Alle im Widerstand wie Sophie Scholl?: Bewegt auf fremde Kosten
Das Instagram-Projekt „@ichbinsophiescholl“ ist beendet. Es eröffnete einen Identifikationsraum, der nicht der historischen Realität entspricht.
Die öffentlich-rechtlichen Sender haben Erfahrung mit Erinnerungskitsch. Paradebeispiel ist der ZDF-Dreiteiler „Unsere Mütter, unsere Väter“ aus dem Jahr 2013, den man sicherlich treffend mit dem Satz „Nazis sind immer die anderen“ zusammenfassen kann. Die Geschichte dreht sich um fünf Freund:innen, die als unpolitisch gezeichnet werden. Sie waren selbstverständlich keine Nazis (einer von ihnen ist sogar Jude), sondern junge Menschen, die vom Krieg eingeholt werden. Diese fünf Menschen sollen stellvertretend stehen für (Groß-)Mütter und (Groß-)Väter einer mehrheitsdeutschen Gesellschaft: Unschuldige, die eigentlich nur leben wollten.
Empfohlener externer Inhalt
Kitsch ist aktuell auch die ARD-Serie „Nazijäger – Reise in die Finsternis“, ein „bewegender Film“, wie NDR-Intendant Joachim Knuth schreibt. „Nazijäger“ ist eine Mischung aus Doku, Drama und Fiktion, in der zwei Geschichten miteinander verwoben werden zu einem „bewegenden Fernsehspiel“. Man kann es herunterbrennen auf den Satz: Es geht um Gefühle. Zuschauer:innen zu bewegen reicht den Öffentlich-Rechtlichen aber nicht mehr, Historie muss „erlebbar“ werden, vor allem für junge Menschen. Dieses Ziel hatte das Instagram-Projekt „@ichbinsophiescholl“ von SWR und BR, das die letzten zehn Monate der jungen Frau „emotional, radikal subjektiv und in nachempfundener Echtzeit“ nachzeichnete. Gestartet war es am 4. Mai 2021, dem Tag, als die echte Sophie Scholl nach München reiste, um ihr Studium der Philosophie und Biologie zu beginnen.
Genau 79 Jahre nach der Verhaftung von Sophie Scholl und ihrem Bruder Hans endete am 18. Februar die Instagram-Serie. In den letzten Stories blickte Insta-Sophie in die Kamera, ihre Augen füllten sich mit Tränen, während im Hintergrund Joseph Goebbels sogenannte Sportpalastrede aus dem Radio zu hören war. „Wir sind in Haft“, verkündete Insta-Sophie noch, danach verstummte sie. Bis zum Jahrestag ihrer Hinrichtung am 22. Februar wurden auf dem Account Fotos und historische Einordnungen gepostet.
Zuletzt folgten über 750.000 Menschen „@ichbinsophiescholl“. Erfolgreich emotionalisierte Follower:innen drückten in den Kommentaren ihr Mitgefühl aus oder warnten Insta-Sophie zuletzt vor ihrem Tod. Außerhalb der Community gab es viel Kritik an dem Projekt. Bereits zum Start kritisierte die Leiterin des Kompetenzzentrums für Prävention und Empowerment der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland und Geschäftsführerin des Vereins Ofek Marina Chernivsky in der taz, „das deutsche Narrativ und die gefühlte Opferschaft“, die vermittelt werde. Auf die Schwächen „radikaler Subjektivität“ wies Journalistin Nora Hespers auf Übermedien hin. Um das Leben einer historischen Figur nachzustellen, werde auf historische Tiefe verzichtet. Um Sophies Leben erfahrbar zu machen, stellte das Projekt Gefühle ins Zentrum und entpolitisierte so ihre Geschichte. Das wird der echten Sophie Scholl nicht gerecht. „Wir erleben eine nahezu naive Inszenierung einer jungen Studentin“, schrieb Hespers.
Gleichzeitigkeit abbilden
Ulrich Herrmann, einer der drei Hauptverantwortlichen der Instagram-Serie, wies solche Kritik im Spiegel zurück. „Seit Beginn der Serie wirft man uns eine Entkontextualisierung ihrer Person vor. Aber was wir machen, ist Fiktion – auf der Basis einer realen Figur“, sagte er. Aus seiner Sicht sei das Projekt gelungen.
