staat, Familie und Zivilgesellschaft mit ihren jeweiligen Steuerungslogiken neu vermessen werden“. Grund dafür sei die Hegemoniekrise des Neo­liberalismus (spätestens seit der Finanzkrise) sowie die Krise der sozialen Reproduktion (familialer und demografischer Wandel, Wohlfahrtsstaatsabbau) und die Digitalisierung (neue Vergemeinschaftungen).

Der kooperative Aspekt neuerer Arbeitsformen und die Ausbeutung des so genannten „Gemeinsamen“ ist von einigen (post-)operaistischen Theo­re­ti­ke­r:in­nen bereits mit dem Begriff immaterielle Arbeit analysiert worden.

Van Dyk und Haubner schließen daran an (wie auch an die Forschung zur Care-Arbeit) und möchten nun eine weitere Verschiebung herausstellen, nämlich die Adressierung „gemeinschaftsförmiger (Selbst-)Hilfepotenziale der Zivilgesellschaft“ – weshalb sie von „Community-Kapitalismus“ sprechen.

Lösung der sozialen Frage

Ist es also kein Zufall, dass das Lob des Engagements, des Gemeinsinns und der gegenseitigen Hilfe uns überall entgegenschallt? Man denke nur an die Pandemie und die Flutkatastrophe, die gegenseitige Hilfe jenseits entlohnter Arbeit notwendig werden ließen.

Wo viel gelobt wird, wird auch viel verschleiert, denn wo „Arbeit in Hilfe, Freizeit, Freiwilligkeit, Gemeinsinn oder Liebe umdefiniert wird“, wo also Ressourcen der Zivilgesellschaft aktiviert werden, um Lücken der staatlichen Versorgung zu schließen, so die Autorinnen, wurde die Lösung der sozialen Frage in die Hände der Zivilgesellschaft gelegt.

Van Dyk und Haubner geht es nicht um eine pauschale Verurteilung von Freiwilligenhilfe oder von Alternativökonomien (trotz unzureichender Kapitalismusanalyse), wie sie immer wieder betonen. Aber sie wollen zeigen, wie sich entlang von Posterwerbsarbeit eine Neuausrichtung des gegenwärtigen Kapitalismus vollzieht. Dafür haben sie empirisch Formen von Freiwilligenarbeit, nicht entlohnte Mehrarbeit und vor allem nicht regulär entlohnte Arbeit in der Pflege oder auf digitalen Plattformen untersucht.

Sie können klar belegen, wie beispielsweise der Abbau sozialer Sicherungen und Kosteneinsparungen auf kommunaler Ebene oder im Gesundheits- und Pflegebereich mit der Aufwertung des Gemeinwohldienstes, also freiwilliger Arbeit, einhergehen. – Mit entsprechenden ideologischen Implika­tio­nen, wie der Überzeugung etwa, dass Engagement nichts mit Ökonomie zu tun habe, gar das Gegenteil einer zunehmenden Ökonomisierung sei. Die Thematisierung der Deprofessionalisierung von Arbeit, von neuen Abhängigkeitsverhältnissen und Interessensgegensätzen fallen da hinten runter.

Vergiftete Früchte

Was als soziale Frage adressiert wurde, werde in eine Frage fürsorglicher Gemeinschaften umgedeutet und soziale Rechte in soziale Gaben überführt. Die Autorinnen problematisieren diesen Aspekt sehr schön mit dem Philosophen Roberto Esposito, der mit der Gabe verbundene Abhängigkeitsverhältnisse herausstellte und im Vertrag (und Recht) die zentrale Institution des „immunitären Projekts der Moderne“ ausmachte, welches die „vergifteten Früchte“ der Gabe aufhebe.

Van Dyk und Haubner lesen die Verlegung der sozialen Frage in die Zivilgesellschaft als „unausgesprochene Wiederkehr der Gabe in den sozialpolitischen Diskurs“.

Wollen sie also zurück zum Wohlfahrtsstaat – zu Normalarbeitsverhältnissen, Normalbiografien und Kleinfamilie und den damit verbundenen Reproduktionsverhältnissen? Freilich wollen sie das nicht. Der normierende Wohlfahrtstaat ist nicht, wie sie betonen, die inkludierende, sicherheitsstiftende Antwort auf die soziale Frage.

Aber – und das unterscheidet ihren von vielen anderen linken Ansätzen, wie zum Beispiel, wer sich erinnert, dem konvivialistischen Manifest von Chantal Mouffe, Eva Illouz etc., auf das sie Bezug nehmen – sie halten es für einen groben Fehlschluss, „die freiheitsverbürgende und autonomiestiftende Funktion sozialer Institutionen und sozialer Rechte“ geringzuschätzen.

