Alternativer Gipfel: Neue Impulse für Klimabewegte
Über 30.000 Teilnehmer kamen zum Gegengipfel in Bolivien. Der Austausch unter Gleichgesinnten stand im Vordergrund. Dissidenten mussten draußen bleiben und fanden doch Gehör.
COCHABAMBA taz | Es ist Donnerstagnachmittag. Auf dem Campus der Valle-Universität im bolivianischen Tiquipaya, wo in den letzten vier Tagen die meisten Veranstaltungen des alternativen Klimagipfels stattgefunden haben, herrscht Aufbruchstimmung. Die Menge strömt bereits in Richtung Fußballstadion im nahe gelegenen Cochabamba, wo in wenigen Stunden die von über 17 Arbeitsgruppen ausgearbeitete Abschlusserklärung verlesen wird. Dort wird der venezolanische Präsident Hugo Chávez die "Erpressungspolitik" der US-amerikanischen Regierung geißeln, die Ecuador und Bolivien wegen eigenständiger Positionen in der Klimapolitik bereits zugesagte Gelder entzogen hat.
Über 35.151 TeilnehmerInnen hatten sich im Lauf der Woche akkreditiert, die meisten aus Bolivien. 9.254 Personen waren aus 141 Ländern angereist. Der Ansturm hat die Organisatoren überrascht. Doch hat sich der Aufwand gelohnt?
"Auf jeden Fall", sagt Tadzio Müller. Der lang gewachsene 33-jährige Umweltaktivist aus Berlin - schwarzes T-Shirt, schwarze Shorts, kurzer Vollbart - sitzt inmitten einer Handvoll Aktivisten auf der Wiese vor dem Fachbereich Kultur.
Radikale Erklärung: Die Ergebnisse aus insgesamt 18 Arbeitsgruppen flossen in eine 10-seitige Abschlusserklärung ein, die in vielem radikaler ist als die Praxis der lateinamerikanischen Linksregierungen. So wird das Agrobusiness, das Lebensmittel für den Markt, aber nicht für die Ernährung aller Menschen produziere, als einer der Hauptverursacher des Klimawandels bezeichnet.
Die Kritik: Agrotreibstoffe, Emissionshandel, Gentechik, Geo-Engineering oder Monokulturen seien allesamt falsche Lösungen im Kampf gegen den Klimawandel, heißt es weiter. Durch große Infrastruktur- und Bergbauprojekte würden indianische und bäuerliche Gemeinschaften in ihrer Existenz bedroht
Die Forderungen: An die Industrieländer wird die Forderung gerichtet, ihren CO2-Ausstoß bis 2020 zu halbieren und 6 Prozent ihres jährlichen Haushalts in einen Weltklimafonds einzuzahlen. In einem weltweiten Referendum soll darüber abgestimmt werden, ob die Verteidigungsausgaben nicht lieber für den Klimaschutz umgewidmet werden sollten.
Das Klimagericht: Schließlich sollten Unternehmen und Regierungen vor einem zu gründenden Weltklimagerichtshof verklagt werden können. (dil)
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Vor Ort in Cochabamba ist Tadzio Müller vom Klimanetzwerk "climate justice action". Er berichtet im Blog auf bewegung.taz.de, mit einem kritischen Blick darauf, ob sich der Gipfel zu einer wirklichen Alternative entwickelt hat.
Gerade hat er mit seinen Mitstreitern vom Netzwerk Climate Justice Action (CJA) einen Workshop organisiert, zu dem an die 100 Leute gekommen seien. Thema: die globale Klimaaktionswoche im Oktober, an der sich auch der Kleinbauerndachverband Vía Campesina und Kampagnengruppen wie 350.org beteiligen.
"Die Tage hier waren für mich interessant und produktiv", sagt Müller, der sich sehr an die Weltsozialforen in Brasilien erinnert fühlt. Der Austausch von Gleichgesinnten steht im Vordergrund, kontroverse Debatten sind eher die Ausnahme.