Völlig daneben ist die Idee hinter „@ichbinsophiescholl“ ja nicht. Die Frage, wie gerade junge Menschen für das Thema Shoa und Nationalsozialismus interessiert werden können, verlangt vor dem Hintergrund, dass vielen nicht einmal mehr Auschwitz ein Begriff ist, neue und kreative Antworten. Nach zehn Monaten radikaler Subjektivität ist klar, dass das Problem nicht Instagram als Format ist, sondern eine Erzählweise, die bewusst auf Auslassungen setzt. Zwar hatte das Team versucht, diese Kritik im Verlauf des Projekts umzusetzen und unter dem Hashtag #TeamSoffer in den Kommentaren historische Informationen zu liefern. Aufklärungsarbeit blieb aber zum großen Teil weiterhin an einzelnen Personen der Community hängen, wie dem Instagram-Profil „@nichtsophiescholl“, das aus einer Kritik am Original heraus entstanden war.
Dem Projekt hätte es gut gestanden, Gleichzeitigkeit abzubilden. Zu verdeutlichen, dass, während die Geschichte der Insta-Sophie beginnt, sie voller Vorfreude auf ihr Studium in München ist, im Zug sitzt und sich Gedanken macht über einen verwundeten Soldaten, der ihr gegenüber sitzt, zur selben Zeit 1942 Transporte Jüdinnen und Juden in Vernichtungslager bringen. Auf dem Profil hieß es dazu lediglich: Was mit Jüdinnen und Juden geschehe, „werden wir erfahren, wenn wir den Krieg verloren haben“. Die systematische Entrechtung jüdischer Menschen bezeichnete Insta-Sophie als „Ausgrenzung“ und schrieb, Hitler mache seit 1933 Jüdinnen und Juden das Leben in Deutschland „sehr schwer“. Solche verharmlosenden Kommentare reihen sich ein in die längst widerlegte Behauptung, man habe von alledem nichts gewusst.
Es sei sehr schwer zu sagen, was die echte Sophie Scholl wann genau wusste, da sie nicht darüber schrieb, sagt Maren Gottschalk der taz. Sie hat die aktuellste Biografie über Scholl geschrieben und das Projekt als eine von mehreren Expert:innen im Vorfeld beraten. Gottschalk sagt auch: „Sophie Scholl wusste sicherlich von Deportationen und spätestens 1942 von Ermordungen von Juden.“ Selbst wenn Scholl nicht darüber schrieb, wird sie mitbekommen haben, dass Nachbarn und Schulkameradinnen verschwanden, Jüdinnen und Juden auf den Straßen gedemütigt und ihre Geschäfte geschändet wurden.
Hitlerjugend als „schönste Zeit“
Insta-Sophie suggeriert in der Folge ein verzerrtes Bild widerständiger Deutscher. Es wirkt, als habe eine ganze Generation aufbegehrt. Das spiegelt sich auch in den Kommentaren wider: Unter einem Post zur Hitlerjugend und zum Bund Deutscher Mädel (Scholl war einige Zeit begeistert Mitglied) teilten User:innen ihre Dankbarkeit in Form von Kalendersprüchen mit. „Fehler macht jede/r“ oder „Verzeihe dir selbst, dann hast du die Kraft dich neu zu erschaffen (Herz-Emoji)“, heißt es da. Daneben werden Erzählungen über den eigenen Opa, für den die Hitlerjugend die „schönste Zeit“ seines Lebens war, geteilt.
Mehrheitsdeutsche Nachfahr:innen imaginieren sich schon lange als Widerständler:innen. Jede:r Fünfte glaubt, dass die eigenen Vorfahren zur Zeit des Nationalsozialismus Jüdinnen und Juden oder anderen Verfolgten geholfen hätten. Somit bekommt der Name des Accounts etwas entlarvendes. „@ichbinsophiescholl“ wörtlich verstanden, eröffnet einen Identifikationsraum, der nicht der historischen Realität entspricht. Im Widerstand waren nur die wenigsten Deutschen. „Wir können nicht kontrollieren, wie Menschen Erinnerungskultur verarbeiten und was sie mitnehmen“, sagt Gottschalk. Daher müsse man die Geschichte so unmissverständlich wie möglich erzählen. Dem Projekt ist das nicht gelungen.
Unter den letzten Posts auf Instagram finden sich unzählige dankbare Nachrichten: „Man weiß wie die Geschichte endet, aber es so mit zu erleben ist Wahnsinn“. Oder: „Dieses Projekt ist meiner Meinung nach das Beste, was Social Media je hervorgebracht hat.“ Die Geschichte von Sophie Scholl und der Weißen Rose muss erzählt werden. Problematisch wird es, wenn dabei Perspektiven der Verfolgten und Entrechteten nicht vorkommen. Das Projekte hat bewegt und die Tradition von öffentlich-rechtlichem Erinnerungskitsch souverän weitergeführt. Die Frage ist nur, auf wessen Kosten.
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