Emanzipation verorten sie nicht einfach in Gegenbewegungen von unten, sondern heben die autonomiegebende Funktion sozialer Rechte und ihrer Institutionalisierung hervor, eben weil diese von moralischen Beziehungen abstrahierten. Es gelte diese zu universalisieren, statt sie auszuhöhlen.

Ein starkes Plädoyer

Augenfällig wird diese Notwendigkeit auch – wenn man hier anschließen wollte – in den prekarisierten Arbeitsverhältnissen der Plattformökonomien. Erst kürzlich verkündete der Chef des Lieferdienstes Gorillas, Entlassungen wären „im Interesse der Community“.

Aber das ist nur ein Aspekt der von Haubner und van Dyk beschriebenen Konstellation, die aus der Verbindung von Posterwerbsarbeit und Gemeinschaftspolitik hervorgeht. Ihr Buch ist eine wichtige Ergänzung zur Analyse des gegenwärtigen Kapitalismus und ein starkes Plädoyer für eine staatlich garantierte, aber strikt vergesellschaftete Infrastruktur.

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6 Kommentare

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  • Der Kapitalismus ist nicht der erste Ansatz, wie man den wert der gemeinschaft ausnutzt und umwertet.



    Das hat die organisierte Religion sowie andere Ideologien/Dogmen die letzten 7000 jahre auch schon gemacht.

    Das die Bürger endlich diese umwertung und ausbeutung realisieren, befreit die anderen akteure (wie den staat und alle partizipierenden objekte) nicht von ihrer sozialen verantwortung!



    Es ist nur ein stetes wachsendes bewusstsein der zivilgesellschaft auszumachen, ohne das eine demokratie auch nicht funktionieren würde.



    Der Kapitalismus (unsere zeitgenössiche egozentrik) versucht natürlich, dieses bewusstsein für sich zu nutzen.

    hier wird also viel (anti-)kapitalistischen aufhebens um etwas gemacht, was nicht eindeutig dem kapitalismus zuzuordnen ist oder überhaupt neu wäre.



    Natürlich sind gewisse formen der gemeinschaft neu und dies bringt auch neue formen der ausbeutung von gemeinschaft mit sich. aber das grundprinzip ist das selbe, wie vor 7000 jahren oder gar noch früher.

    Die Kirche oder der König erheben steuern oder pflichten und geben es für krieg aus oder paläste und sagen, es wäre gut für das allgemeinwohl. anstatt in bildung, armutsbekämpfung sowie kulturellen austausch zu investieren.

    Das Fazit ist auch unnötig verkompliziert und dekadent hier!



    Denn natürlich sind nicht nur die zivilgesellschaftlichen bewegungen relevant, sondern alle dinge, die für eine zivilisierte und aufgeklärte welt stehen. Wer da wie sehr mitspielt, das gilt es immer wieder zu überprüfen und sicher zu stellen.

    SOZIALE und AUFGEKLÄRTE Kultur, Bildung, Gesetzgebung, Reflektion und Reformation - all das sind notwendige teile der Zivilisation - um die primitive asoziale egozentrik & verwertung der dinge, zu einem hochgradig sozialen & aufgeklärten gemeinwesen zu transformieren.

    Von dem unbewussten ungenauen und oft grausamen natürlichen zustand, zu dem bewussten, genauen und inklusivem zustand.



    Das der Kapitalismus zu ersterem gehört, das sollte egtl jedem klar sein.

  • Ein schönes Beispiel habe ich mal vor Jahren erlebt. Bei mir in der Nähe ist eine Einrichtung für sozial beachteiligte Jugendliche, die dort für die Ausbildung fit gemacht werden. Ich bin vorbei gekommen und habe gefragt, ob ich auf ehrenamtlicher Basis den Jugendlichen Grundwissen über Informatik näher bringen dürfe. Die waren so begeistert, dass sie mich gefragt haben, ob ich ehrenamlich gleich die ganze IT der Einrichtung betreuen würde. Da habe ich denen einen Vogel gezeigt und geraten, sie mögen doch dafür jemanden einstellen.

  • Der selbe Tanz um das goldene Kalb wie bei vergleichbaren Arbeiten. Und dabei geflissentlich ignorieren, dass es völlig schnuppe ist, ob ein erheblicher Teil des Einkommens umverteilt wird für Soziales oder ob das nicht passiert, die Leute dementsprechend weniger arbeiten müssen und dann mehr Zeit für Soziales haben.

