Alte weiße Männer ohne Manieren: Einfach mal den Schnabel halten
Im US-Wahlkampf soll das Mikrofon eines Kandidaten stummgeschaltet werden, während der andere spricht. So weit ist es also gekommen?
Die erste Debatte zwischen Donald Trump und Joe Biden im US-Präsidentschaftswahlkampf war ein Desaster. Ständig unterbrachen die beiden Bewerber einander, schrien dazwischen, beleidigten – es fehlte im Grunde nur noch, dass sie sich strampelnd auf den Boden warfen. Daher wird bei der nächsten Debatte am kommenden Donnerstag der Moderator die Möglichkeit erhalten, den Kandidaten vorübergehend die Mikrofone stummzuschalten.
Natürlich erscheint es im ersten Moment bitter, dass man von zwei erwachsenen Männern quasi erst die Sandschäufelchen einkassieren muss, damit sie nicht sich selbst und andere verletzen, und um ihnen klarzumachen, dass es so einfach nicht geht. Doch vielleicht wird die neue Methode ja richtungsweisend. Dann wäre das schändliche Treiben am Ende doch zu etwas gut gewesen.
Indische und fernöstliche Meditationstechniken haben es uns vorgemacht. Achtsamkeit, die Rückbesinnung auf sich selbst, den eigenen Körper, Geist und Atem zeigt und reproduziert zugleich die eigene Stärke. Das funktioniert am besten, wenn Ruhe herrscht und allenfalls mit sanfter Stimme unsere Yogalehrerin spricht. Oder, wie es meine cholerische Lateinlehrerin, Frau Holicke, einst so unnachahmlich auszudrücken pflegte: „Einfach mal den Schnabel halten.“ Zeitnah gefolgt meist von der nächsthöheren Sanktionsstufe: „Ulrich! Raus!!“
Wir können aus all dem so viel lernen: Wer auf sich achtet, achtet besser auf andere; wer auf sich hört, hört besser auf andere; wer sich liebt, kann andere mehr lieben. Es ist so schön, dass zwei scheinbar nutzlose, unwürdig krakeelende Greise über Umwege zwar, doch immerhin, zu Wegbereitern großartiger Erkenntnisse werden.
Rohe Dezibelgewalt
Die technischen Mittel heutzutage machen das Ausblenden der Undiszipliniertheiten ja auch viel eleganter möglich. Wo man renitente Elemente früher noch mit roher Dezibelgewalt vor die Klassenzimmertür befördern musste, wird ihnen heute einfach der Saft abgestellt.
Wenn die Schulklassen eines Tages wieder zu Hause vor ihren fünfundzwanzig Zoom-Kächelchen unterrichtet werden müssen, dann wird eine moderne Frau Holicke, eine echte Digital Native, die Störenfriede einfach kraft ihrer Moderatorenposition stummschalten.
Auch unsere Lesebühne wurde im März pandemiebedingt per Jitsi-Konferenz übertragen. Für die meisten von uns war das eine völlig neue Situation. Wer gerade am lautesten schrie, tauchte jeweils in einer blauen Umrandung auf. Das Programm wertet ihn als die sprechende Person. So eine blaue Aura finde ich eigentlich ganz schön – die könnte ich mir auch gut fürs Real Life vorstellen.
Da wir keinen offiziellen App-Moderator bestimmten, konnten wir uns nur selbst stummschalten. Aber auch das ist wichtig: nicht nur andere, sondern ruhig auch mal sich selbst herunterregeln. Denn es war ja nicht so, dass wir einander übel ins Wort gefallen wären – dazu sind wir zu zivilisiert und höflich. Das geschah allenfalls unabsichtlich beim Versuch, so etwas wie launige Dialoge in die Zwischenmoderation zu flechten.
Doch das Rumpeln der Stühle, weil ständig einer aufs Klo, ans Fenster zum Rauchen, zum Bierkühlschrank latschte, das Husten, Rülpsen, Ploppen der Kronkorken und die Randale noch nicht zur Nachtruhe bereiter Kleinkinder im Hintergrund nerven ja ebenfalls. Anfangs vergaß man oft, sich danach wieder zuzuschalten, sodass alle in ein digitales Aquarium voller lautlos die Mäulchen öffnender und schließender Menschenfische blickten. Aber das war nicht schlimm. Besser einmal zu lang gemutet als einmal zu kurz. Weniger ist mehr.
Was schön wäre
Das mag auch eine Altersfrage sein, aber es wäre überhaupt schön, wenn in jeder Lebenslage viel mehr Ruhe herrschte. Abgesehen von Kehlkopfmikrofonen quasseln, singen, schreien die Leute im Normalfall leider weiter analog. Das wird sich hoffentlich bald ändern. Dann gucken wir immerzu durch Ferngläser, sprechen durch Mikros und pupen durch Auspuffanlagen.
Was Trump betrifft, geht mir persönlich der „mute button“ ja noch längst nicht weit genug. Einen „shock button“ fände ich super. Jeder, der dazwischenquatscht, kriegt vom Moderator erst mal einen Stromstoß. Wäre doch gelacht, wenn das die Herrschaften nicht konditionieren wird.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kanzler Olaf Scholz über Bundestagswahl
„Es darf keine Mehrheit von Union und AfD geben“
Weltpolitik in Zeiten von Donald Trump
Schlechte Deals zu machen will gelernt sein
Einführung einer Milliardärssteuer
Lobbyarbeit gegen Steuergerechtigkeit
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Trump macht Selenskyj für Andauern des Kriegs verantwortlich
Wahlarena und TV-Quadrell
Sind Bürger die besseren Journalisten?
Werben um Wechselwähler*innen
Grüne entdecken Gefahr von Links