All-Age-Roman „Mehr Schwarz als Lila“: Ein gehässiges Spiel
Ein Kuss in Auschwitz, sofort im Netz geteilt: Lena Gorelik stellt in ihrem neuen Roman moralische Stilfragen für Junge und Alte.
Spätestens seit Wolfgang Herrndorfs Roman „Tschick“ hat sich auch hierzulande die Erkenntnis durchgesetzt, dass es sogenannte Jugendbücher gibt, die auch für Erwachsene interessant sind. Tatsächlich giert der Buchmarkt inzwischen nach solchen All-Age-Romanen, aber jenseits von Fantasy und anderer Genre-Literatur finden sich nur selten Manuskripte, die den Ansprüchen der Lektorate gerecht werden.
„Mehr Schwarz als Lila“ heißt der neue Roman der 1981 in St. Petersburg geborenen und seit 1992 in Deutschland lebenden Autorin Lena Gorelik, der dieses Wagnis erneut unternimmt. Gorelik wählt dabei einen sehr eigenen und überzeugenden schriftstellerischen Weg.
Am Anfang waren drei Freunde. Ratte, die natürlich anders heißt, der introvertierte Paul, der mit seinem Namen ganz zufrieden ist, und Erzählerin Alexandra, die wiederum nur Alex genannt wird. Das Dreigespann verbindet eine innige Freundschaft, die weit über den Austausch von Musik und frühreifen Lebensweisheiten hinausgeht. Sie rebellieren gegen die Elternordnung und haben triftige Gründe für den nicht nur äußerlichen Protest.
Die siebzehnjährige und grundsätzlich in Schwarz gekleidete Alex ist so traurig wie aggressiv, und das ist auch kein Wunder, wächst sie doch ohne Mutter auf, die im Schlaf an einem Hirnschlag gestorben ist. Der Vater vermag den Frust der Tochter nicht zu erkennen, die emotionale Lücke nicht zu schließen.
Geborgenheit findet Alex bei ihren Freunden, doch auch diese Sicherungsseile der Seele sind brüchig, was auch an der Liebessucherin selbst liegt. Sie will das Leben, das vor ihr liegt und doch so unwirklich erscheint, mit allen Mitteln spüren, und sie ist bereit, auch Grenzen zu übertreten, die Freundschaft und Liebe zerstören können.
Karge Sprache und aberwitzige Dialoge
Der Ärger beginnt mit Johnny Spitzing, dem jungen Referendar, der die drei Freunde auch nach der Schule zu treffen beginnt und der, bedrängt und überfordert, was die professionelle Distanz angeht, bei den pubertären Spielchen mitmacht, in denen Grenzen des Mutes und der Scham getestet werden.
Der Ärger geht weiter, als Ratte sich in ein Mädchen außerhalb der Gruppe verliebt und Alex Gefühle für Johnny entwickelt. Der Ärger gerät schließlich außer Kontrolle, als eine Klassenfahrt nach Polen und ein Besuch auch in Auschwitz ansteht: Wo die Nazis millionenhaft gemordet haben und auch noch in Sichtweite eines Galgens, soll Alex ihren Freund Paul küssen. Sie liebt ihn nicht, weiß aber, dass Paul sich nach diesem Kuss sehnt.
Ein gehässiges Spiel, ein Verrat an der Freundschaft und vor allem ein Affront gegenüber dem Andenken der an diesem Ort Ermordeten. Dass Auschwitz kein Spielplatz ist, realisieren Alex und ihre Nicht-mehr-Freunde erst, als ein Foto vom Kuss in Auschwitz millionenfach in den sozialen Netzwerken geteilt wird.
Lena Gorelik treibt ihre Geschichte mit einer kargen Sprache und aberwitzigen Dialogen voran. Sie kann mit wenigen stilistischen Mitteln große Emotionen erzählen: Einsamkeit, Trauer, Eifersucht und Liebeskummer.
Wo die Grenzen sind
Sieht man von den zitierten Songs ab, die nicht zum Alter der Protagonisten passen und die wohl das Außergewöhnliche der Figuren herausstellen (aber welcher Teenager, mag er sich noch so sehr von den Mitschülern abheben wollen, hört Rolling Stones, Leonard Cohen, Johnny Cash und The Doors?), gelingt Gorelik ein Roman für, wie der Verlag formuliert, „jüngere wie für erwachsene Leser“. Das liegt vor allem daran, dass dieser zum Ende hin mit klugen Wendungen überraschende Coming-of-Age-Text nicht nur sprachlich überzeugt, sondern auch ein Thema anbietet, das sich altersunabhängig zu diskutieren lohnt.
„Mehr Schwarz als Lila“ stellt nämlich moralische Stilfragen. Gibt es Grenzen des jugendlichen Amüsements? Sind Einschränkungen der kulturindustriellen Freiheit nur reaktionärer Elternscheiß? Oder ist die Angemessenheit des Auftretens durchaus eine fortschrittliche Kategorie, wenn sie auf Rücksichtnahme und Empathie setzt?
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Lena Gorelik: „Mehr Schwarz als Lila“. Rowohlt Berlin, Berlin 2017. 256 Seiten, 19,95 Euro.
In liberal-kapitalistischen Demokratien gibt es, spätestens seit den gesellschaftlichen Umbrüchen in den 1970er Jahren, einen Hype um jene Selbstverwirklichung, die sich am Freiheitsgestus von Jugendkulturen orientiert. Was einst mit Repressionen belegt war, etwa die aufsässige Eroberung der eigenen Befindlichkeit, ist heutzutage eine durchaus regressive Maßgabe des Mainstreams.
Wer vermeintliche Subkultur-Szenen aber an die Grenzen der Selbstverwirklichung erinnert, welche die Freiheit einer Wertegemeinschaft erst ausmachen, bekommt es schon mal mit dem online verbreiteten Hass einer geschlossenen Community und ihrer berufsjugendlichen Claqueure zu tun. Insofern ist Lena Goreliks Roman „Mehr Schwarz als Lila“ ein Lehrstück nicht nur für junge Leser, sondern auch für Erwachsene, die aufgehört haben, über die Angemessenheit ihres eigenen Verhaltens zu reflektieren.
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