  • "Der Kapitalismus stellt gerade wieder einmal seine Wandlungsfähigkeit unter Beweis"

    Der Kapitalismus ist in seinem Lauf so wenig wandlungsfähig wie fließendes Wasser, es sucht sich nicht aktiv sondern reaktiv seinen Weg nach dem Prinzip geringstem Widerstandes, jedes Hindernis führt reaktiv zu Stau.

    Klug in seinem lauf verstanden lässt sich Wasser dahin deregieren, kanalisieren, wo es gebraucht wird, wo es für Menschen, Tiere, Pflanzen, Umwelt universal Nutzen generiert, Bedürfnisse bedient.

    Dass dem Kapitalismus Seelenleben eingehaucht wird, selber aktiv zu sein, ist ein altes Narrativ aus klerikal-säkular despotischen Zeiten, an dem immer wieder wider besserem Wissen beharrlich festgehalten wird, in vorsätzlich systemisch organisierter Verantwortungslosigkeit im Umgang mit Fließkräften Kapitals, wenn es zu Schäden kommt, nicht sich sondern diesen Fließkräften Kapitals die Schuld zuzuweisen

    Was sind die Bestandteile von Wasser?



    Wasser (H2O) ist eine chemische Verbindung aus den Elementen Sauerstoff (O) und Wasserstoff (H). Die Bezeichnung Wasser wird besonders für den flüssigen Aggregatzustand verwendet. Im festen, also gefrorenen Zustand, wird es Eis genannt, im gasförmigen Zustand Wasserdampf oder einfach nur Dampf.

    Im Unterschied zum Wasser, der Verbindung von Wasser-, Sauerstoff, wird der Kapitalismus aus Verbund Soziales, Gemeinwesen, Umwelt, Wirtschaften herausgelöst als frei flotierend hochreaktives Radikal. In sozialem Kontext wirkt Kapital als der Idiot, oder weißer Elefant im gesellschaftlichen Raum, weil er sich privatim abgrenzt a Konto abseits steht, reaktiv nur auf sich bezieht

    • @Joachim Petrick:

      Statt ‚Wandlungsfähigkeit‘ hätte ich in dem Artikel ‚Anpassungsfähigkeit‘ formuliert. Gleichwohl kann sich Wasser auch wandeln, indem es unterschiedliche Aggregatzustände annimmt und es ist auch in seiner molekularen Struktur für manche Überraschung gut. Im Unterschied zum Kapitalismus ist es allerdings geschlechtsneutral und bietet damit etwas weniger genderspezifische Angriffsfläche als dieser. Sicnr.



      Was nichts daran ändert, dass der Kapitalismus wie auch das Wasser nun mal da ist. Das war so, ist so und wird nolens volens so bleiben (alles je nach Zeit und Ort mehr oder weniger ausgeprägt). Wie das Wasser. Trotz gut gemeinter und sinnvoller Utopien, ihn abzuschaffen. Utopien sind schließlich auch Anpassungsleistungen an die Realität. Wie Sie bereits schrieben: die Eigenschaften und Möglichkeiten des Wassers sollten klug und menschheitsdienlich kultiviert werden, was ich auch als einzige Option sehe, mit dem Kapitalismus zu leben.



      Btw: Ihren Kapitalismusbegriff habe ich versucht, aus ihrem Text zu verstehen. Persönlich glaube ich nicht, dass es in der Realität ‚den Kapitalismus‘ gibt. Es gibt mE viele, teilweise sehr unterschiedliche, ‚Kaptitalismen‘. Sich auf einen theoretisch gültigen Kapitalismusbegriff zu einigen, hieße aus meiner Sicht, ihn für die real existierenden Kapitalismen praktisch weitestgehend ungültig zu machen

  • Wenn sich Philosophen äußern, dann immer gern mit "bunter Prosa". Die Realität ist und bleibt jedoch eine graue Suppe. Die Sehnsucht nach Veränderung vermischt mit der Gegenwart.



    Natürlich sind wir gegen Ausbeutung und viele würden Amazon und Co. auf den Mond schießen. Doch ändern wir deshalb unser Verhalten? Wir sind gegen existenzielle Armut. Doch würden wir deshalb dem Nachbarn jeden Monat eine Geldspende vorbei bringen?



    Die Millionäre kapseln sich immer weiter ab und bringen sowohl ihr Geld als auch ihr Leben in "Sicherheit". Die untere Schicht sickert immer mehr gen Nullpunkt. Und die Mittelschicht übt sich stolz damit, dass man in 'Communitys' gutes tut. Drei-Klassen-Gesellschaft damals wie heute .. und in der Zukunft.