Knutschen in der Literatur: Ein Kuss? Eine Katastrophe!

Ob Wilde, ob Proust, ob Duras: Der literarische Kuss führt uns ohne Umwege in das Fegefeuer der Liebe. Denn jedem Anfang wohnt schon das Ende inne.

Ein sitzender Mann hält eine liegende Frau in seinen Armen, hinter ihnen düsterer Himmel

Immer Drama, immer gefährlich: Der Kuss in der Literatur Foto: Unsplash/ Cristian Newman

Die Quintessenz des literarischen Kusses findet sich in einem Satz, in einer Strophe, in einem Nicht-Kuss von Oscar Wilde. Er hat ihn irgendwann zwischen 1894 und 1898 in einem britischen Gefängnis formuliert. Wilde hatte Frau und Kinder, Kontakt zu männlichen Prostituierten, einen Liebhaber und wurde wegen homosexueller Praktiken zu zwei Jahren Zuchthaus mit schwerer körperlicher Zwangsarbeit verurteilt.

Im Gefängnis schrieb er einen Brief und eine Ballade über die philisterhaft-viktorianisch-britische Gesellschaft mit ihren verlogenen Moralvorstellungen. Jener Brief war zugleich auch eine Abrechnung mit seinem Liebhaber Lord Alfred Bruce Douglas, der ihn intrigant und verabscheuungswürdig verraten hatte. Er schrieb: „Du hast mich mürbe gemacht. Es war der Triumph der kleineren über die größere Natur. Es war ein Fall jener Tyrannei des Schwachen über den Starken.“

Doch Oscar Wilde wäre nicht Oscar Wilde, wenn er seine eigene Schuld am Niedergang der Liebe, wenn er seinen eigenen Narzissmus nicht mit reflektiert hätte. In der allerletzten Strophe seiner Ballade vom Zuchthaus zu Reading schreibt er: „Doch jeder mordet, was er liebt, sei jeder das belehrt, mit schmeichelndem Wort, mit bitterem Blick, nach jedes Art und Wert; Der Feige mordet mit einem Kuss, der Tapfere mit einem Schwert.“

Der Verrat, der frei macht

Weshalb mordet man, was man liebt? In jedem ersten Kuss, in der Schwellenüberschreitung, im Verschlingen des Partners, im Ineinander-Aufgehen mit dem Anderen, im Mythos der ewig romantischen Liebe ist der letzte Kuss des Überdrusses, Betruges, Hasses oder gar Tötens bereits enthalten. Es gibt, laut Wilde, kein Entkommen: Die Feigen morden, sobald die Liebe abgestumpft ist, mit blutleeren Küssen und die Tapferen mit einem Schwert, um im leidenschaftlichen Kuss mit einem Anderen doch noch eine Art von Erlösung in diesem jämmerlichen Dasein zu erhaschen.

Der literarische Kuss führt uns direkt ins Fegefeuer der Liebe. Milan Kundera schreibt in Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins: „Beide waren sie berauscht von einem Verrat, der sie frei machte. Franz ritt auf Sabina und verriet seine Frau. Sabina ritt auf Franz und verriet Franz.“

Proust schreibt in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit: „Ich liebte sie, ich bedauerte, dass ich weder Zeit noch Einfallsvermögen genug gehabt hatte, um sie zu beleidigen, ihr Böses zuzufügen, ihr die Erinnerung an mich aufzuzwingen. Ich fand sie schön, dass ich gern noch einmal umgekehrt wäre und ihr achselzuckend zugerufen hätte: ‚Ich finde Sie hässlich, grotesk, Sie widern mich an!‘“

Marcel Proust

„Ich fand sie schön, dass ich gern noch einmal umgekehrt wäre und ihr achselzuckend zugerufen hätte: 'Ich finde Sie hässlich, grotesk, Sie widern mich an!“

Und Marguerite Duras schreibt in Im Sommer abends um halb elf: „Allein an seiner Stimme hätte sie es erraten können, seiner zitternden, veränderten Stimme, die ihrerseits vom Verlangen nach dieser Frau erfüllt war.“

Höchste und niederträchtigste Wirklichkeit zugleich

Der literarische Kuss ist ein Betrug, eine Katastrophe, ein zentraler Wendepunkt, ist ein erotisches und dramatisches Ereignis. Flauberts Madame Bovary sehnt sich nach dem lebenseröffnenden Kuss eines Fremden und begeht schließlich Suizid. Fontanes Effi Briest beginnt eine flüchtige Liebschaft mit einem Offizier, der später von ihrem Ehemann ermordet wird. Der literarische Kuss ist gefährlich, geheimnisumwittert, offenbart gesellschaftliche Konventionen, ist die höchste und niederträchtigste Wirklichkeit zugleich. Nabokovs Humbert Humbert will den unschuldigen und reinen Kuss Lolitas auf seinen Lippen verspüren, und Martha und George führen in Edward Albees Wer hat Angst vor Virginia Woolf? einen bösartigen, qualvollen Ehekrieg.

Der literarische Kuss ist eine Amour fou, ist perfide, heilend, ist der Anfang der Tragödie, ist dreckig, leidenschaftlich, liebevoll, zornig, anmutig, diabolisch, verrückt, obsessiv und mörderisch. Mit den Worten Oscar Wildes im Original: „Yet each man kills the thing he loves, By each let this be heard, Some do it with a bitter look, Some with a flattering word, The coward does it with a kiss, The brave man with a sword!“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.