Die Stimmung auf dem Unigelände ist entspannt: Hunderte drängen sich an Ständen vorbei, an denen vegetarisches Essen, Politliteratur und Kunsthandwerk angeboten werden. Junge Künstler bemalen eine Stellwand, andine Folkloregruppen musizieren, eine Rapperin aus El Alto im Andenhochland trägt ihre Stücke vor. Auf schattigem Rasen ruhen sich farbenfroh gekleidete Indianerfrauen aus.
Doch der deutsche Aktivist hat kaum Zeit, um dieses Ambiente zu genießen. Immer wieder verteilt er die letzte Ausgabe des globalisierungskritischen Blatts Turbulence aus London, bei dem er Redakteur ist. Als eine Aymara-Frau mehrfach ein Exemplar einfordert, "um Englisch zu lernen", lässt er sich schließlich lächelnd breitschlagen.
Seitdem Müller während des UN-Klimagipfels in Kopenhagen vier Tage lang in Haft war, ist er ein Star der Szene. Ständig wird er angesprochen. Gegenüber einem chilenischen Filmteam definiert er sich in gutem Spanisch und mit ausladender Gestik als Postautonomer, dem das Abgrenzungsgehabe früherer Autonomengenerationen fremd sei. Am "Green New Deal" sei vor allem die Wachstumsprämisse problematisch - Ähnliches gelte für die Fortführung umweltschädlicher Bergbau- oder Erdölprojekte der lateinamerikanischen Linksregierungen.
Deswegen sympathisieren Leute wie Müller etwa mit der regierungskritischen Arbeitsgruppe 18, die sich mit den fatalen Folgen von Großprojekten in Bolivien beschäftigt. Auf Anweisung von oben muss sie außerhalb des Campus tagen, doch so leicht lassen sich die Indígenas nicht austricksen. Einer ihrer Strippenzieher, der Aymara Rafael Quispe, ist zugleich Kovorsitzender einer "offiziellen" Arbeitsgruppe. So findet sich die zentrale Forderung der Dissidenten, nämlich die verbindliche vorherige Befragung der Betroffenen, schließlich doch in der Abschlusserklärung wieder.
"Einen großen Unterschied gibt es zu den Weltsozialforen", sagt Tadzio Müller, "das Gewicht der hiesigen Regierung ist viel stärker." In manchen Arbeitsgruppen wollten Funktionäre die Debatten steuern, doch der bolivianische Vorstoß zur Gründung einer neuen Dachorganisation unter Einbeziehung der sozialen Bewegungen sei zum Scheitern verurteilt: "So etwas muss das Ergebnis eines Prozesses sein, nicht sein Anfang."
Aber im Grunde fehlt ihm sowieso das Sitzfleisch für die mehrstündigen Sitzungen der Arbeitsgruppen. "Das ist einfach unbearable, da drinzusitzen. Meine Stärke ist nicht das Zuhören oder die lokale Basisarbeit, sondern das Vernetzen", sagt er, mit dem polyglotten CJA-Team gebe es da eine "gute Arbeitsteilung".
Arbeitsteilig werden nun auch die Aktivisten und die Linksregierungen vorgehen: Bolivien, Kuba und Venezuela haben versprochen, das "Abkommen der Völker" von Cochabamba im Vorfeld des kommenden UN-Klimagipfels einzubringen, der im Dezember im mexikanischen Seebad Cancún stattfindet.
Auch wenn Tadzio Müller Gipfeltreffen und Präsidentenreden kalt lassen, beim alternativen Klimagipfel in Cochabamba ist ihm klar geworden: "Wir dürfen Cancún nicht ignorieren, sonst isolieren wir uns zu sehr." Evo Morales sagt: "Dort müssen wir überzeugen, erklären, überreden und uns Gehör verschaffen, wir müssen uns auf der ganzen Welt vervielfältigen, um die Industrieländer dazu zu zwingen, die Positionen der sozialen Bewegungen zu respektieren. Und Hugo Chávez spricht bereits von der "Schlacht von Cancún".
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